100 Jahre Erster Weltkrieg
Lernen im Krieg, lernen aus dem Krieg
Herfried Münkler über den Ersten Weltkrieg als Schlüsselereignis der deutschen Geschichte
Vieles spricht dafür, dass die Mittelmächte, also das Deutsche Reich und die Donaumonarchie, den Ersten Weltkrieg nur deshalb mehr als vier Jahre gegen die Übermacht der Entente durchgehalten haben, weil sie, zumal die Deutschen, schneller und effektiver gelernt haben als ihre Kontrahenten. Noch heute werden an den amerikanischen Militärakademien in Westpoint und Annapolis Dissertationen geschrieben, in denen das forcierte taktische Lernen der deutschen Offiziere im Weltkrieg analysiert – und bewundert wird: Von der tiefen beweglichen Verteidigung über die Infiltrationstaktik der Stoßtrupps bis zum Einsatz von Artillerie ohne vorheriges Einschießen haben die Deutschen Methoden entwickelt, mit denen sie die Überlegenheit der Gegenseite – der Russen an Menschen, der Franzosen und insbesondere der Briten an Material – ein ums andere Mal auszugleichen vermochten.
Dabei lief das Paradox des Krieges gerade für die deutsche Seite darauf hinaus, dass sie militärisch erfolgreich sein musste, um die an Ressourcen überlegene Gegenseite überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die Entente konnte nämlich darauf vertrauen, dass ihr der Sieg nach einem langen Erschöpfungskrieg zwangsläufig zufallen werde. Dieses Paradox der Politik haben in Deutschland nur wenige aufzulösen vermocht, der Soziologe Max Weber etwa oder der Historiker Hans Delbrück; die meisten jedoch glaubten, dass sich militärische Siege unmittelbar in politische Dominanz überführen ließen.
Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass auch Reichskanzler v. Bethmann Hollweg dieses Paradox begriffen hatte, aber er fand keinen Ausweg, es aufzulösen. Die Lösung auf die er schließlich setzte – nämlich die Ernennung Hindenburgs zum Generalstabschef, weil er glaubte, diese Siegesikone könne den Deutschen einen Verhandlungsfrieden schmackhaft machen – erwies sich als verhängnisvolle Illusion: Hindenburg wurde zum Repräsentanten des Siegfriedens, des „Hindenburgfriedens“, wie die nationale Rechte ihn nannte.
Umso größer war das Entsetzen, als im Sommer 1918 klar wurde, dass das Deutsche Reich den Krieg verlieren würde, und das im Herbst dieses Jahres von der Heeresleitung eingestanden wurde. Eine der Folgen davon war die Flucht in die Dolchstoßlegende; die Behauptung, das „im Felde unbesiegte Heer“ sei von der ihm in den Rücken gefallenen Heimat verraten worden. Die Dolchstoßlegende wurde nicht nur zum Dementi des „Augusterlebnisses“, als im Sommer 1914 angeblich alle Deutschen zu einer geschlossenen Nation geworden waren, sondern stellte auch eine weitere Form der Lernverweigerung dar: Statt die Ursachen der Niederlage kühl zu analysieren, wurden die Frauen, die Sozialisten, die Juden oder wer auch immer für die Niederlage des Heeres verantwortlich gemacht. So musste man nach dem Krieg nicht nachholen, was man während des Krieges politisch zu lernen verabsäumt hatte. Das wurde zu einer der Hypotheken, an denen später die Weimarer Republik gescheitert ist.
Aber es kam noch schlimmer, denn infolge des effektiven militärischen Lernens während des Krieges und dem späteren Empfinden, man hätte schon siegen können, wenn man von der Politik nicht im Stich gelassen worden wäre, setzten seit Mitte der 1930er Jahre viele auf einen neuen Versuch, mit militärischen Mitteln Deutschland doch noch zur beherrschenden Macht Europas zu machen. Es waren die Ober- bis Oberstleutnants des Ersten Weltkriegs, die Hitlers Generäle stellten, ohne den dieser den Zweiten Weltkrieg nicht hätte führen können. Wobei die Generalität sich den Verlauf dieses zweiten Krieges in Europa ganz anders vorgestellt hatte, nämlich als Abfolge kleinerer Revisionskriege, die voneinander getrennt waren, so dass die taktische Überlegenheit der deutschen Truppen jedesmal den Ausschlag geben würde. Die Garantie dafür war der Hitler-Stalin-Pakt, der verhindert sollte, dass man erneut in einen Zwei-Frontenkrieg hineingeriet. Die deutsche Seite hatte die geopolitische Herausforderung ihrer Mittellage immer noch nicht erfasst.
Natürlich ist die Mittellage von 2014 nicht identisch mit der von 1914: Letztere war wesentlich geostrategischer Art, und die damals wichtigste Machtsorte war das Militärische. Heute spielt das Militärische nur noch eine untergeordnete Rolle, und an seine Stelle ist längst die ökonomische Macht getreten. Dennoch lässt sich aus einem Vergleich der durch ein Jahrhundert getrennten Mittellage einiges lernen, was für die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen von Bedeutung ist.
Die Macht in der geographischen Mitte eines politischen Raumes trägt eine gesteigerte Verantwortung. Diese drückt sich unter anderem darin aus, dass Fehler, die von ihr gemacht werden, sehr viel folgenreicher sind, als das bei Akteuren an der Peripherie dieses Raumes der Fall ist. Das zeigte sich 1914, als die Fehler und Fehleinschätzungen der deutschen Politik voneinander getrennte Konflikte in Europa miteinander verbanden und so dazu führten, dass ein zunächst lokaler bzw. lokalisierbarer Konflikt zum Auslöser des großen Krieges wurde. Es obliegt der Macht in der Mitte, der Zentralmacht, Problemfelder und Konfliktherde, die ohne ihr Zutun entstanden sind, voneinander getrennt zu halten und so dafür zu sorgen, dass sie bearbeitbar und lösbar bleiben. Das ist der deutschen Politik 1914 nicht gelungen – im Gegenteil: Von Einkreisungsängsten getrieben hat sie letzten Endes dafür gesorgt, dass der Konflikt zwischen Belgrad und Wien unbeherrschbar wurde. Freilich muss man auch sagen, dass es die Nachbarn den Deutschen nicht leicht gemacht haben, ihrer Mitte-Verantwortung nachzukommen und eine Politik der Besonnenheit zu betreiben. Die Vorstellung von der Einkreisung war keineswegs bloß obsessiv, sondern hatte eine sehr reale Grundlage in den Bündnisstrukturen der Entente.
Das wichtigste Instrument der Europäer gegen eine neuerliche Eskalation des Misstrauens sind die institutionellen Verbindungen, die seitdem geschaffen wurden, von der NATO über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bis zur Europäischen Union. Sie sorgen für Berechenbarkeit der Akteure und bilden Vertrauen. Das ist angesichts der Konfliktfelder an der europäischen Peripherie nach wie vor nötig. Wie vor 1914 ist seit den jugoslawischen Zerfallskriegen in den 1990er Jahren der Balkan der wichtigste Krisenherd innerhalb Europas. Für Jahrzehnte noch werden vor allem die Westeuropäer in die Stabilität dieser Region investieren müssen. Das gilt ebenso für die Krisenherde an der europäischen Peripherie, von der Ukraine über den Kaukasus und den Nahen Osten bis in den Maghreb. Die europäische Politik muss darauf achten, dass Konflikte, die hier immer wieder aufflammen, lokalisiert bleiben. 1914 hat man die Konfliktdynamik des Balkans zunächst unterschätzt und dann geglaubt, man könne aus ihr kurzfristige Vorteile schlagen. Das ist Europa zum Verhängnis geworden.
Und Deutschland, die Macht in der Mitte? Sie muss in besonderer Weise darauf achten, dass Europa zusammenbleibt und nicht in zwei oder mehr Parteien bzw. Blöcke zerfällt. Die Spaltung in einen Süd- und einen Nord-Euro wäre ein solcher Zerfall.
Genaueres zum Thema erfahren Sie im Buch des Autors dieses Artikels:
Titel: Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918
Autor: Herfried Münkler
Verlag: Rowohlt 2013
ISBN: 3-644-11601-6
Preis: 25,99 €
Kurze Inhaltsangabe: Herfried Münkler zeigt in seiner Gesamtdarstellung, wie der Erste Weltkrieg das Ende der Imperien besiegelte, wie er Revolutionen auslöste, aber auch den Aufstieg des Sozialstaats und Nationalismen förderte.
Das Paradox des Krieges
In militärischer Hinsicht war das eine bemerkenswerte Leistung; politisch betrachtet war es hingegen ein Verhängnis, und das erklärt vielleicht auch, warum die Deutschen heute von diesen militärischen Leistungen nichts mehr wissen wollen und sie entschieden verdrängt und vergessen haben. Die Erfolge beim militärischen Lernen haben nämlich dazu geführt, dass sich die Deutschen vom Erfordernis politischen Lernens freigestellt fühlten. Aus der Sicht der Späteren steht fest, dass sie zwischen 1914 und 1918 zwar viel, aber im Wesentlichen das Falsche gelernt haben. Weil sie bis zum späten Frühjahr 1918 in militärtaktischer Hinsicht immer wieder Überlegenheit herstellen konnten, hatten viele geglaubt, sie könnten sich politisch alles leisten, vor allem einen „Siegfrieden“, und müssten sich nicht auf einen Verhandlungsfrieden einlassen, einen „Verzichtfrieden“, wie es denunziatorisch hieß.Dabei lief das Paradox des Krieges gerade für die deutsche Seite darauf hinaus, dass sie militärisch erfolgreich sein musste, um die an Ressourcen überlegene Gegenseite überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die Entente konnte nämlich darauf vertrauen, dass ihr der Sieg nach einem langen Erschöpfungskrieg zwangsläufig zufallen werde. Dieses Paradox der Politik haben in Deutschland nur wenige aufzulösen vermocht, der Soziologe Max Weber etwa oder der Historiker Hans Delbrück; die meisten jedoch glaubten, dass sich militärische Siege unmittelbar in politische Dominanz überführen ließen.
Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass auch Reichskanzler v. Bethmann Hollweg dieses Paradox begriffen hatte, aber er fand keinen Ausweg, es aufzulösen. Die Lösung auf die er schließlich setzte – nämlich die Ernennung Hindenburgs zum Generalstabschef, weil er glaubte, diese Siegesikone könne den Deutschen einen Verhandlungsfrieden schmackhaft machen – erwies sich als verhängnisvolle Illusion: Hindenburg wurde zum Repräsentanten des Siegfriedens, des „Hindenburgfriedens“, wie die nationale Rechte ihn nannte.
Umso größer war das Entsetzen, als im Sommer 1918 klar wurde, dass das Deutsche Reich den Krieg verlieren würde, und das im Herbst dieses Jahres von der Heeresleitung eingestanden wurde. Eine der Folgen davon war die Flucht in die Dolchstoßlegende; die Behauptung, das „im Felde unbesiegte Heer“ sei von der ihm in den Rücken gefallenen Heimat verraten worden. Die Dolchstoßlegende wurde nicht nur zum Dementi des „Augusterlebnisses“, als im Sommer 1914 angeblich alle Deutschen zu einer geschlossenen Nation geworden waren, sondern stellte auch eine weitere Form der Lernverweigerung dar: Statt die Ursachen der Niederlage kühl zu analysieren, wurden die Frauen, die Sozialisten, die Juden oder wer auch immer für die Niederlage des Heeres verantwortlich gemacht. So musste man nach dem Krieg nicht nachholen, was man während des Krieges politisch zu lernen verabsäumt hatte. Das wurde zu einer der Hypotheken, an denen später die Weimarer Republik gescheitert ist.
Aber es kam noch schlimmer, denn infolge des effektiven militärischen Lernens während des Krieges und dem späteren Empfinden, man hätte schon siegen können, wenn man von der Politik nicht im Stich gelassen worden wäre, setzten seit Mitte der 1930er Jahre viele auf einen neuen Versuch, mit militärischen Mitteln Deutschland doch noch zur beherrschenden Macht Europas zu machen. Es waren die Ober- bis Oberstleutnants des Ersten Weltkriegs, die Hitlers Generäle stellten, ohne den dieser den Zweiten Weltkrieg nicht hätte führen können. Wobei die Generalität sich den Verlauf dieses zweiten Krieges in Europa ganz anders vorgestellt hatte, nämlich als Abfolge kleinerer Revisionskriege, die voneinander getrennt waren, so dass die taktische Überlegenheit der deutschen Truppen jedesmal den Ausschlag geben würde. Die Garantie dafür war der Hitler-Stalin-Pakt, der verhindert sollte, dass man erneut in einen Zwei-Frontenkrieg hineingeriet. Die deutsche Seite hatte die geopolitische Herausforderung ihrer Mittellage immer noch nicht erfasst.
Herausforderungen der Mittellage
Militärisches Lernen und geopolitisches Denken ist in Deutschland seitdem in Verruf geraten. Das ist verständlich. Es könnte freilich sein, dass im Hinblick auf die Geopolitik die Deutschen erneut das Falsche gelernt haben, bzw. ihr Lernen zu falschen Ergebnissen geführt hat. Denn trotz zweier verlorener Kriege, der geographischen Schrumpfung Deutschlands und einer mehr als vierzig Jahre währenden politischen Teilung sind die Deutschen heute wieder in der Mitte Europas angekommen, und aufgrund ihres ökonomischen Gewichts können sie sich den damit verbundenen Herausforderungen nicht verweigern.Natürlich ist die Mittellage von 2014 nicht identisch mit der von 1914: Letztere war wesentlich geostrategischer Art, und die damals wichtigste Machtsorte war das Militärische. Heute spielt das Militärische nur noch eine untergeordnete Rolle, und an seine Stelle ist längst die ökonomische Macht getreten. Dennoch lässt sich aus einem Vergleich der durch ein Jahrhundert getrennten Mittellage einiges lernen, was für die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen von Bedeutung ist.
Die Macht in der geographischen Mitte eines politischen Raumes trägt eine gesteigerte Verantwortung. Diese drückt sich unter anderem darin aus, dass Fehler, die von ihr gemacht werden, sehr viel folgenreicher sind, als das bei Akteuren an der Peripherie dieses Raumes der Fall ist. Das zeigte sich 1914, als die Fehler und Fehleinschätzungen der deutschen Politik voneinander getrennte Konflikte in Europa miteinander verbanden und so dazu führten, dass ein zunächst lokaler bzw. lokalisierbarer Konflikt zum Auslöser des großen Krieges wurde. Es obliegt der Macht in der Mitte, der Zentralmacht, Problemfelder und Konfliktherde, die ohne ihr Zutun entstanden sind, voneinander getrennt zu halten und so dafür zu sorgen, dass sie bearbeitbar und lösbar bleiben. Das ist der deutschen Politik 1914 nicht gelungen – im Gegenteil: Von Einkreisungsängsten getrieben hat sie letzten Endes dafür gesorgt, dass der Konflikt zwischen Belgrad und Wien unbeherrschbar wurde. Freilich muss man auch sagen, dass es die Nachbarn den Deutschen nicht leicht gemacht haben, ihrer Mitte-Verantwortung nachzukommen und eine Politik der Besonnenheit zu betreiben. Die Vorstellung von der Einkreisung war keineswegs bloß obsessiv, sondern hatte eine sehr reale Grundlage in den Bündnisstrukturen der Entente.
Das wichtigste Instrument der Europäer gegen eine neuerliche Eskalation des Misstrauens sind die institutionellen Verbindungen, die seitdem geschaffen wurden, von der NATO über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bis zur Europäischen Union. Sie sorgen für Berechenbarkeit der Akteure und bilden Vertrauen. Das ist angesichts der Konfliktfelder an der europäischen Peripherie nach wie vor nötig. Wie vor 1914 ist seit den jugoslawischen Zerfallskriegen in den 1990er Jahren der Balkan der wichtigste Krisenherd innerhalb Europas. Für Jahrzehnte noch werden vor allem die Westeuropäer in die Stabilität dieser Region investieren müssen. Das gilt ebenso für die Krisenherde an der europäischen Peripherie, von der Ukraine über den Kaukasus und den Nahen Osten bis in den Maghreb. Die europäische Politik muss darauf achten, dass Konflikte, die hier immer wieder aufflammen, lokalisiert bleiben. 1914 hat man die Konfliktdynamik des Balkans zunächst unterschätzt und dann geglaubt, man könne aus ihr kurzfristige Vorteile schlagen. Das ist Europa zum Verhängnis geworden.
Und Deutschland, die Macht in der Mitte? Sie muss in besonderer Weise darauf achten, dass Europa zusammenbleibt und nicht in zwei oder mehr Parteien bzw. Blöcke zerfällt. Die Spaltung in einen Süd- und einen Nord-Euro wäre ein solcher Zerfall.
Genaueres zum Thema erfahren Sie im Buch des Autors dieses Artikels:
Titel: Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918
Autor: Herfried Münkler
Verlag: Rowohlt 2013
ISBN: 3-644-11601-6
Preis: 25,99 €
Kurze Inhaltsangabe: Herfried Münkler zeigt in seiner Gesamtdarstellung, wie der Erste Weltkrieg das Ende der Imperien besiegelte, wie er Revolutionen auslöste, aber auch den Aufstieg des Sozialstaats und Nationalismen förderte.
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).
© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de
© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de
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