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Buch der Woche

Neudeck: »Es gibt ein Leben nach Assad«

Rupert Neudeck leistet mit seinen "Grünhelmen" seit Sommer 2012 im Norden Syriens humanitäre Hilfe. Seit dieser Zeit hat er ein Tagebuch geführt, das ins Innere des syrischen Bürgerkriegs führt.

18.10.2013

Erkundungsreise ins Grenzgebiet

Güveçci Köyü, 14. Juli 2012

Es ist uralt biblisches Gebiet, in das wir uns aufmachen, das Gebiet des kleinen Fingers, der als türkisches Territorium in das Staatsgebiet von Syrien hineinragt: Hatay, Antakya. Das ist das Antiochien, das in den Briefen des Apostels Paulus eine so große Rolle spielt und in der Apostelgeschichte. Ich nehme Hidir mit, einen Deutsch-Kurden, der für die Grünhelme in Ruanda gearbeitet hat. Hidir Simsek, der für uns beide ein Quartier besorgt und, wenn möglich, auch über die Grenze nach Syrien mit mir gehen will. Wir haben kurz vorher den großen Artikel von Wolfgang Bauer gelesen: «Es gibt ein Leben nach Assad», der am 12. Juli in der ZEIT erschienen ist. Er hat geschrieben, dass die Revolution in Azaz schon fast gesiegt hat. Wir wollen sehen, ob wir vielleicht dorthin gelangen können.

Gestern Abend sind wir losgeflogen nach Hatay und dort nach Mitternacht angekommen, Hidir hat für mich gedolmetscht, wir haben ein Taxi genommen und für eine Nacht in einem kleinen Hotel eingecheckt. Dann haben wir uns erst einmal dem Schlaf der Gerechten hingegeben. Heute gehen wir herunter zum Frühstück und haben die üblichen Gewürze des Nahen Ostens schon am frühen Morgen in der Nase. Danach machen wir uns auf, erst einmal in Richtung Süden nach Güveçci Köyü, an die türkisch-syrische Grenze. Das Dorf liegt im südlichsten Zipfel der Türkei, in gerader Linie westlich der syrischen Provinzhauptstadt Idlib. Auf syrischer Seite befindet sich ein Gebiet, das, wie das Umland von Azaz, weitgehend in der Hand der syrischen Rebellen sein soll. Wir wollen herausfinden, ob es schon einen Weg hinüber gibt und ob es jenseits der Grenze einigermaßen sicher ist.

In Güveçci Köyü fällt uns sofort auf, wie freundlich und hilfsbereit die türkische Bevölkerung mit den syrischen Flüchtlingen umgeht. In den großen Städten Antiochiens gibt es viele Aleviten, die es nicht selten mit Baschar al-Assad halten. Aber hier in den Dörfern im Süden leben vor allem sunnitische Stämme, die den 12 Schutz suchenden Syrern sehr gewogen sind. Sie kommen in großer Zahl aus den grenznahen Gebieten, aber auch von weiter her. Offenbar wird die Grenze von syrischer Seite nur noch lückenhaft überwacht. In Göveçci Köyü sind bereits 150 Syrer untergekommen. Eine Familie allein hat in ihrem Haus drei Frauen mit sieben Kindern aufgenommen, zu denen es keine Verwandtschaftsbande gibt. Die Männer sind meist im Feld geblieben. Sie schicken ihre Familien in die Türkei, um sie in Sicherheit zu bringen. Wir sitzen nur drei Stunden beim Bürgermeister des Dorfes, einem tatkräftigen Vertreter seiner Gemeinde. In dieser Zeit kommen wieder zwei syrische Familien an. Ich vermute, dass die offizielle Zahl der von der türkischen Regierung aufgenommenen registrierten Flüchtlinge eher verdoppelt werden muss. In der letzten Woche wurde die Zahl von 38 914 Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet genannt.

Die Stimmung hier ist positiv diesen Syrern gegenüber. Die Wut der Menschen auf der türkischen Seite der Grenze richtet sich auf Russland, China und den Iran, die weiterhin das alte abgehalfterte Regime von Baschar al-Assad unterstützen. Ansonsten wäre dieses schon gefallen, meinen sie. Sie halten auch den ehemaligen UN- Generalsekretär Kofi Annan, der als UN-Sondergesandter für Syrien amtiert, für einen Verräter an der Sache der syrischen Brüder und Schwestern. Man muss ihn in ihrem Beisein in Schutz nehmen, denn er bemüht sich, hat aber kaum Macht.

Erschreckend ist die Angststarre der geflohenen Syrer, die sich auch in der Türkei noch von Assads Geheimdiensten verfolgt wähnen. Einer will nicht einmal zur Behandlung seines zerschossenen Beines nach Antakya, weil er gehört hat, dass dort Geheimdienstagenten eine menschenwürdige Behandlung verhindern. Mindestens 15 Geheimdienste mit insgesamt 250 000 Mitarbeitern haben Vater Hafiz und Sohn Baschar aufgebaut. Angst legt sich über alles, was die Menschen sagen und erklären wollen.

Güveçci Köyü, 15. Juli 2012

Der Bürgermeister von Guveçci Köyü findet unsere Idee hervorragend, in den befreiten Gebieten jetzt schon etwas mit Ärzten und Handwerkern von den Grünhelmen vorzubereiten. Dann käme 13 man aus dem unendlichen Gerede der Politik heraus. Er bot uns ein Depot und ein Quartier an, wenn wir hier schon anfangen wollten zu arbeiten, bevor die Grenze aufgeht.

Heute Vormittag trafen im Dorf Vertreter der türkischen Organisation IHH (International Humanitarian Help) ein, die eine gro ße Ladung überlebensnotwendiger Hilfsgüter verteilen. Der Bürgermeister selbst führt die Liste, wer was bekommen soll. Die IHH hat ihn zu ihrem Vertreter ernannt. Gleichzeitig taucht eine geheimnisvolle hohe Delegation von Scheichs aus Kuwait in einem klimatisierten schwarzen Wagen auf und wird vom Bürgermeister in die Topographie und Geopolitik des Krieges hinter der nur wenige Steinwürfe weit entfernten Grenze eingeführt.

Heute Nachmittag haben Hidir und ich uns im Grenzgebiet umgesehen. Von Güveçci Köyü aus führt ein Pfad bis nach Syrien hinein. Wir wollen erkunden, ob man illegal über die Grenze gelangen kann und wie die Sicherheitslage ist. Offiziell ist der Übertritt für humanitäre Hilfsorganisationen von türkischer Seite nicht gestattet. Aber das Grenzgebiet bei Güveçci Köyü ist bergig und einsam, so dass wir von den türkischen Polizisten wenig zu befürchten haben. Als wir den letzten Berg hochsteigen und auf der Grenze sind, sehen wir eine befreite Ortschaft. Es gibt unterhalb des Berges ein Rebellencamp, das wir aber nicht besuchen wollen, weil wir als Humanitäre nicht zur Versorgung mit Waffen beitragen können und auch nicht wollen. Sicher ist, dass die Grenze nicht mehr ganz von den syrischen Regierungstruppen beherrscht wird. Sonst hätten wir nicht so problemlos zu ihr vordringen können. Auch gibt es befreite Zonen. Aber was wir von den Menschen hören, die uns begegnen, legt nahe, dass die Lage in diesem Gebiet noch instabil ist. Wir gehen daher nicht nach Syrien hinein. Die syrischen Regierungstruppen kämpfen um ihr Leben, weil sie nicht sicher sein können, ob eine Desertion jetzt noch akzeptiert wird von der Bevölkerung. Zudem gibt es weiter Terror aus der Luft. In der letzten Nacht haben wir Schusswechsel von jenseits der Grenze gehört und die Explosionen von Bombenangriffen der syrischen Luftwaffe. Assad hat noch nicht aufgegeben.

Antakya, 17. Juli 2012

Der Held meiner Erlebnisse an der türkisch-syrischen Grenze ist ein Arzt: Dr. Hassan Naggar. Er ist Jahrgang 1935, aber das sieht man ihm nicht an. Er hat in Antakya, wo wir seit gestern sind, eine Klinik eröffnet, die ganz aus eigenen Mitteln bestückt wurde, mit kleiner Chirurgie und Notfallmedizin. Dr. Hassan hat die Tür offen für alle syrischen Kriegsverletzten. Er ist ein Syrer, der hervorragend Deutsch spricht, so gut, dass man zwischendurch badische und niedersächsische Elemente erkennt. 30 Jahre hat er in Deutschland gearbeitet. Und ist heute noch kein bisschen müde oder im Ruhestand. Er hat bestimmt schon 300 syrische Kriegsopfer behandelt. Einen jungen verletzten Syrer traf ich an der Grenze bei Güveçci Köyü, der begeistert von diesem Dr. Hassan erzählte, und dass er seine Wunde versorgt hätte. Er widmet sich voll und ganz den «syrischen Revolutionären», wie er in seiner jung-alten Sprache begeistert sagt. Er setzt darauf, dass in Syrien eine neue Zeit ohne Baschar al-Assad beginnt.

Die türkische Gesellschaft und die türkische Regierung leisten Hervorragendes bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge. Die Bereitwilligkeit, mit der die Bevölkerung hilft, kann man nur bewundern. Sie leistet aus eigenem Antrieb vielleicht sogar mehr, als ihre Regierung eigentlich will. Zumindest ist diese eifrig bemüht, die türkische und internationale Öffentlichkeit von den 15 Flüchtlingen fernzuhalten. Wir hatten bereits vor Beginn unserer Reise beim türkischen Botschafter in Berlin und über die deutsche Botschaft in Ankara um Erlaubnis gebeten, die Flüchtlingslager besuchen zu dürfen – vergeblich. Nur ab und an erhalten ausgewählte Journalisten eine solche Genehmigung. Nun hatten wir gestern in dem Ort Yayladagi vor der Abfahrt unseres Busses nach Antakya noch Zeit und deshalb wollten wir versuchen, uns ein in der Nähe gelegenes Lager wenigstens von außen anzusehen.

Hidir fragte einen türkischen Polizisten nach dem Weg und erhielt die Auskunft, es seien gerade einmal 600 Meter. Wir hatten allerdings erst 300 davon zurückgelegt, als schon ein Wagen scharf neben uns bremste und drei Polizisten heraussprangen. Sie hielten uns an und fragten nach unseren Pässen. Hidir erstarrte zur Salzsäure, musste aber weiter für mich übersetzen. Ich fragte betont harmlos, was denn sei. Wir wären Touristen und gingen spazieren. Ob das verboten wäre? Doch die Beamten nahmen ungerührt unsere Personalien auf. Da griff ich zu meinem alten Trick und begann, eifrig alles in ein kleines Buch zu schreiben, was mir so auffiel, auch die Nummer des Polizeiwagens. Dies beunruhigte die Vertreter der Staatsmacht so sehr, dass sie gleich mein Notizbuch konfiszieren wollten. Ich musste mit der deutschen Botschaft drohen, um das zu verhindern. An das Lager kamen wir dennoch nicht näher heran. Als einer der drei, offenbar der Vorgesetzte, mir bedeutete, alles diene nur unserer eigenen Sicherheit, bedankte ich mich höflich und wir gingen zurück zu unserem Bus nach Antakya. Hidir war bass erstaunt, welchen Ton ich angeschlagen hätte. Einem türkischen Polizisten gehorcht und folgt man, aber man gibt keine Widerworte.

Warum die türkischen Behörden so darum bemüht sind, die Lager abzuschotten, erschließt sich mir nicht. Vielleicht hat es et was mit dem Kurdenproblem zu tun. Seit die Revolution ausgebrochen ist, hat in den syrischen Kurdengebieten die PYD , die Partei der Demokratischen Union, an Einfluss gewonnen, die für die staatliche Einheit aller Kurden eintritt. Sie ist ein Ableger der PKK und wird deswegen in Ankara misstrauisch beäugt. Seit Assad seine Truppen aus dem Norden und Osten des Landes zurückzieht, um sein Kerngebiet zu sichern, sollen weite Teile der Kurdengebie – 16 te in der Hand der PYD sein – mit Billigung aus Damaskus, wie es heißt.

Waffen allerdings kommen jetzt wohl über die türkische Grenze nach Syrien, alte libysche Bestände, wie uns erzählt wird, es gibt aber keine Bilder und wir finden auch keine Augenzeugen. Die türkische Seite sollte von der deutschen Regierung gebeten werden, die Grenze nicht nur für Waffen, sondern auch für humanitäre Helfer, Ärzte, Aufbauhelfer zu öffnen. Das würde den Pro - zess der Erosion des Regimes beschleunigen, es würde Flüchtlingen die Rückkehr ermöglichen und den Menschen in den befreiten Zonen die Möglichkeit geben, wieder ein einigermaßen ruhiges Leben zu führen. Wir haben mit vielen hier über den Aufbau eines solchen deutschen humanitären Versorgungspunktes für maximal zwölf Monate gesprochen. Wir bekommen viel Zustimmung. Aber die Türkei spielt die Schlüsselrolle, um diese Form von Grenzen überschreitender Hilfe zu ermöglichen. Solange es dazu nicht kommt, wollen wir als Grünhelme versuchen, illegal Hilfe zu leisten. Die Region um Idlib, die wir von Güveçci Köyü aus hätten erreichen können, erscheint uns dafür allerdings noch zu unsicher. Wie wir hören, ist das Rebellendorf an der Grenze, das wir bei unserem Ausflug gesehen haben, von den Truppen Assads nach einem schweren Bombenangriff wieder zurückerobert worden. Wir wollen daher morgen unser Glück weiter im Nordosten versuchen und sehen, ob wir über die Grenze nach Azaz kommen.

Hatay, 18. Juli 2012

Nun werden wir zurückfliegen müssen, ohne einen Fuß in das befreite Syrien gesetzt zu haben. Nach Azaz muss man von Kilis, das auf der türkischen Seite liegt, geschmuggelt werden, da die Grenze für humanitäre Organisationen und westliche Beobachter noch nicht offen ist. Wolfgang Bauer hatte uns erzählt, wie er hinüber gelangt war, und uns seine Kontaktpersonen genannt. Wir waren daher guter Dinge, dass es uns ebenfalls gelingen würde. Es war auch alles vereinbart und wir hatten einen guten Preis ausgehandelt. Aber dann wollten unsere Kumpane auf türkischer Seite nicht mehr so recht. Wir sind noch nicht einmal in die Nähe der Grenze gekommen, da unsere Mittelsmänner alles unvermittelt abbliesen. Es seien am Morgen plötzlich Polizisten aufgetaucht, die einen Grenzübertritt unmöglich machten, lautete die etwas merkwürdige Begründung. Am Nachmittag könne man es eventuell versuchen. «Dann schlafen die Polizisten.» Das erschien uns dann aber doch zu windig und wenig Vertrauen erweckend, so dass wir nun unsererseits absagten. Wir vermuten, dass unsere Geschäftspartner für den ursprünglich vereinbarten Termin schlicht ein lukrativeres Angebot erhalten haben und deshalb jemand anderen hinüberbringen wollten.

Wie wir hörten, blüht im syrisch-türkischen Grenzgebiet inzwischen das Flüchtlingsschlepper- und Schleusergeschäft. Clevere Autobesitzer können viel Geld verdienen: Der Krieg ernährt den Krieg. Würde die Grenze geöffnet, wäre ihnen allen das Geschäft entzogen. Aber ganz sicher wird das Treiben genauso weiter gehen wie der Krieg selber. Es kann sogar sein, dass er erst jetzt in die schlimmstmögliche Phase tritt. Denn immer mehr Funktionsträger und einfache Soldaten lassen den Herrscher in Damaskus im Stich. Der syrische Botschafter in Bagdad, der General, der sich nach Frankreich abgesetzt hat, die vielen Deserteure, die das Morden an der eigenen Bevölkerung nicht mehr aushalten. Der Zusammenhalt unter den Flüchtlingen scheint demgegenüber zuzunehmen. Die Parole gilt, von der uns die Flüchtlinge erzählen, dass sie bei den Demonstrationen hochgehalten wird: «Keine Sunniten, keine Alawiten, keine Drusen, keine Kurden, keine Ismaeli - ten. Wir sind alle Syrer!»

Quelle: Rupert Neudeck: Es gibt ein Leben nach Assad. C.H. Beck, München 2013. 192 Seiten, 14,95 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 11 bis 17.