Titelthema
"Ja, aber ..."

Die Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit setzte in Österreich nicht nur später ein, sie war auch weniger intensiv als in Deutschland.
Das Leben der Völker kennt keine Tabula rasa. Es gibt deshalb auch keine Stunde null, von der in diesen Tagen des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor 80 Jahren so häufig die Rede ist. In der ganzen Geschichte der Bundesrepublik hat die Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ bis in unsere Gegenwart eine wesentliche Rolle gespielt, und auch die Republik Österreich tut sich auf ihre Weise schwer mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit, die das Land seit 1938 nach dem Anschluss unter dem Dach des Deutschen Reiches verbracht hat. Die Bedingungen, unter denen Erinnerung und Versöhnung in beiden Ländern nach 1945 erfolgt sind, sind gleichwohl sehr unterschiedlich. Schon in der Moskauer Erklärung von 1943 haben die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion durch ihre Außenminister erklären lassen, „dass Österreich das erste freie Land (gewesen sei), das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, (und das) von deutscher Herrschaft befreit werden soll“. Der Umstand, dass der demokratische Neuanfang 1945 von Anfang an mit dem Testat verbunden war, erstes Opfer Hitlers gewesen zu sein, half. Sowohl die bereits erwähnte Moskauer Erklärung als auch die Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs vom 27. April 1945 dienten der Selbstvergewisserung und sorgten dafür, dass bestimmte kritische Fragen gar nicht erst aufkamen, denn „angesichts der Tatsache, daß der Anschluß des Jahres 1938 […] durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist“, so die Proklamation vom 27. April, konnte das Gewissen beruhigt bleiben.
Ausgeprägte Neigung zum Konsens

Österreichs Randlage und ein geschicktes Agieren der Gründungsväter der Zweiten Republik – allen voran die diplomatische Finesse Leopold Figls und Karl Grubers – trugen dazu bei, dass sich die strategische Lage Österreichs binnen weniger Jahre deutlich verbessern konnte. Zunächst waren die Jahre der Besatzungszeit bis 1955 mit demütigenden und zeitraubenden Erfahrungen der Grenzkontrollen – etwa bei Zugreisen von einem Sektor in den anderen – verbunden, doch bald schon gelang es, insbesondere den sowjetischen Einfluss zurückzudrängen. Die in der offiziellen Sichtweise dennoch immer wieder gerne bemühte These von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus war dabei zunächst vielfach taktisches Kalkül, wurde dann aber mehr und mehr zum parteiübergreifenden Glaubenssatz, den auch Otto von Habsburg noch im Jahr 2008 unwidersprochen in öffentlichem Vortrag auf Einladung der ÖVP wiederholen konnte.
Zwischen Befreiung und Freiheit, so lautete einst der Rückblick des damaligen österreichischen Außenministers Karl Gruber und fasste die geistige Situation der Zeit treffend zusammen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit war, dass sie alle politischen Kräfte einschloss. Das vom Staatskanzler Renner gebildete Kabinett vom 26. April 1945 der „provisorischen Regierung“ umfasste Vertreter „aller antifaschistischen Parteien; in den Konzentrationslagern waren die Gegensätze zwischen Konservativen und Sozialisten, Kommunisten und Legitimisten geschwunden“. „Lagerstraße“ lautete der Begriff, der über lange Zeit das Miteinander in der österreichischen Politik bestimmte und auf die Verfolgung der Demokraten in der NS-Zeit rekurrierte.
Viele aus der österreichischen politischen Klasse der unmittelbaren Nachkriegszeit kannten sich aus der leidvollen Erfahrung der gemeinsamen KZ-Haft. Nach dem Krieg ging es zunächst um die ganz alltägliche Aufgabe, das Leben zu organisieren und das Überleben nach dem Ende des NS-Regimes zu ermöglichen. Das Land war in Besatzungszonen geteilt, die völkerrechtliche Lage unklar. Die berühmte Weihnachtsansprache 1945 von Bundeskanzler Leopold Figl – „Ich kann euch keine Gaben für Weihnachten geben, kein Stück Brot, keine Kohlen zum Heizen … ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!“ – hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass das Bekenntnis zur österreichischen Nation Platz greifen konnte. Der Blick war nach vorne gerichtet. Erst mit dem Staatsvertrag von 1955 war das Wunder vom Wiederaufbau auf einen festen Grund gestellt. Was in Deutschland bis 1994 dauern sollte, war jetzt schon erreicht. Der Abzug der Besatzungstruppen konnte nun auch ohne einen Friedensvertrag mit Deutschland erfolgen.
Was als Glücksfall der österreichischen Nachkriegsgeschichte gelten kann, hatte freilich seinen Preis. Vergangenheitsbewältigung überließ man den anderen, als „Opfer“ hatte dieses Thema keine Priorität. Die bis heute ausgeprägte Neigung zum Konsens, die Bereitschaft, parteienübergreifend Lösungen auf den Weg zu bringen, auch die bisweilen damit verbundenen faulen Kompromisse haben ihren Ursprung im Zeitklima des Neuanfangs. Die österreichische Nation hat sich erst definiert in der Abgrenzung zu dem, was vorher gewesen ist und was geeignet gewesen wäre, in seiner erdrückenden Übermacht alles andere zu überlagern.
Spätes Eingeständnis
Friedrich Heer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die österreichische Identität von jeher zu ständigen Auseinandersetzungen mit Kraftfeldern geführt habe, die von außen auf sie eingewirkt haben. Er attestierte Österreich „leibseelische Schwierigkeiten“, kein anderes politisches Gebilde sei so von außen gesteuert wie Österreich. Österreich war in seiner Geschichte immer wieder Belagerungen fremder Mächte und existenzbedrohlichen Entscheidungssituationen auf dem Schlachtfeld ausgesetzt gewesen: 1529 und 1689, als die Belagerung der Türken vor Wien siegreich überwunden wurde, oder auch in den Entscheidungsschlachten des Siebenjährigen Krieges. Einigung fiel immer dann besonders leicht, wenn sie gegen einen äußeren Feind zustande kam. So war die Abwehr der Ideen der Französischen Revolution auch Antrieb zur Modernisierung.
Das heutige Österreich kann mit dem Erbe der Hitlerzeit freilich viel gelassener umgehen als die Bundesrepublik. Der Nationalsozialismus ist dennoch auch heute immer präsent, und noch immer gibt es weiße Flecken auf der Landkarte der Aufarbeitung. Doch die quälenden Fragen von Schuld und Verstrickung, die die deutsche Nachkriegspolitik in ihrem Aktionsradius ganz wesentlich geprägt haben, sind in Österreich weniger ausgeprägt. Dass die nach außen gezeigte Glückseligkeit bisweilen auch durch den Preis der Amnesie erreicht wurde, steht auf einem anderen Blatt.
Die Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit setzte in Österreich nicht nur später ein, sie war auch weniger intensiv als in Deutschland. Die Waldheim-Debatte der 1980er Jahre war in ihrer Mischung aus scheinheiliger Anklage und „Jetzt erst recht“-Abwehrattitüde Beispiel dafür, dass das Wegsehen beziehungsweise die Instrumentalisierung der Vergangenheit dort besonders gut gedeihen konnte, wo eine vertiefte Befassung mit der eigenen Geschichte nicht erfolgt war. Es sollte bis 1991 dauern, bis sich Bundeskanzler Vranitzky offiziell zur Verantwortung für das von Österreichern begangene Unrecht entschuldigte. Die Beurteilung des Ständestaates ist bis heute umstritten. Die Urteile über die Vaterländische Front gehen auseinander. Dollfuß und Schuschnigg, Hitlers Gegner in Österreich, vertraten auf ihre Weise eine deutsche Politik, deren österreichisches Selbstverständnis in der Nachkriegszeit wenig Anknüpfungspunkte gefunden hat.
Abgrenzung gegenüber dem Deutschen
Nicht zuletzt ist das Verhältnis zum Nationalsozialismus in Österreich auch geprägt von Hitlers Österreichertum. Es war Hitlers Rüstungsminister und Architekt Albert Speer, der in seinem ersten Interview nach der Haftentlassung 1966 bemerkt hatte, dass Hitler österreichischen Charme versprühen konnte. Die Sentimentalität Hitlers gegenüber seiner österreichischen Heimat war bis in die letzte Phase im Bunker, als der Diktator über dem Modell des Wiederaufbaus seiner Heimatstadt Linz brütete, präsent und hat allenfalls durch Hitlers Anti-Katholizismus und seinen Hass auf das Haus Habsburg eine spezifische Note bekommen.
Das Beispiel Österreichs zeigt, wie Versöhnung durch eine gemeinsame Aufgabe beim Weg nach vorne gelingen und wie zugleich doch ein nicht immer konsequentes Hinsehen überwunden geglaubte Probleme aus der Vergangenheit wiederaufleben lassen kann. Identität, das war zunächst und vor allem auch Abgrenzung gegenüber dem Deutschen. Die Anti-Piefke-Ressentiments waren eine willkommene Möglichkeit, sich abzusetzen von den eigentlichen Verlierern des Weltkriegs. Doch zugleich verriet die häufig vernommene Antwort auf die im Ausland gestellte Frage „Sind Sie Deutsche?“ –„Ja, aber aus Österreich“ – genau jene Unsicherheit, die eigentlich überwunden werden sollte. Später gehörte dann zu den Kunstgriffen der Absetzung die von Robert Menasse auf den Punkt gebrachte Haltung: „Wenn wir im Ausland Deutsch sprechen, weisen wir darauf hin, daß wir Österreicher sind und erwarten, daß wir besser behandelt werden.“

Ulrich Schlie ist Historiker und seit 2020 Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Von 2005 bis 2012 war er Leiter Planungsstab im Bundesministerium der Verteidigung, von 2012 bis 2014 dessen Politischer Direktor.
© Volker Lannert
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