Moralität in der deutschen Außenpolitik
Die Wiederkehr der Realpolitik
Der Politologe Herfried Münkler über die quälenden Paradoxien politischen Handelns und das Ende der historischen Episode der reinen Moralität.
Der Syrien-Konflikt hat die bekannten Dilemmata einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer wieder einmal offengelegt: Man ist sich einig, solange man Forderungen aufstellt und Erwartungen formuliert, aber ausspart, wie die Forderungen durchgesetzt und die Erwartungen eingelöst werden sollen. Sobald letzteres auf die Tagesordnung gesetzt wird, zerfällt Europa wieder in die nationalstaatlichen Akteure, deren konfliktträchtige Alleingänge durch die Bildung der Gemeinschaft hatten beendet werden sollen. Trotz ihrer demonstrativen Zurückhaltung spielt die deutsche Politik bei diesem Scheitern keine glückliche Rolle: Indem sie ein ums andere Mal das Erfordernis europäischer Gemeinsamkeit betont, macht sie deren Fehlen umso deutlicher. Obendrein hat sich bei vielen Nachbarn der Verdacht verfestigt, die Deutschen redeten bloß darum vom gemeinsamen Auftreten der Europäer, weil sie dahinter ihr eigenes Nichtstun und ihre strategische Ratlosigkeit verbergen könnten. Hört man sich um unter den ausländischen Journalisten in Berlin, so begegnet man durchgängig der Auffassung, die Deutschen seien Drückeberger, wenn es darum gehe, Verantwortung für die Konfliktbearbeitung an der europäischen Peripherie zu übernehmen.
An der in Deutschland geführten Debatte über Sinn und Zweck des Afghanistan-Einsatzes lässt sich die Entstehung dieses Eindrucks beispielhaft nachvollziehen: Man begnügte sich nicht damit, sich auf die Zerschlagung von al-Qaida und den Aufbau einer leidlich stabilen Regierung zu konzentrieren, sondern redete über eine nachhaltige Transformation der afghanischen Gesellschaft, durch die den Gewaltakteuren ein für allemal das Wasser abgegraben werden sollte: Gleichstellung von Mann und Frau, Unterricht für alle, Beendigung der Korruption und Bekämpfung der Heroinproduktion – das waren Zielsetzungen, an denen gemessen der Einsatz nur scheitern konnte. Auch hatte man nicht in Rechnung gestellt, dass es massiven Widerstand gegen eine solche normorientierte Modernisierung geben würde. Der Katzenjammer, der mit Blick auf das Afghanistan-Projekt schon jetzt eingesetzt hat, wird der Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung in Deutschland nicht zuträglich sein; die düpierte Naivität wird sich als politische Klugheit ausgeben, Beobachten und Warnen wird an die Stelle von entschiedenem Eingreifen treten.
Dabei hat es die deutsche Politik schwer genug, strategische Direktiven, in denen europäische Gesamtverantwortung und wohlverstandenes deutsches Interesse zusammenkommen, in Europa zur Geltung zu bringen. Die Politik der Euro-Rettung bzw. des Managements der Schuldenkrise in Südeuropa ist ein Beispiel dafür: Kaum hatte man die vor allem von Deutschland getragene Hilfe mit gewissen Erwartungen an Strukturreformen in den hilfsbedürftigen Ländern verbunden, tauchten die Nazi-Embleme auf, und die Kanzlerin wurde wechselweise mit Hitlerbärtchen oder Pickelhaube dargestellt. Die deutsche Geschichte wurde hervorgekramt, um die Hilfskonditionen zugunsten der Südländer zu verändern. In dieser Situation war es für Deutschland ein symbolpolitischer Glücksfall, dass an der Spitze der Regierung eine Frau stand und der verhandlungsführende Finanzminister im Rollstuhl saß; beides setzte der Karikierung angeblicher deutscher Aggressivität Grenzen. Und doch herrschte in Berlin zeitweilig große Sorge vor der Ausbreitung einer antideutschen Stimmung in Europa.
Nun ist dieses Dreieck keine Besonderheit der deutschen Politik, sondern lässt sich überall beobachten, wo demokratische Politik gemacht wird. Das Besondere besteht eher darin, dass die Deutschen – die politische Klasse vermutlich ebenso wie die Wahlbevölkerung – wieder lernen müssen, ihr politisches Denken und Handeln an den Rahmenbedingungen dieses Dreiecks zu orientieren. Das ist in den letzten Jahrzehnten aus mancherlei Gründen in den Hintergrund getreten und muss nun wieder erinnert und neu eingeübt werden. Man kann dies in provokativer Zuspitzung als Wiederkehr der Realpolitik bezeichnen; tatsächlich geht es jedoch darum, dass die Scheu vor den Paradoxien der Politik ein Ende hat und das heißt, dass die historische Episode einer aus dem Geist der reinen Moralität kommunizierten Politik beendet werden muss. Die Deutschen haben diese Phase gebraucht, um die Geschichte ihrer Verbrechen aufzuarbeiten und sich mit den Merkmalen ihrer Schande auseinanderzusetzen, nachdem ihnen bewusst geworden war, was sie in den Jahren des Nationalsozialismus zunächst manchen ihrer Landsleute und dann den meisten Europäern angetan hatten. Das hatte zu Handlungshemmungen und einer Moralisierung der politischen Kommunikation geführt. Infolgedessen konnte man nur sehr eingeschränkt internationale Verantwortung übernehmen, und die europa- wie weltpolitischen Konstellationen waren so, dass man es auch nicht musste. Das hat sich geändert. Europa wird scheitern, wenn die Deutschen – von ihrem finanzpolitischen Engagement in der Euro-Krise abgesehen – sich weiterhin darauf beschränken, die Rolle des Betrachters und Kommentators statt die eines Akteurs und Vordenkers einzunehmen.
Vom Prozedieren der Energiewende über den Bau eines Hauptstadtflughafens bis zum außenpolitischen Handeln der Regierung beobachten wir seit längerem einen Mangel an strategischem Vermögen in der deutschen Politik. Das wird sich erst ändern, wenn sich die Wahlbevölkerung nicht länger mit dem Verweis auf die guten Absichten abspeisen lässt, sondern tatsächliche Ergebnisse sehen will. Es ist im Übrigen nicht nur die reine Moralität, die der Ausbildung strategischer Rationalität im Wege steht; es ist auch die spezifisch deutsche Neigung zu einer Verrechtlichung der Politik, in der sich ebenfalls eine Scheu, wenn nicht Angst vor der Macht des Paradoxen zeigt. Der entkommt man jedoch weder durch Moralisierung noch durch Verrechtlichung. Das zeigt sich zur Zeit in Syrien: Alle Regeln und Normen des Völkerrechts sind bedeutungslos, wenn sich keiner findet, der sie durchsetzt. Das verfasste Europa hat in der Syrien-Krise und in dem Umgang mit den dortigen Chemiewaffen wieder einmal keine Rolle gespielt.
Weltmeister der Normenaufstellung
In ihrer Pauschalität ist diese Beurteilung sicherlich unzutreffend und auch ungerecht. Vom Balkan bis zum Hindukusch haben sich die Deutschen nicht nur finanziell, sondern auch militärisch an Stabilisierungsmaßnahmen beteiligt; die Verluste an Soldaten stehen nicht hinter denen der europäischen Partner zurück. Woher kommt dann der Eindruck, dass die Deutschen Weltmeister beim Aufstellen von Normen seien, aber allenfalls Hausmeister, wenn es darum geht, diesen Normen Geltung zu verschaffen?An der in Deutschland geführten Debatte über Sinn und Zweck des Afghanistan-Einsatzes lässt sich die Entstehung dieses Eindrucks beispielhaft nachvollziehen: Man begnügte sich nicht damit, sich auf die Zerschlagung von al-Qaida und den Aufbau einer leidlich stabilen Regierung zu konzentrieren, sondern redete über eine nachhaltige Transformation der afghanischen Gesellschaft, durch die den Gewaltakteuren ein für allemal das Wasser abgegraben werden sollte: Gleichstellung von Mann und Frau, Unterricht für alle, Beendigung der Korruption und Bekämpfung der Heroinproduktion – das waren Zielsetzungen, an denen gemessen der Einsatz nur scheitern konnte. Auch hatte man nicht in Rechnung gestellt, dass es massiven Widerstand gegen eine solche normorientierte Modernisierung geben würde. Der Katzenjammer, der mit Blick auf das Afghanistan-Projekt schon jetzt eingesetzt hat, wird der Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung in Deutschland nicht zuträglich sein; die düpierte Naivität wird sich als politische Klugheit ausgeben, Beobachten und Warnen wird an die Stelle von entschiedenem Eingreifen treten.
Dabei hat es die deutsche Politik schwer genug, strategische Direktiven, in denen europäische Gesamtverantwortung und wohlverstandenes deutsches Interesse zusammenkommen, in Europa zur Geltung zu bringen. Die Politik der Euro-Rettung bzw. des Managements der Schuldenkrise in Südeuropa ist ein Beispiel dafür: Kaum hatte man die vor allem von Deutschland getragene Hilfe mit gewissen Erwartungen an Strukturreformen in den hilfsbedürftigen Ländern verbunden, tauchten die Nazi-Embleme auf, und die Kanzlerin wurde wechselweise mit Hitlerbärtchen oder Pickelhaube dargestellt. Die deutsche Geschichte wurde hervorgekramt, um die Hilfskonditionen zugunsten der Südländer zu verändern. In dieser Situation war es für Deutschland ein symbolpolitischer Glücksfall, dass an der Spitze der Regierung eine Frau stand und der verhandlungsführende Finanzminister im Rollstuhl saß; beides setzte der Karikierung angeblicher deutscher Aggressivität Grenzen. Und doch herrschte in Berlin zeitweilig große Sorge vor der Ausbreitung einer antideutschen Stimmung in Europa.
Eckpunkte der deutschen Politik
Das ist die Grundparadoxie, mit der die deutsche Politik in den kommenden Jahren (und vermutlich darüber hinaus) umgehen muss: dass dieselben europäischen Nachbarn, die mehr deutsche Führung in Europa und an dessen Peripherie einfordern, gegenüber Deutschland auf Distanz gehen oder antideutsche Ressentiments ausbilden, sobald sie mit Berliner Führung konfrontiert werden. Sie wollen ein größeres Engagement Deutschlands – aber bitte zu ihren Bedingungen. Derlei würde jedoch die Unterstützung dieses Engagements durch die deutsche Bevölkerung sehr schnell unterhöhlen. Auch darin ist die Politik der Euro-Rettung das Modell, das die Optionen wie Restriktionen deutscher Politik in Europa auch auf anderen Politikfeldern umreißt: Die Herausforderungen, die bearbeitet werden müssen, die Erwartungen der Nachbarn und Partner, mit denen Deutschland kooperieren muss, wenn es etwas erreichen will, und die Bereitschaft der eigenen Bevölkerung, die daraus resultierenden Belastungen zu tragen, markieren die Eckpunkte des Dreiecks, in dem sich die deutsche Politik bewegen wird.Nun ist dieses Dreieck keine Besonderheit der deutschen Politik, sondern lässt sich überall beobachten, wo demokratische Politik gemacht wird. Das Besondere besteht eher darin, dass die Deutschen – die politische Klasse vermutlich ebenso wie die Wahlbevölkerung – wieder lernen müssen, ihr politisches Denken und Handeln an den Rahmenbedingungen dieses Dreiecks zu orientieren. Das ist in den letzten Jahrzehnten aus mancherlei Gründen in den Hintergrund getreten und muss nun wieder erinnert und neu eingeübt werden. Man kann dies in provokativer Zuspitzung als Wiederkehr der Realpolitik bezeichnen; tatsächlich geht es jedoch darum, dass die Scheu vor den Paradoxien der Politik ein Ende hat und das heißt, dass die historische Episode einer aus dem Geist der reinen Moralität kommunizierten Politik beendet werden muss. Die Deutschen haben diese Phase gebraucht, um die Geschichte ihrer Verbrechen aufzuarbeiten und sich mit den Merkmalen ihrer Schande auseinanderzusetzen, nachdem ihnen bewusst geworden war, was sie in den Jahren des Nationalsozialismus zunächst manchen ihrer Landsleute und dann den meisten Europäern angetan hatten. Das hatte zu Handlungshemmungen und einer Moralisierung der politischen Kommunikation geführt. Infolgedessen konnte man nur sehr eingeschränkt internationale Verantwortung übernehmen, und die europa- wie weltpolitischen Konstellationen waren so, dass man es auch nicht musste. Das hat sich geändert. Europa wird scheitern, wenn die Deutschen – von ihrem finanzpolitischen Engagement in der Euro-Krise abgesehen – sich weiterhin darauf beschränken, die Rolle des Betrachters und Kommentators statt die eines Akteurs und Vordenkers einzunehmen.
Strategisches Unvermögen
Was ist unter der „Episode reiner Moralität“ in der deutschen (Außen-)Politik zu verstehen? Es ist dies die Vorstellung, dass sich Absichten unmittelbar in Ergebnisse überführen ließen, was dann umgekehrt heißt, dass es an den Intentionen gelegen haben muss, wenn sich die Effekte nicht in der gewünschten Weise einstellen. In der Folge hat sich eine Politikevaluation nach Maßgabe von Absichtserklärungen ausgebreitet. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik ist davon weitgehend ausgespart geblieben, weil die Menschen die Ergebnisse von Politik hier unmittelbar verspüren; in der Außen- und Sicherheitspolitik ist das nicht der Fall, und demgemäß sind sie zum Tummelfeld der Moralität geworden. Dabei ist die Einwirkung des Paradoxen aus dem Blick geraten, durch die so manche Intention auf der Ebene der Effekte in ihr Gegenteil verkehrt wird. In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ hat Max Weber von „dämonischen Mächten“ gesprochen, die dafür sorgten, dass aus guten Absichten schlimme Folgen erwüchsen. Deswegen sei in der Politik nicht die reine Absicht, sondern das strategische Können entscheidend. Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass es um die Paradoxien weiß, sie in die Anlage des Handelns einbezieht und, wenn es gut geht, ihnen ein Schnäppchen schlägt.Vom Prozedieren der Energiewende über den Bau eines Hauptstadtflughafens bis zum außenpolitischen Handeln der Regierung beobachten wir seit längerem einen Mangel an strategischem Vermögen in der deutschen Politik. Das wird sich erst ändern, wenn sich die Wahlbevölkerung nicht länger mit dem Verweis auf die guten Absichten abspeisen lässt, sondern tatsächliche Ergebnisse sehen will. Es ist im Übrigen nicht nur die reine Moralität, die der Ausbildung strategischer Rationalität im Wege steht; es ist auch die spezifisch deutsche Neigung zu einer Verrechtlichung der Politik, in der sich ebenfalls eine Scheu, wenn nicht Angst vor der Macht des Paradoxen zeigt. Der entkommt man jedoch weder durch Moralisierung noch durch Verrechtlichung. Das zeigt sich zur Zeit in Syrien: Alle Regeln und Normen des Völkerrechts sind bedeutungslos, wenn sich keiner findet, der sie durchsetzt. Das verfasste Europa hat in der Syrien-Krise und in dem Umgang mit den dortigen Chemiewaffen wieder einmal keine Rolle gespielt.
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).
© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de
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