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Krise der Mitte

Die Erosion der Mitte

Verliert unsere Gesellschaft ihre innere Stabilität? Wutbürgerbewegungen wie in Dresden oder Stuttgart markieren einen schleichenden Zerfallsprozess.

Herfried Münkler01.07.2015

Zunächst ist die Mitte nicht viel mehr als eine sozialstatistische und wahlarithmetische Größe. Sie kann sowohl aus der Einkommensstruktur einer Gesellschaft als auch aus der Arithmetik der Wahlergebnisse ermittelt werden, und wenn beide Segmente kongruent sind, haben wir es mit einer sozial und politisch stabilen Gesellschaft zu tun – jedenfalls dann, wenn diese Kongruenz kein einmal und nur ausnahmsweise zu beobachtendes Ergebnis ist, sondern eines, das sich über einen längeren Zeitraum bei wiederholten Messungen und mehreren Wahlen immer wieder konstatieren lässt. Die Stabilität der Mitte ist dann der Garant für die Stabilität der Gesellschaft. Sozialstatistik und Wahlarithmetik sind dann mehr als kontingente Messergebnisse, sondern Indikatoren einer sozialen und politischen Ordnung, die auf lange Dauer angelegt ist.

Und natürlich gilt, dass die Stabilität einer Gesellschaft umso größer ist, je größer und stärker diese Mitte gegenüber dem Rest der Gesellschaft ist. In den suggestiven Bildern der Gesellschaftsbeschreibung stehen das Sinnbild der Zwiebel und das der Sanduhr gegeneinander: im einen Fall die Mitte als das breiteste, im anderen als das schmalste Segment der Gesellschaft, die Robustheit der Zwiebel gegen die Zerbrechlichkeit der Sanduhr. Das ist unmittelbar sinnfällig. Zwiebel-Gesellschaften ruhen in sich selbst; Sanduhr-Gesellschaften dagegen fordern dazu heraus, immer wieder aufs neue gewendet zu werden. Aber dadurch wird die Mitte nicht breiter und stabiler; die Fragilität bleibt. Das Bild von Sanduhr und Zwiebel hat einen gesellschaftspolitischen Appell, und der läuft darauf hinaus, die Sanduhr zur Zwiebel zu machen, indem man die Mitte stärkt und immer weiter stärkt. Die umgekehrte Entwicklung, bei der die Zwiebel zur Sanduhr wird, gilt dagegen als Alarmzeichen: Eine vormals stabile Gesellschaft treibt auf krisenhafte Zeiten und eine Periode politischer Instabilität zu. Wenn die Erosion der Mitte konstatiert wird, ist das sozial wie politisch ein Warnzeichen, eine Aufforderung, etwas dagegen zu tun. In der Regel ist das eine Forderung derer, die von sozialem Abstieg bedroht sind, und sie bringen diese Forderung vor, indem sie nicht mehr die Parteien der Mitte wählen, sondern der Wahl fernbleiben oder ihre Stimmen Parteien der politischen Extreme geben. Die Erosion der sozialen Mitte geht mit der Erosion der politischen Mitte Hand in Hand.

Politisches Auseinanderdriften

Die Deutschen haben derlei am Ende der Weimarer Republik schon einmal erlebt; jedenfalls gilt in der kollektiven Erinnerung das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg Hitlers als die Folge eines Zerfalls der Mitte, des sozialen Abstiegs von großen Teilen der Mittelschicht infolge der furchtbaren Wirtschaftskrise und des Erstarkens der Parteien auf den politischen Extremen. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wurde dagegen mit der stabilen sozialen und politischen Mitte verbunden. Die Versicherung, dass Bonn nicht Weimar sei, wurde regelmäßig mit dem Verweis auf die starke soziale und politische Mitte in Westdeutschland verbunden. Sie war gleichsam die Versicherung dagegen, dass sich noch einmal so etwas wie der Aufstieg Hitlers wiederholen oder ein linksautoritäres Regime wie die DDR entstehen würde.

Die Anzeichen dafür, dass es in Deutschland inzwischen zu einer Erosion der Mitte kommt, sind nicht dramatisch, aber doch auch nicht zu übersehen. Und entgegen der üblichen Reihenfolge, bei der die soziale Krise dem politischen Auseinanderdriften vorangeht, sieht es dieses Mal so aus, als würde das Wachstum der politischen Gegensätze dem sozialen Zerfall der gesellschaftlichen Mitte vorangehen. Das beginnt bei der sinkenden Wahlbeteiligung und endet bei Wutbürgern und der politischen PEGIDA-Bewegung. Früher hat man die in den USA notorisch niedrige Wahlbeteiligung damit erklärt, dass Leute, die alles gut finden, keinen Anlass sähen, zur Wahl zu gehen, um etwas zu ändern. Abgesehen davon, dass sich die Triftigkeit dieses Arguments auch für die USA bezweifeln lässt, trifft derlei für die Entwicklung des Wahlverhaltens in Deutschland bestimmt nicht zu. Es sind Resignation und die fehlende Erwartung, dass man durch politische Partizipation an der eigenen Lage etwas verbessern könne, die hier ausschlaggebend sind – und wenn der Anteil derer, die so denken, tendenziell die Hälfte der Gesellschaft umfasst, ist das ein deutliches Warnzeichen. Es zeigt nämlich, dass die große Gruppe der „Abgehängten“ nicht mehr davon ausgeht, aus eigener Anstrengung, auch einer Anstrengung politischer Art, wieder Anschluss an die Mitte finden zu können. Für diese Resignierten oder Fatalisierten ist die Aussicht, zur Mitte gehören zu können – und wenn nicht selbst, so doch über die Kinder –, nicht mehr vorhanden. Diese Aussicht war eine Stärke der alten Bundesrepublik, für die, jedenfalls bei Bundestagswahlen, Wahlbeteiligungen um die neunzig Prozent typisch waren. Das ist definitiv vorbei.

Andere Indikatoren für die Erosion der Mitte sind die „Wutbürger“ von Stuttgart, die sich gegen den Bau eines neuen Bahnhofs und die dabei ihre Wohnqualität beeinträchtigenden Baumaßnahmen zur Wehr setzten, und die Dresdener PEGIDA-Bewegung, die gegen Ausländer und Asylsuchende mobil machte. In Stuttgart war es die obere Mitte, die ihre Interessen durch eine technokratisch agierende Politik nicht hinreichend beachtet ansah, und in Dresden war es die untere Mitte, die ihrem egoistischen und xenophoben Ressentiments freien Lauf ließ. Zugegeben: Beides war an örtliche Konstellationen gebunden, und lässt sich kaum auf die gesamte Republik ausdehnen – in Stuttgart an den Neubau eines unterirdischen Bahnhofs, in Dresden an den mit den Bombenangriffen vom Februar 1945 verbundenen Opfermythos, der die Voraussetzung dafür war, dass sonst auf den politisch rechten Rand beschränkte Auffassungen in die Mitte der Gesellschaft vordringen konnten. Beides sind jedoch Hinweise, dass sich die Mitte in ihrem herkömmlichen Selbstverständnis und ihrem Wertebewusstsein in Auflösung befindet. Angst und Bedrohtheitsempfindungen haben in sie Einzug gehalten, und beides gehört per definitionem gerade nicht zu den Charakteristika der Mitte.

Wandel der Sozialstrukturen

Seit jeher hat sich mit der Vorstellung der Mitte das Empfinden der Langeweile verbunden. Weder die politische noch die soziale Mitte ist hip. Die sie charakterisierende Gleichförmigkeit ist das Gegenteil dessen, was eine auf Skandale und Sensationen versessene Unterhaltungsgesellschaft sucht. Dabei gehören die, die auf solche Unterhaltung aus sind, häufig selbst dieser Mitte an; sie langweilen sich an sich selbst. Das ist das Problem der Mitte, weswegen einige aus der Mitte ausbrechen und die Position des Außen suchen: in Gestalt politischer Radikalisierung oder als Bohemiens und Abenteurer. Letzteres ist ein ethisch-ästhetischer Protest gegen die Mitte als Lebensform. Er bleibt individuell und will die Mitte keineswegs zum Verschwinden bringen, im Gegenteil: Er braucht sie als Objekt seiner Verachtung. Die auf die politischen Extreme Gewanderten dagegen wollen die Mitte zerstören, denn sie steht ihren politischen Zielen – gleich, ob rechts oder links etikettiert – im Wege. In ihrem Hass auf die Mitte sind sich die Extremisten beider Seiten über alle Gegensätze hinweg gleich. Die Verächter wie die Feinde der Mitte entstammen jedenfalls in ihrer überwiegenden Mehrheit eben dieser Mitte.

Aber was in deren Falle eine freiwillige Entscheidung ist, hinfort nämlich nicht länger dieser als behäbig und selbstgefällig charakterisierten Mitte angehören zu wollen, ist im Fall der Erosion der Mitte ein Schicksal, ein Prozess sozialer Veränderung, der viele überwiegend der unteren Mitte Zugehörenden erfasst und wie ein Strudel nach unten zieht. Ursächlich dafür sind die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die Auflösung der klassischen Familie mit dem deutlichen Anstieg der Zahl alleinerziehender Mütter. Der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung zeigt, dass diese beiden Veränderungen, die der Arbeitswelt und die der Familienstruktur, die beiden Hauptursachen für die Erosion der Mitte sind. Das wirft, wenn man die Blickrichtung umkehrt, noch einmal ein Schlaglicht auf das, was die gesellschaftliche Mitte in ihrer klassischen Form zusätzlich zu sozialer Sicherheit und Distanz gegenüber den politischen Extremen ausmacht: ein hohes Maß an Sozialdisziplin und eine konventionelle Lebensführung sowie der Verzicht darauf, spontanen Einfällen zu folgen, also die bereitwillige Einfügung in ein enges Korsett der Lebensführung. In der Erosion der Mitte kommen zwei Prozesse zusammen: dass viele sich dieses Korsett nicht mehr anlegen lassen wollen und dass auch nicht mehr genügend solcher Korsetts zur Verfügung stehen. 

Herfried Münkler
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).

© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de