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Brauchen Gesellschaften ein Arkanum?

Im stillen Winkel

Sabine Doering-Manteuffel15.02.2011

In den westlichen Gesellschaften der späten Moderne wird das Private öffentlich. Kaum ein Bereich des alltäglichen Lebens bleibt davon unberührt. Familiendramen am Küchentisch, Eheprobleme aus dem Schlafzimmer nebenan – nichts bleibt dem wachsamen Auge der Mediengesellschaft verborgen.

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erhoben sich mahnende Stimmen wie die des Dichters Adolf von Winterfeld, der 1865 in seinem Roman „Der stille Winkel“ kritisch vermerkte: „Je weiter die Zeit vorrückt in ihrem rasenden Lauf, desto geringer wird die Zahl der stillen Winkel werden, bis sie völlig verschwindet und man zuletzt von ihnen erzählt wie von einem verklungenen Märchen.“ Eisenbahnen und Telegraphendrähte – die Beschleunigungsimperative jener Tage schlechthin, hätten sich „erkältend um die Oberfläche der Erde gelegt“ und den Menschen seiner beschaulichen Idyllen und arkanischen Orte beraubt. Die Entzauberung der Welt, die Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der materialistischen Denkart der Epoche erkannte, war nicht aufzuhalten. Die Intellektualisierung, Rationalisierung und Technisierung, so schrieb er 1917, sorge dafür, dass es „prinzipiell keine unberechenbaren, geheimnisvollen Mächte gebe“. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, der seit der Hochindustrialisierung die letzten Anmutungen einer beschaulichen Lebenswelt vernichtet hatte, starben die Menschen unter dem Zeichen des Fortschritts gleich Millionenweise.

Als die aus dem Zauberrauch eines versunkenen Zeitalters stammenden Geheimnisse der Magie verschwanden, die man mit dem Hexenwerk zahnloser alter Weiber gleichsetzte, verschwanden aber auch die Mythen einer Anderwelt, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben mussten. Die Nationalsozialisten mit ihren abstrusen und gefährlichen Phantasien eines Tausendjährigen Reiches und eines germanozentrischen Rassenwahns trugen viel dazu bei, jeglicher Form okkulten Denkens den Garaus zu machen. Nie wieder sollte eine mythologistische Geschichtsvergessenheit gegen die rationale Erkenntnis der historischen Wirklichkeit ausgespielt werden. Was dabei aber auch verloren ging, war das Gefühl, dass Gesellschaften ein gewisses Maß an Arkana durchaus brauchen. Das sind Bilder und Zeichen der Hoffnung, der Erlösung, des Bewusstseins einer ideal besseren Welt, nach der es zu streben gilt – nicht nur im christlichen Sinne, sondern auch in ganz profanen Werten und Normen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen.

Heilige Räume

Was ist ein Arkanum? Im Volksglauben des 19. Jahrhunderts finden sich viele Beispiele für das Kultische im Raum, das Dämonische in der Sage, das Heilige in der Legende, oder das Mysterium des Todes. Die slowenischen Bauern im Bavšica-Tal bemalten ihre Bienenhäuser mit Heiligendarstellungen, die sie von Jahrmarktsdrucken kannten, mit dem Motiv der Altweibermühle oder mit dem tränenden Herz. Jeder, der sie betrachtete, fühlte sich als Teil eines Andachtsraums, hielt unvermittelt inne, gedachte der Dinge, die ihm widerfahren waren. So wirkten auch die Andachtskreuze in der Feldflur, die wir heute eher von den vielbefahrenen Landstraßen kennen, oder die Totenbretter in der Oberpfalz, einst Sargdeckel, vom Dorfschreiner gefertigt, aufgestellt am Hof und auf dem Acker. Sie dienten dem Gedenken an diejenigen, die nun in einem anderen Reich zuhause waren. Dort kamen die Armen Seelen der Verstorbenen an jedem Allerseelentag zurück an den Tisch der Bauern, weil das Fegefeuer, so glaubte man, „ausgeweißt“ wurde. Vor ihren leeren Plätzen stand eine Semmelmilch als Seelenmahl, eine Labsal gegen die Pein, die sie erleiden mussten. Das Heilige verschmolz mit dem Profanen im Alltag, der seine stillen Stunden am Rand des Getriebes kannte.

Der Teufel, das Böse schlechthin, durchstreifte nach Meinung der Menschen einer vormodernen Zeit die Welt, immer und überall lauernd auf der Suche nach anfechtbaren Seelen. Und schneller als der Wind, älter als die Zeit, der er war, führte er jeden in Versuchung, der sich nicht seines inneren Glaubenskerns und Seelenfriedens durch andauernde Bet- und Bußpraxis versicherte. Beim Trunk und beim Kartenspiel, bei Tanz und Belustigungen und auch beim Ehebruch war er allgegenwärtig. Er erschien dann in einer seiner Verwandlungsgestalten als schwarze Katze, als Kartenspieler, als Tänzer, als Galant im Allmodo-Rock. Nur wer ihn genau kannte, konnte sich vor seinen Anfechtungen retten. Und so tritt er uns entgegen im Bilderwerk des Barock, ein Mythos, eine Phantasiegestalt. Die Mächtigste, die das Abendland je gekannt hat.

Heute ist das alles Vergangenheit. Es gibt keinen Teufel, keine Anfechtungen, keine Andacht, noch nicht einmal mehr die „Andacht zum Unbedeutenden“, wie sie Jacob Grimm in seinem Deutschen Wörterbuch als Methode zur Erkenntnis von Sprache und Literatur der Deutschen erhoben hat. Gerade im Kleinen, in den scheinbar unbedeutenden Nuancen, in den feinsinnigen Wortschöpfungen, läge das Mysterium einer Nation begründet. Das war auch die Suche nach dem Arkanum in der Kultur. Und doch hat das Paradox, das in der Aufklärungstheorie begründet ist, nämlich alles auf den Prüfstein der Erkenntnis zu stellen, mehr Mythen produziert, als ihren Verfechtern bewusst war. Sie wurden durch die Schriftlichkeit als dem wirkungsvollsten Medium jener Epoche, zum Teil eines kollektiven Gedächtnisses, das sich nicht mehr löschen lässt.

Wenden wir uns ab von diesen historischen Betrachtungen, die aber verdeutlichen, was im Untergrund an okkulten Weltsichten abgelegt ist. Zwei Jahrhunderte Rationalität und Technikbegeisterung sind über die westliche Welt hinweggerast, und haben uns jenen Lebensstandard und jene aufgeklärte Weltanschauung zugetragen, von denen wir alle profitieren. Doch um die Mitte der 1960er Jahre formierten sich nicht nur an der Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika Gegenbewegungen, die eine neue Mystik von Heil und Erlösung im anbrechenden Zeitalter des Wassermanns, im „Age of Aquarius“, suchten. Es war eine denkwürdige Klientel, die sich dort versammelte, denn neben denjenigen, die später in der Heilerszene und den aus Indien und Fernost stammenden Heilslehren aufgingen, fanden sich auch frühe Software-Entwickler ein, die von einer egalitären Informationsgesellschaft träumten, einer Okkultphilosophie der digitalen Welt, die in den Effekten global kursierender, freier Informationen einen neuen, erstrebenswerten Mystizismus erkannten. Die Verbindung beider Zirkel war einer der Grundsteine für unser gegenwärtiges Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit, vom Blick des einen auf das intime Leben des anderen.

Neue Mystik

Andacht und Vertrautheit, stille Winkel, Reisen ins Innere – das sind zwar nicht gerade die Zauberworte unserer Zeit, denkt man an die Finanzmarktkrise, Arbeitslosigkeit oder die alternde Gesellschaft. Aber mehr und mehr Menschen suchen sie auf, entwickeln ein Bedürfnis nach Intimität jenseits aller Schaulust, die zum erkenntnistheoretischen Beiwerk der Informationsgesellschaft gehört und selbst unsere Seelenhäute gläsern erscheinen lässt.

Wer sein Innerstes nach außen kehrt, braucht ein vertrautes Umfeld, braucht Seriosität und Sicherheit, die in den Institutionen aufgeklärter Gesellschaften durchaus angelegt sind. Der Basso Continuo unseres Selbstverständnisses und der Verortung des Ichs ist auf dauernde Verfügbarkeit in sozialen Netzwerken und dem Fluss der ununterbrochenen Kommunikation ausgerichtet. Woher sollen die geschlossenen, okkulten, heiligen Räume und Orte der Andacht und des Innehaltens kommen? Sie liegen in den neuen Schlüsselbegriffen, die sich derzeit an der medialen Oberfläche ausbreiten, in Transparenz und Nachhaltigkeit, in einem neuen Naturbegriff und einer neuen Kosmologie. Wenn der Mensch alles kann, kann er letztlich gar nichts. Lohnt es sich da nicht, neue Brücken zu schlagen vom Ich zum Du und die Intensio mit der Ratio zu versöhnen, indem die Verschwiegenheit des Beichtgeheimnisses, die Hoffnung als Prinzip der Medizin, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient zur Richtschnur zwischenmenschlicher Bindungen wird? Gesellschaften brauchen ein Arkanum, das sie im Innersten ihres Bekenntnisses zur Freiheit und auf der Suche nach Lebensglück zusammenhält.

Sabine Doering-Manteuffel
Professor Dr. Sabine Doering-Manteuffel ist Ethnologin und seit 2011 Präsidentin der Universität Augsburg.  Sie veröffentlichte u. a. das Buch "Okkultismus. Geheimlehren, Geisterglaube, magische Praktiken", (Beck, 2011). www.philhist.uni-augsburg.de