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Titelthema

Musische Brücken

Mit Politik kann man keine Kultur machen, aber vielleicht mit Kultur Politik?

Tatjana Firsowa 01.05.2018

Russland besteht nicht nur aus dem Kreml mit seinen Staatsdienern und dem Roten Platz. Wir sind durch unsere großartige Literatur und hervorstehende Künstler bekannt, die ganze Welt kennt Dostojewski und Tschechow sowie Walerij Gergijew und Anna Netrebko!“ – So oder ähnlich argumentieren wir Russen oft dann, wenn in unserem gesellschaftlichen Leben etwas schiefgeht, für das wir gegenüber Außenstehenden keine Argumente mehr finden; oder, wenn wir bestimmte Realitäten einfach nicht anerkennen wollen. Mit Worten wie diesen endet fast jede Auseinandersetzung mit kritischen Freunden und Bekannten.
Es fällt ziemlich schwer, in einem Land wie Russland die Kultur getrennt von der Politik zu betrachten. Doch wahrscheinlich gibt es gar kein Land auf der Welt, wo sich Kultur und öffentliches Leben unabhängig von der politischen Lage entwickeln. „Mit Politik kann man keine Kultur machen; vielleicht kann man mit Kultur Politik machen“, sagte schon 1951 Bundespräsident Theodor Heuss in seiner Rede „Kräfte und Grenzen einer Kulturpolitik“. Heuss’ These scheint in der Gegenwart so wertvoll wie lange nicht mehr. Denn trotz der weltpolitischen Entwicklungen und Spannungen zwischen Russland und Europa setzen die kulturellen Institutionen in Russland, Deutschland und Österreich ihre Zusammenarbeit unbeirrt fort. Russische oder russischsprachige Künstler sind vielfach international anerkannt – und somit wichtige Botschafter und Brückenbauer; sogar dann, wenn ihre Werke in ihrer Heimat nicht immer unbedingt gut ankommen.

Die Ambivalenz der Kultur
Das lässt sich relativ einfach erklären. In Krisenzeiten können die Russen nur selten (sowohl mit anderen als auch untereinander) distanziert über Politik sprechen, weil sie sehr häufig die Kritik am System nicht auf das Ganze, sondern auf sich persönlich beziehen. Oft empfinden zum Beispiel Bürger die in einem privaten Gespräch geäußerte Kritik an der Regierung oder am Präsidenten als Kritik an sich selbst und fangen sofort an, diese zu verteidigen. Im Russischen gibt es den Ausdruck „Das Boot wackeln lassen“. Wenn zum Beispiel jemand die lange Amtszeit des Präsidenten Putin kritisiert, sagt man: Erstens gibt es keine Alternative, und zweitens lassen die Kritiker des Systems mit ihren Aussagen „das Boot wackeln“. Und das will natürlich niemand, weshalb alles so bleiben soll, wie es ist.
So ist es zum Beispiel der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ergangen, die ihre Bücher auf Russisch schreibt. Für ihr Buch „Zinkjungen“ (1992) hatte sie seinerzeit Veteranen aus dem sowjetischen Afghanistankrieg und Mütter von gefallenen Soldaten interviewt. Dafür musste sie sich schon in den 90er Jahren mehrmals in Minsk vor Gericht verantworten. Als sie für das Buch 2015 den Literaturnobelpreis bekam, wurde sie sofort nach der Verkündung in russischen Medien für ihre kritischen Aussagen über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation Russlands mit Vorwürfen überhäuft.
Scharf kritisiert wurde in Russland auch der Regisseur Andrej Swjaginzew für seinen Film „Leviathan“ (2014), in dem er die tragische Geschichte einer Kleinfamilie erzählt und damit die großen Mängel der Kommunalpolitik Russlands zeigt. Andererseits ging der Film jedoch als russischer Beitrag in Cannes ins Rennen um die Goldene Palme (und wurde dort für das beste Drehbuch geehrt) und repräsentierte im Jahr darauf Russland offiziell bei den Academy Awards in Hollywood.

Die Folgen der inneren Spaltung
Die Spaltung der russischen Öffentlichkeit spiegelt sich auch im kulturellen Leben unseres Landes wider. Die aggressive Rhetorik russischer Staatsvertreter in der Krim-Krise oder zuletzt in der Affäre um den Ex-Spion Sergej Skripal hat dazu geführt, dass die Polarisierung sich weiter verstärkt hat – und die reflektiert denkende Minderheit noch unzufriedener ist. Aus diesem Grunde verlassen immer wieder kritisch denkende Russen ihre Heimat. Dazu gehören zum Beispiel die Kolumnistin der Zeitung Nowaja Gaseta Julia Latynina, oder der in Russland bekannte Schriftsteller Boris Akunin, einer der erfolgreichsten modernen russischen Autoren, der zur Zeit in London lebt. Seine Bücher wurden bereits in mehreren Sprachen übersetzt, weltweit wurden Millionen davon verkauft.
Einer der schon zu Sowjetzeiten (1978) das Land verlassen musste, war der berühmte Schriftsteller und Journalist Sergej Dowlatow (1941–1990). Seine Manuskripte wurden von den offiziellen Verlagen regelmäßig abgelehnt. Alexej German Jr. porträtiert nun in seinem neuen Film „Dovlatov“ den Schriftsteller, dessen ironische Texte in der Sowjetunion der Breschnew-Zeit nicht gedruckt werden durften, und seine Zeit. Elena Okopnaja wurde bei der diesjährigen Berlinale im Februar 2018 für Kostüm und Production Design des Films mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.
Einer, der immer in Russland geblieben ist, ist der Moskauer Viktor Jerofejew. Sein Weg als Schriftsteller begann in der Sowjetunion mit einem Skandal: 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wegen seines Samisdat-Almanachs „Metropol“, der von der Zensur verbotene Texte beinhaltete. Bis heute schreibt Jerofejew in seinen Werken kritisch über die Zustände in Russland. Auch in Deutschland ist der Schriftsteller gut bekannt, vor allem durch seine Romane „Die Moskauer Schönheit“ und „Die Akimuden“. 2004 verarbeitete er die Erfahrungen aus seiner Kindheit, die er als Sohn von Stalins persönlichem Übersetzer und Botschaftsrat in Paris verbracht hat, in dem Roman „Der gute Stalin“.
Zu den in Deutschland bekannten russischen Künstlern gehört auch der Theaterregisseur und Intendant des Gogol Centers Moskau Kirill Serebrennikow. Mehrmals in Deutschland wurde er für seine Aufführungen gefeiert. Das Deutsche Theater in Berlin nennt das Gogol Center eine der innovativsten Bühnen Russlands und hat mit dem Moskauer Haus sogar eine Partnerschaft entwickelt. Doch als Serebrennikow 2013 das Leben Peter Tschaikowskis verfilmen wollte, fiel er in Ungnade. Denn der Regisseur wollte auch die Homosexualität des Komponisten zeigen – und wurde deshalb von Kulturminister Wladimir Medinski öffentlich aufgefordert, dies zu lassen. Da sich sowohl staatliche als auch private Förderfonds nicht an diesem „skandalösen Film“ beteiligen wollten, kam das Projekt nicht zustande. Serebrennikow steht seit August letzten Jahres in Moskau unter Hausarrest, ihm wurde vorgeworfen, staatliche Gelder unterschlagen zu haben. Als Ende März das Gogol Center wieder einmal in Berlin gastierte – mit zwei Regiearbeiten von Serebrennikow – war der Regisseur nicht dabei.

Russische Weltstars
Ein großes, aber auch ein heikles Thema ist für die Russen bis heute die Weltoffenheit. Sie schwanken zwischen dem Wunsch, in der Welt zu gelten und der Sorge, dass die Welt da draußen zu viel negativen Einfluss auf das eigene Land haben könnte. Wahrscheinlich ist das historisch geprägt – schon in der Stalinzeit gab es das Schimpfwort „Wurzelloser Kosmopolit“, mit dem all jene verunglimpft wurden, die auch außerhalb der Grenzen der Sowjetunion Verbindungen hatten.
Gleichwohl haben es einige wenige russische Künstler in den letzten Jahren geschafft, echte Weltstars zu werden. Die Musiker Walerij Gergijew und Anna Netrebko gehören dazu, zwei große nationale und internationale Erfolgsgeschichten. Im Jahre 2013 hat der Meisterdirigent aus Sankt Petersburg Gergijew einen ersten Vertrag in München bekommen, seit 2015 ist er Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Als russischer Dirigent nimmt er fast immer die Werke der Komponisten seiner Heimat ins Repertoire des Orchesters auf – er kombiniert zum Beispiel in seinen Aufführungen oft die Dritte Symphonie von Galina Ustwolskaja mit Dmitri Schostakowitschs Vierter – und vermittelt so auf spielerische Weise zwischen Ost und West.
Gergijew ist nicht der einzige namhafte Russe in München. Mit Kirill Petrenko als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper (seit 2013/14) wird ein weiteres großes Orchester der bayerischen Landeshauptstadt von einem Russen geleitet. Petrenko wird freilich nicht mehr lange an der Isar bleiben. Von 2019 an tritt er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker die Nachfolge von Simon Rattle an.
Kaum noch einer besonderen Erwähnung bedarf die Sopranistin Anna Netrebko, die seit Jahren ein ständiger Gast in den großen Konzertsälen der Welt ist: In diesem Jahr gastiert sie u.a. in der Metropolitan Opera in New York, in der Royal Albert Hall in London, im Schloss Schönbrunn in Wien, in Baden-Baden und in Berlin. Und in Wien tritt sie gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern und Walerij Gergijew als Dirigenten auf. Inzwischen mehr in Deutschland als in Russland bekannt ist die junge Sopranistin Julija Leschnewa. Sie wurde 2013 mit dem ECHO Klassik als Nachwuchskünstlerin ausgezeichnet, ihren Auftritt auf der Bühne des Luzerner Oster-Festivals 2018 bezeichnete die Neue Zürcher Zeitung als  eine Sensation.
Doch auch die Szene der modernen russischen Musik ist bunt, wenngleich noch nicht so prominent wie die Klassik. Eine der bemerkenswerten Moskauer jungen Musikbands heißt GSH (sprich: GSch). Ihre Texte sind ziemlich absurd, sie improvisieren sehr viel, man könnte ihren Stil als Indie oder No Wave bezeichnen. Ein weiteres interessantes Projekt heißt „RTI“ (deutsch „die Münder“); eine Gemeinschaft prominenter Moskauer Künstler, die vor allem Improvisationsmusik machen und damit durchaus repräsentativ sind für die aktuelle Musik-
szene in der russischen Hauptstadt. Dazu gehört, dass ein Musiker üblicherweise nicht bei einer, sondern bei mehreren unterschiedlichen Bands tätig ist. Die russische moderne Popmusik ist nicht einfach zu exportieren; aber es gibt Musiker, die das schaffen. Die Formation „Goat‘s Notes“ zum Beispiel wurde 2018 mit dem amerikanischen Independent Music Award ausgezeichnet.
Diese wenigen Beispiele belegen zweierlei: Zum einen zeigen sie, dass das russische Kulturleben durchaus vielfältiger und attraktiver ist als es vielen im Westen bewusst ist. Zum anderen erinnert die grenzenübergreifende Wirkung von Künstlern wie Netrebko, Gergijew, Sebrennikow oder Akunin an die alte Frage von Theodor Heuss, ob man mit Kultur nicht doch Politik machen kann. Im Sinne der Verständigung zwischen Russland und dem Westen kann es wohl kaum genug Austausch zwischen Dirigenten, Sängern und Schriftstellern geben.