Über zweierlei Arten von »Putin-Verstehern«
Steht Europa an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg?
Infolge der Revolution in der Ukraine, der anschließenden Annektion der Halbinsel Krim durch Russland und des Auftretens prorussischer Truppen im Osten der Ukraine ist das Verhältnis Russlands zum Westen auf einem Tiefpunkt angekommen wie seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr. Die Autoren der Beiträge dieses Januar-Titelthemas sind auf ganz unterschiedliche Weise mit den gegenseitigen Beziehungen und ihrer wechselvollen Geschichte vertraut. Sie alle verbindet die Einsicht, dass in der jetzigen politischen Großwetterlage das zivilgesellschaftliche Gespräch vor allem zwischen Russland und Deutschland und den Menschen beider Länder wichtiger ist denn je.
Mitunter verraten Begriffe mehr über diejenigen, die sie prägen und verwenden, als über das, was damit bezeichnet werden soll. „Putin-Versteher“ ist ein solcher Begriff. Er soll markieren, dass der so Bezeichnete zu viel Nachsicht und Nachgiebigkeit gegenüber der russischen Politik in der Ukraine-Krise zeige. Dagegen wird mehr Härte und Entschlossenheit angemahnt. Man müsse rote Linien ziehen, um den Russen zu zeigen, wo für sie die Grenze sei. Putin verstehe sowieso nur eine glasklare Sprache und entschiedenes Gegenhandeln. Alles andere begreife er als Schwäche, und das sei für ihn eine Einladung, noch weitergehende Ziele zu verfolgen. Die so sprechen, nehmen für sich in Anspruch, Putin sehr genau verstanden zu haben. Sie halten sich für die besseren Putin-Versteher als die, die sie als solche bezeichnen. Aber tun sie das wirklich? Oder folgen sie bloß einer reflexhaften Russland-Aversion? Sind sie womöglich die Gefangenen einer Erzählung, die sie an dem hindert, was sie für sich in Anspruch nehmen: einer klaren Analyse der Lage?
Dispositionen der russischen Politik
Im Prinzip gibt es drei mögliche Antworten auf die Frage nach den Grunddispositionen der russischen Politik, die nachfolgend vereinfachend als „Putin 1 bis 3“ bezeichnet werden. „Putin 1“ geht davon aus, dass die russische Elite neoimperialen Träumen anhängt und eine Position anstrebt, die aus Elementen des Zarenreichs und der Sowjetunion zusammengesetzt ist. Das Skript zu diesem Projekt stammt von Alexander Dugin, und der jüngste Ukraine-Krieg ist nach dem vorangegangenen Georgien-Krieg der zweite Schritt bei der Realisierung dieses Projekts. Die russische Politik ist diesem Modell zufolge prinzipiell offensiv ausgerichtet, was taktisch motivierte defensive Zwischenphasen nicht ausschließt.
Bei „Putin 2“ wird die russische Politik dagegen als strategisch defensiv mit taktischen offensiven Zwischenschritten begriffen. Danach geht es darum, ein weiteres Näherrücken der Nato an die russischen Grenzen zu verhindern, und dazu dient den Russen der Umstand, dass Länder mit ungeklärten territorialen Fragen nicht Mitglied des Bündnisses werden können. Also folgt die russische Politik dem Grundsatz, überall dort ungeklärte territoriale Fragen zu schaffen, wo sie Nachbarstaaten am Nato-Beitritt hindern will. Konkret: Was in Georgien erfolgreich war, soll in der Ukraine wiederholt werden. Es wird hier und dort gezündelt, um den Status quo an den Rändern Russlands aufrechtzuerhalten.
Und dann gibt es noch „Putin 3“, dem zufolge das russische Agieren nicht aus außenpolitischen Projekten oder Herausforderungen heraus, sondern im Hinblick auf die Zustimmungsrate der Bevölkerung erklärt wird: Putin hat beobachtet, dass seine demoskopischen Werte ansteigen, wenn er kleine, schnelle und erfolgreiche Kriege führt: zweiter Tschetschenien-Krieg, Georgien-Krieg, Krim-Annexion. Auch ein so autoritäres System wie das russische braucht die Zustimmung der Bevölkerung, und die wird auf diese Weise beschafft.
Das Problem aller modellanalytischen Erklärungen zeigt sich auch hier: Die tatsächliche Politik folgt selten einem einzigen Modell, sondern die Motive und Optionen der Akteure changieren zwischen den Modellen. So dürfte auch in diesem Fall der wirkliche Putin einmal dem einen und dann wieder eher dem anderen Modell entsprechen. Oder anders formuliert: Tatsächliche Politik ist fast immer ein Hybrid aus mehreren Modellannahmen. Die sind darum jedoch nicht wertlos – im Gegenteil: Die Modelle zeigen wahrscheinliche Handlungsfolgen eines in ihrem Rahmen handelnden rationalen Akteurs, sie machen Handlungsstränge wahrscheinlich und weniger wahrscheinlich, und sie zeigen, wo die Chancen eigenen Gegenhandelns liegen. Vor allem aber machen sie sichtbar, mit welchem Typ von Gegenüber man am besten zurechtkäme, mit wem man am ehesten kooperieren und am wenigsten konfligieren würde. Im hier gegebenen Fall ist das zweifellos „Putin 2“: Hier ist die russische Politik am stärksten berechenbar, und es gibt eine Fülle von Kompromisslinien. „Putin 1“ ist das genaue Gegenteil, „Putin 3“ steht irgendwo in der Mitte. Das Ziel und die Aufgabe einer klugen deutschen Politik bestehen also darin, den tatsächlichen Putin möglichst nahe an „Putin 2“ heranzubewegen. Was dem entgegensteht, ist zu beseitigen oder zu unterlassen.
Die Crux der Europäer
Eine kluge deutsche Politik verzichtet also auf Provokationen und Kraftmeiereien gegenüber den Russen, sondern sucht diese zu überzeugen, dass sie ihre eigenen Interessen am besten verfolgen, wenn sie sich an den modelltheoretischen Vorgaben von „Putin 2“ orientieren. Dabei taucht die Frage auf, was die Russen daran hindern könnte, ihre langfristigen Interessen, die auf eine Kooperation mit der EU hinauslaufen, zu verfolgen und sich statt dessen auf eine riskante Konfrontation mit den Europäern einzulassen. Wie fast immer sind auch hier Besorgnisse und Ängste der erste Kandidat, um Abweichungen von rationaler Interessenverfolgung zu erklären. Wie in der Julikrise von 1914 sind es Niedergangs- und Einkreisungsängste, die Rationalität blockieren. Man kann solche Ängste verstärken, wie das die Entente in der Julikrise 1914 gegenüber den Mittelmächten getan hat, oder auch abbauen, um den Blick auf die langfristigen Interessen freizugeben. Und die liegen für Russland viel stärker in einer Kooperation mit der EU als mit China. Was vor kurzem noch als strategische Partnerschaft zwischen EU und Russland bezeichnet wurde, ist die Diagonale der russischen und der europäischen Interessen. Es wäre gut, wenn man dorthin zurückkäme.
Was die Russen brauchen, ist europäisches Kapital und europäisches Know-how, um ihre teils rückständige, teils marode Industrie zu modernisieren und die Förderung der Bodenschätze, auf deren Verkauf das Land angewiesen ist, zu effektivieren. Und umgekehrt sind die Europäer an diesen Rohstoffen, aber auch am russischen Markt interessiert, kurzfristig und langfristig. Sie, die Europäer, sind das freilich in unterschiedlichem Maße, wie sie sich auch durch das russische Agieren in der Ostukraine unterschiedlich bedroht wahrnehmen: Portugiesen, Spanier und Italiener fühlen sich davon wenig betroffen, Esten, Letten, Litauer und Polen hingegen sehr. Und schließlich gibt es in Europa einige Regierungen, die eine ausgesprochen russlandfreundliche Politik verfolgen, in Ungarn und Bulgarien etwa. Die Russland-Ukraine-Krise hat die zentrifugalen Kräfte in der EU verstärkt. Für kurze Zeit mag das Bedrohungsgefühl die zuvor kontrovers diskutierten Fragen der Fiskal- und Wirtschaftspolitik in den Hintergrund gedrängt und europäische Geschlossenheit befördert haben. Inzwischen sind die alten Spaltungslinien wieder da, und neue sind dazugekommen. Das ist die Crux der Europäer.
Die Rolle und die Aufgaben Deutschlands
Unter diesen Umständen ist Deutschland und der deutschen Politik ein zusätzliches Gewicht zugewachsen. Deutschland ist nicht nur infolge der auffallenden Zurückhaltung der USA in der Ukraine-Krise in die Rolle einer „lead nation“ hineingeraten, sondern die deutsche Politik muss auch die unterschiedlichen Orientierungen und Interessen innerhalb Europas ausbalancieren und zu einer einheitlichen europäischen Politik bündeln: Sie muss die Sicherheitsinteressen der Polen und der baltischen Staaten im Auge behalten, ohne dabei die russlandfreundlichen Südosteuropäer vor den Kopf zu stoßen, und sie muss die Südeuropäer für die Bearbeitung der Russland-Ukraine-Krise interessieren, wiewohl die vor allem mit den Problemen der ihnen gegenüberliegenden Mittelmeerküste beschäftigt sind. Und bei all dem darf sie die Probleme der Ukraine nicht außer Acht lassen. Man hätte es noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten: Von den Deutschen, vom Werderschen Markt, um konkret zu sein, wird wieder große Außenpolitik abverlangt. Die Deutschen haben sich nicht danach gedrängt, aber jetzt müssen sie sich den Herausforderungen stellen und sich ihnen gewachsen erweisen. Und dabei dürfen sie nicht nur ihre eigenen Interessen im Auge haben, sondern müssen die ganz Europas verfolgen.
Dabei sind drei Aspekte vor allem zu beachten: Erstens, dass es den alten „Westen“ nicht mehr gibt. Die Obama-Doktrin, wonach der Schwerpunkt US-amerikanischen Engagements zukünftig nicht mehr im atlantischen, sondern im pazifischen Raum liege, hat zur Folge, dass die Europäer viele Probleme ihrer Peripherie zukünftig selbst werden lösen müssen. Ein neuer Kalter Krieg kann dabei, zweitens, nicht im europäischen Interesse liegen, weil es die Geschlossenheit des alten Westens nicht mehr gibt und weil inzwischen andere Herausforderungen eine größere Dringlichkeit haben. Diese größere Herausforderung ist, drittens, der Zerfall der politischen und sozialen Ordnung im Vorderen Orient und die politische Instabilität der Europa gegenüberliegenden Mittelmeerküste.
Da die gleichzeitige Bearbeitung zweier Problemfelder die europäischen Kräfte jedoch überfordern würde, wird man sich für die Vorrangigkeit des einen und die Nachrangigkeit des anderen entscheiden müssen. Russland ist dabei schon darum das kleinere Problem, weil es ein potentiell rationaler Akteur ist, während derlei im Nahen Osten und im Maghreb nicht oder nur selten zu erkennen ist. Vor allem aber: Bei der Bearbeitung des Südost- und Südproblems Russland als strategischen Gegenspieler zu haben, wäre verhängnisvoll, denn dann wären die begrenzten europäischen Kräfte erst recht überfordert. Man muss Putin verstehen, um die europäischen Interessen klug verfolgen zu können.
© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de
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