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Putins postimperialer Phantomschmerz

Titelthema - Putins postimperialer Phantomschmerz
Jaworiw 14.03., Straßensperre mit Checkpoint im Zentrum des Ortes Jaworiw. Die Stimmung ist angespannt und gereizt am Tag nach dem Luftangriff auf ein Militärlager, das von russischen Raketen zerstört wurde und bei dem mindestens 35 Menschen ums Leben kamen. Nur wenige Händler bauten ihre Stände auf dem Markt auf. © Florian Bachmeier fürs Rotary Magazin

Der Mann im Kreml sucht die Zukunft in der Vergangenheit. Die triste Gegenwart muss dafür endlich ein Ende haben.

Herfried Münkler01.04.2022

Nach 1989/91, dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion, glaubten viele, die Epoche der Imperien, der multinationalen Großreiche, sei vorüber. Das war genauso voreilig wie Francis Fukuyamas damalige Behauptung vom Ende der Geschichte. Die Jahre 1989/91 haben sich, wenn wir heute zurückschauen, keineswegs als die weltgeschichtliche Zäsur erwiesen, für die viele sie gehalten haben. Das zeigt sich nicht nur darin, dass der weltweite Siegeszug der Demokratie nicht stattgefunden hat und es inzwischen wieder mehr autokratisch als demokratisch regierte Staaten gibt. Es zeigt sich auch in der Rückkehr der Imperien als Orientierungsmodell der politischen Ordnung. Der Nationalstaat ist das eine, das Nationen übergreifende Großreich das andere, und dazwischen gibt es eine Reihe von Mischungen aus beidem.

Genau betrachtet sind die Imperien freilich nie verschwunden: Die USA blieben unbeschadet des Endes der Ost-West-Konfrontation ein Imperium mit Einflusszonen und dem Anspruch auf globale Dominanz, und China, das den Zusammenbruch des internationalen Sozialismus nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens überstanden hatte, verwandelte sich immer mehr aus einem Selbstversorgungsstaat in ein Imperium. Bei China handelte es sich um die Wiederkehr eines Imperiums, denn das ist das „Reich der Mitte“ bis ins 19. Jahrhundert hinein gewesen. China bediente und bedient sich repressiver Methoden im Umgang mit Tibetern und Uiguren, aber vor allem setzt es beim Aufbau weltpolitischer Vorherrschaft unter der Überschrift der neuen Seidenstraßen auf wirtschaftliche und finanzielle Macht: von Südost- und Zentralasien bis nach Afrika und Europa. Inzwischen spricht Staats prä si dent Xi Jinping ganz offen davon, bis zur Mitte des Jahrhunderts die geopolitische Führungsposition für China erlangen zu wollen.

Obamas Provokation

Im Unterschied dazu spielte das als Schrumpfform von der Sowjetunion übrig gebliebene Russland global zunächst keine Rolle. Es war in den 1990er Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigt, als seine Versuche, eine moderne Wirtschaft und stabile Demokratie aufzubauen, allesamt im Sande verliefen. Die russischen Eliten, die sich die Konkursmasse der einstigen Sowjetunion angeeignet hatten, schwankten zwischen exzessivem Konsum, den sie vor allem im Westen genossen, und melancholischer Nostalgie. Die Politik wiederum war bestrebt, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen selbstständigen Staaten zusammenzuhalten und erfand dafür die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS). Die aber hat nie eine belastbare institutionelle Gestalt angenommen. Russland, so der im Westen vorherrschende Eindruck, war auf dem absteigenden Ast. US-Präsident Obamas Bemerkung, Russland sei nur noch eine Territorialmacht, fasste diese Wahrnehmung zusammen.

Russlands überdehnte Kräfte

Man hat Putins Äußerung, der Zerfall der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Westen sehr wohl registriert, aber der vorherrschenden Gestimmtheit gemäß hat man sie eher in der Rubrik „politische Nostalgie“ verbucht und nicht als das begriffen, was sie tatsächlich war: eine Selbstaufforderung zur Erneuerung der einstigen russischen Macht, zur Wiederherstellung des Imperiums. Tatsächlich hat Russland auch in der Phase seines wirtschaftlichen Niedergangs nie eine nachhaltige Reduktion seiner Atomwaffen ins Auge gefasst, auch wenn es im Gleichschritt mit den USA seine Nuklearpotenziale und Trägersysteme gegenüber den Größenordnungen des Kalten Krieges zunächst reduzierte. Doch dabei war es durchweg darauf bedacht, das Gleichgewicht mit den USA zu halten, auch wenn es bei allen anderen Parametern weit zurücklag. Die russischen Atomwaffen standen für die Aufrechterhaltung des Anspruchs, eine Weltmacht und mit den USA auf gleicher Höhe zu sein. Die Atomwaffen waren der Angelpunkt des russischen Projekts, erneut ein Imperium zu werden.

Im Allgemeinen sind Imperien dadurch definiert, dass sie in etwa gleichgewichtig über wirtschaftliche und kulturelle beziehungsweise ideologische, militärische und politische Macht verfügen. Wo das nicht der Fall ist, liegt die Vermutung nahe, dass wir es mit einem prekären Imperium zu tun haben, einem, das sich im Aufstieg oder im Abstieg befindet und aufgrund seines unausgeglichenen Machtsortenportfolios einen Typus von Macht exzessiv einsetzen muss, dass es sich also um ein Imperium im Zustand der Überdehnung seiner Kräfte handelt. Im Falle Russlands geht es um den Gebrauch militärischer Macht. Die kulturelle und ideologische Attraktivität Russlands ist, sieht man einmal von den russischen Musikern in aller Welt ab, eher gering; die wirtschaftliche Macht beschränkt sich vor allem auf den Export von Rohstoffen, und auch als Bündnispartner, also bei der politischen Macht, ist Russland wenig attraktiv – außer für strauchelnde oder angeschlagene Diktatoren wie Assad und Maduro. Also war und ist die Hauptressource bei dem Projekt einer Erneuerung des Imperiums die militärische Macht. Das zeigte sich bereits in den beiden Tschetschenienkriegen, sodann im Georgienkrieg von 2006, danach bei der Annexion der Krim und der Unterstützung von Separatisten im Donbass im Jahre 2014, seit 2015 im Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg, schließlich in der Präsenz der Söldnertruppe Wagner in den Kriegen Nordafrikas und jetzt im Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Sehnsucht nach der großen Vergangenheit

Aber was hat Putin und die ihm ergebenen Eliten veranlasst, das Projekt einer Wiederherstellung des Imperiums zu verfolgen, anstatt sich um das Wohlergehen der russischen Bürger zu kümmern, also das Wohlstandsniveau anzuheben und sich als friedensliebender Staat in eine regelbasierte und auf Werte gestützte Weltordnung einzufügen? In der Vergangenheit wurden drei mögliche Erklärungen genannt: Putin und seine Paladine fühlten sich durch eine nach Osten vorgerückte Nato bedroht; Putin befürchtete, dass auch auf dem Roten Platz in Moskau eine Farbenrevolution, wie in Tiflis und Kiew, stattfinden werde, und bekämpfte deswegen die Demokratie in postsowjetischen Staaten als mögliches Vorbild für Russland; und schließlich: Putin hing dem Traum von der Wiederherstellung einstiger Größe an und setzte alles daran, Russland wieder zum Imperium zu machen. Inzwischen haben die ersten beiden Hypothesen an Erklärungskraft verloren, und die dritte ist zur Haupterklärung für Putins Krieg gegen die Ukraine geworden.

Das erklärt indes nicht, warum Putin sich für die Wiederherstellung des Imperiums und gegen eine Politik der Wohlstandsmehrung entschieden hat. Und auch der immer wieder angeführte Einfluss des sogenannten Philosophen Alexander Dugin, der Russland die Rolle eines Weltretters angesichts westlicher Dekadenz zuschreibt, kann das nicht, denn dann muss man zunächst erklären, warum Putin und andere sich überhaupt mit den kruden Theorien Dugins beschäftigt haben. Eine sehr viel größere Bedeutung dürfte hingegen der „imperiale Phantomschmerz“ gehabt haben, die regelmäßig wiederkehrende Erinnerung, dass jetzt selbstständige Staaten früher zu Russland gehört haben, dass man sie verloren hat und man sie, weil der Verlust schmerzt, gerne wiederhätte.

Solch imperialer Phantomschmerz ist keine russische Spezialität, sondern lässt sich in der Geschichte und auch in jüngster Zeit immer wieder antreffen, teils als melancholische Erinnerung, teils aber auch als Antriebselement einer ausgreifend-aggressiven Politik. So lässt sich etwa auch der britische Austritt aus der EU als imperialer Phantomschmerz charakterisieren, bei dem die Erinnerung an das einstige Weltreich dazu geführt hat, dass man die Vorgaben aus Brüssel für unerträglich hielt. Aber der Brexit war und ist wesentlich Nostalgie. Zum postimperialen Phantomschmerz gehört ebenfalls die von Erdoğan seit einiger Zeit verfolgte neo-osmanische Politik, die der Schaffung von Einflussgebieten in Räumen gilt, die vor 1918 einmal zum Osmanischen Reich gehört haben. Aber auch Deutschland ist früher immer wieder von solchen, freilich in nationalistischem Gewand daherkommenden Phantomschmerzen getrieben worden, von Elsass-Lothringen bis zum Sudetenland im 19. und 20. Jahrhundert, bis schließlich zum Eroberungskrieg Hitlers als Höhepunkt. Es sind zumeist Geschichtserzählungen, die historische Erinnerungen mobilisieren, mit denen der Phantomschmerz dann akut wird. Putins Erzählung von der Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland war zweifellos ein Antriebsmoment seines Angriffskrieges.

Europa ging einen anderen Weg

Die Westeuropäer sind seit den 1950er Jahren bewusst einen anderen Weg gegangen: Man kann das Europaprojekt von der EWG über die EG zur EU als eine Therapie gegen die Virulenz von Phantomschmerzen imperialen oder nationalistischen Typs begreifen. Die Befreiung von solchen Phantomschmerzen ist die Voraussetzung für die Herstellung eines Raumes von Frieden und Wohlstand, wie sich die EU ja selbst beschreibt. Das mag manchem bis vor Kurzem als eine abgedroschene Formel vorgekommen sein. Putins Eroberungskrieg zeigt, dass es ein großes politisches Projekt und keineswegs eine bloße Formel ist. Hinter ihr steht die Vorstellung, die jetzt Lebenden vom Albtraum historischer Erinnerung zu befreien, der fast immer auf den Verlust der Gegenwart zugunsten einer zum Imperativ geronnenen Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft hinausläuft. Wo diese Verknüpfung dominiert, wird der Phantomschmerz dann zum realen Schmerz – siehe Ukraine.

Herfried Münkler
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).

© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de