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Titelthema

Zerfallende Ordnung

Über die schwindenden Trennlinien zwischen Krieg, Bürgerkrieg, Volksaufständen und Terrorismus

Herfried Münkler01.11.2017

Das entscheidende Thema der Bundestagswahl in Deutschland und zuletzt der Nationalratswahl in Österreich war die Flüchtlingswelle seit dem Spätsommer 2015. Ein Großteil der Wähler sorgte sich vor allem um innenpolitische Folgen wie die Sicherheit, die Stabilität der Sozialsysteme und die Identität des eigenen Landes. Kaum reflektiert wurde, dass die Flüchtlingswelle und die mit ihr verbundene zeit­weilige Öffnung der Grenzen auch eine globale Dimension hat – die Auflösung der etablierten staatlichen Ordnungen. Auch die zahlreichen Terroranschläge infolge des Niedergangs des Islamischen Staates weisen darauf hin, dass sich traditionelle Kategorien wie Innen und Außen zunehmend auflösen.
So erklärte der französische Präsident Hollande nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015, sein Land sei im Kriege. Dabei war es lediglich eine Handvoll Männer, die den Präsidenten zu dieser Feststellung veranlasst hatte. Ei­nige mehr hatten bereits am 11. September 2001 den US-Präsidenten Bush dazu gebracht, nicht nur vom Krieg zu sprechen, sondern auf die Anschläge auch mit der Führung eines Krieges zu reagieren. Die USA und in ihrem Gefolge „der Westen“ zog in den Afghanistankrieg, der bis heute andauert und bei dem die Erreichung des politischen Ziels, die Pazifizierung des Landes, nach wie vor in weiter Ferne liegt. In beiden Fällen waren es schwache Akteure, die die Führer mächtiger Staaten zu solchen Erklärungen und Handlungen brachten. Im Unterschied zu den Parteien der klassischen Staatenkriege haben sie keine direkte Grenze mit dem angegriffenen Land, allen­falls übergangsweise verfügen sie, wie al-­Qaida in Afghanistan und zuletzt der IS in Syrien und im Nordirak, über eigenes Territorium, und sie haben auch nicht die inzwischen erforderlichen Mittel zur Führung eines Krieges: weder Luft­waffe noch Marine, weder weitreichende Raketen noch Panzerdivisionen. Und doch erklärten die Präsidenten zweier Atom­mächte, sie seien mit ihnen im Krieg.

Beschleunigter Ordnungsverlust
Mehr noch als die Terroranschläge selbst stehen die Reaktionen mächtiger Staatsmänner auf diese Anschläge für einen Ordnungsverlust, der sich in den nächsten Jahren noch beschleunigen dürfte. Es geht um die Erosion der Trennlinien, die bei der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges in Europa errichtet wurden und auf denen ein Regime der Gewaltregulation basierte, das bis ins 20. Jahrhundert hinein Geltung hatte. Zentrale Trennlinie dieser Ordnung war die von Innen und Außen. Sie trennte Staatenkrieg und Bürgerkrieg voneinander, wobei ersterer einer Reihe von Regeln unterworfen wurde, während für letzteren galt, dass er das unter allen Umständen zu Vermeidende und zu Verhindernde war. Die Trennlinie zwischen beiden Kriegstypen hing an territorialen Grenzen, an denen sich entschied, ob die Staaten miteinander im Kriegs- oder Friedenszustand waren. Die nach dem Westfä­lischen Frieden von 1648 benannte „Westfälische Ordnung“ gründete sich auf die Territorialität der politisch anerkannten Mitglieder. Die Unterscheidungen und Tren­nungen wurden buchstäblich im Boden verankert. Das aber hieß auch, dass die großen Seemächte mit mindestens einem Bein außerhalb dieser Ordnung standen. Mit Seeblockade und Handelskrieg haben sie Formen des politischen Zwangs kultiviert, die den Landmächten fremd waren; doch sorgte die Trennung von Land und Meer dafür, dass die zwei unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen nicht diffundierten.
Die Verbindlichkeit dieser Ordnung ist inzwischen weitgehend dahingeschmolzen, was sich u. a. darin zeigt, dass nicht einer der Kriege, die wir zur Zeit beobachten, zumal die im Vorderen Orient und in der Sahelzone, nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts geführt wird. Das wird allent­halben beklagt, aber es findet sich keiner, der bereit wäre, die nominell immer noch geltende Ordnung in den Räumen ihrer völligen Auflösung wieder zur Geltung zu bringen. Das Einzige, worin dieser ­Ordnung ein Rest von Respekt verschafft wird, sind einige Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag, in denen über diejenigen geurteilt wird, derer die internationale Gemeinschaft außerhalb der diffusen Kriege habhaft geworden ist. Die Durchsetzung einer Ordnung sieht anders aus.
An die territorial fixierte Unterscheidung zwischen Innen und Außen schlossen sich die meisten Trennlinien der West­fälischen Ordnung an, auch die zwischen zum Krieg Berechtigten, weil als souverän anerkannten Akteuren und jenen, bei denen Gewaltanwendung ein Verbrechen war. Krieg und Kriminalität waren in die­ser Ordnung klar voneinander getrennt; für das eine war das Militär, für das andere die Polizei zuständig, und ein dazwischen befindliches Drittes wurde nicht anerkannt. Solange die Westfälische Ordnung uneingeschränkt funktionierte, wurde alles, was sich zwischen Krieg und Kriminalität ­ent­wickelte, entweder dem Einen oder dem Anderen zugewiesen. Das hatte häufig etwas Willkürliches, diente aber der Aufrechterhaltung einer Ordnung, die auf einem schroffen Entweder-Oder errichtet war. Das galt auch für die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkom­battanten, auf der die Regulierungen des Kriegs­rechts errichtet waren.
Diese Ordnung wurzelte in den politischen Konstellationen West- und Mitteleuropas, die so beschaffen waren, dass sie den Normstrukturen dieser Ordnung entgegenkamen. Tatsächliche Verhältnisse und normative Konstruktionen stützten sich wechselseitig. So gelang es, den Par­tisanenkrieg, der gegenüber der binären Ordnung ein aufsprengender Dritter war, an die Peripherie der europäischen Ordnung zu verbannen und nicht in deren Zentrum vordringen zu lassen: Nach Spa­nien und Russland in der Zeit der napo­leo­nischen Kriege, auf den Balkan vor dem und während des Ersten Weltkriegs. Aber die Staaten Europas traten außerhalb des Kontinents oder an dessen äußersten Rändern als Kolonialimperien auf, wo sie die Reziprozitätsprinzipien der innereuro­päischen Ordnung für sich nicht gelten ließen; da sie gleichzeitig auch auf deren Durchsetzung bestanden, wurde aus dem, was in Europa Ordnung war, dort zu einer besonders subtilen Form der Unterwerfung. Das hat die europäische Ordnung auf ihrem Weg zur globalen Ordnung diskreditiert.

Schwachstellen der Ordnung
Außerhalb Europas hat man erkannt, was die Schwachstelle dieser Ordnung war: die Unterscheidung von Innen und Außen und die darauf beruhenden Separationen. Also entwickelte man Strategien, die vorzugsweise gegen das Scharnier zwischen Innen und Außen gerichtet waren: Wenn man dieses Scharnier zerstörte, würde man die Ordnung „des Westens“ und seinen legitimatorischen Überlegenheits­anspruch zu Fall bringen. Dementsprechend waren die Partisanenkriegstrategien angelegt, und auch Strategien des internationalen Terrorismus folgten dieser Vorgabe. Die Folgen lassen sich u. a. an den eingangs erwähnten „Kriegserklärungen“ des französischen und des amerikanischen Präsi­denten beobachten: Von der binären Ordnung vor die Frage Krieg oder Kriminalität gestellt, optierten sie für den Krieg, genüg­ten anschließend aber nicht dessen normativen Vorgaben, wie die USA, die im Begriff des „illegalen Kombattanten“ Krieg und Kriminalität miteinander vermischten und dies in Guantanamo aller Welt vor Augen führten. Oder die Kriegshandlungen, im französischen Fall Luftangriffe auf IS-Positionen in Syrien, trugen nichts zum Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bei, son­dern das taten dann die Polizeiaktionen in Brüsseler Vorort Molenbeek. Die Reaktion des Westens verhedderte sich in den Fallstricken der terroristischen Strategie, und dabei dementierte sie ihren eige­­nen Ordnungsanspruch.
Was in den letzten Jahrzehnten verloren ging, ist nicht nur die Faktizität einer glo­balen Ordnung, sondern auch die legitimierende Idee einer Ordnung, die weltweit akzeptiert wird. Es kommt hinzu, dass sich die USA bereits unter Obama, erst recht unter Trump, aus der Rolle eines auf die Durchsetzung dieser Ordnung verpflich­te­ten Weltpolizisten zurückzogen. Die Wahr­nehmung dieser Aufgabe ist ihnen zu teuer geworden; sie können sich das nicht mehr leisten bzw. trauen es sich nicht mehr zu. Damit geht eine Epoche zu Ende; sie endet nicht mit einem Schlag, sondern ihre Grundsätze und Leitlinien versickern allmählich. Die alte Ordnung wird nicht durch eine neue abgelöst, sondern sie ver­schwindet einfach. Das heißt, dass die Konstellationen vor der Begründung und Durchsetzung dieser Ordnung wieder auftauchen. Nicht von ungefähr sind die Kriege im Nahen Osten und in der Sahelzone dem Dreißigjährigen Krieg ähnlicher als den Kriegen der Westfälischen Ordnung.
In dieser Lage setzen die Europäer da­rauf, dass die früher bewährte Strategie der Peripherisierung dieser „Unordnung“ noch einmal funktioniert: Sie setzen darauf, dass sich ein Übergreifen dieser Kriege nach Europa verhindern lässt und dass es möglich ist, sie in der unmittelbaren Umgebung Europas schrittweise einzudämmen und zum Erlöschen zu bringen – nicht zuletzt auch, um die durch sie in Gang gebrachten oder beschleunigten Flüchtlingsströme in Grenzen zu halten. Das setzt freilich eine langfristig angelegte Politik voraus, für die man Verbündete braucht. Die USA sind dabei inzwischen ein ebenso unberechenbarer und eigenwilliger Partner wie Russland. Einige scheinen sich wiederum auf ein Übergreifen der Unordnungskriege auf Europa vorzubereiten. Andere setzen auf strikte Abschottung gegenüber der Um­ge­bung. Für das europäische Auftreten gegenüber dieser Herausforderung wird viel von dem politischen Kurs abhängen, den die neue Regierung in Berlin einschlägt. Die Deutschen sind diese Führungsrolle noch nicht gewöhnt. Sie werden sich daran gewöhnen müssen.