Titelthema
Große Aufgaben – damals wie heute
75 Jahre nach ihrer Gründung ist die Nordatlantische Allianz so wichtig wie nie zuvor. Doch es braucht Geschlossenheit. Sie war immer dann am stärksten, wenn Amerikaner und Europäer an einem Strang zogen.
Die Amerikaner sind die besten Europäer“, so lautet ein Bonmot des früheren Nato-Generalsekretärs und mehrfachen belgischen Ministerpräsidenten Paul-Henri Spaak in den 1960er Jahren. Der Satz schließt zwei Kernaussagen ein: Die Europäer können sich auf die Amerikaner verlassen. Und: Die Vereinigten Staaten tragen im Verteidigungsbündnis der Nordatlantischen Allianz die Hauptlast. Dies bezieht sich auf die Finanzierung des Bündnisses, seiner Gemeinschaftsaufgaben und die Bereitstellung der Streitkräftefähigkeiten – und sorgt damit für den Schutz Europas.
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Genau diese Gewissheit hat Donald Trump mit seiner jüngsten Wahlkampfandrohung infrage gestellt, Nato-Mitgliedsstaaten, die nicht ihrer Verpflichtung nachkommen, zwei Prozent des Volksvermögens für Verteidigung auszugeben, aus der Allianz-Solidarität zu entlassen. Manch einer fragt besorgt nach der Zukunft des Bündnisses.
Globalpolitische Dimension von Beginn an
Die Nato ist das erfolgreichste Bündnis der Geschichte. Die Nordatlantische Allianz verbindet Europa und Amerika. Sie verdankt ihre Entstehung der politischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wurde 1949 geschaffen, um den Westen gegen die sowjetische Bedrohung durch ein gegenseitiges System kollektiver Sicherheit zu schützen. Genauer gesagt beruhte die Sicherheit der europäischen Nato-Partner, ihre territoriale Integrität und der Erhalt ihrer freiheitlich-demokratischen Staatsform im Kalten Krieg ganz wesentlich auf der in Artikel 5 des Washingtoner Vertrags von 1949 enthaltenen gegenseitigen Beistandsverpflichtung. Die Einwilligung von Staaten, deren Interessen aufs Engste miteinander verbunden waren, in ein System kollektiver Sicherheit war zu jener Zeit etwas qualitativ Neues. Zwei Weltkriege und der Kalte Krieg haben das Bewusstsein für das Verbindende innerhalb dieses Bündnisses geschärft. Die Nordatlantische Allianz wird oft mit einem Bogen verglichen, dessen einer Pfeiler in Nordamerika und dessen anderer Pfeiler in Europa verankert sei: ein eingängiges, schönes Bild einer tragenden Konstruktion. Von einer sturmerprobten Brücke, vom transatlantischen Band ist in diesem Zusammenhang dann oft die Rede. Abgesehen davon, dass es ein ziemlich langer Bogen sein muss, der den Übergang über den Atlantik erlauben soll, stellt sich heute allerdings die Frage: Stimmt das Bild? Was bleibt, was ändert sich? Zunächst war es immer so, dass die Nordatlantische Allianz zwei sicherheitspolitisch sehr ungleiche Teile verband: ungleich mit Blick auf Erfahrung, Einheitlichkeit, politischen Willen, Status und, vor allem, militärische Fähigkeiten. Die zurückliegenden fast sieben Jahrzehnte der Nordatlantischen Allianz spiegeln diese Ungleichheiten wider, die Unterschiede in Zugang und Weltsicht, auch die unterschiedlichen Ambitionen der Amerikaner und der Europäer.
Die Nordatlantische Allianz ist seit ihren Anfängen ein Seebündnis. Ihre Begründung im Jahr 1949 erinnert daran, dass über Jahrhunderte Weltpolitik im Wesentlichen von Staaten gestaltet wurde, die an den Küsten des Atlantischen Ozeans angesiedelt waren und sind. Die Freiheit der Meere, der Kampf gegen die Piraterie und die mit einem Seebündnis einhergehende Konzentration auf den Welthandelsverkehr hat der Allianz von Anfang an eine globalpolitische Dimension verliehen, die sie zu einer Aufgeschlossenheit auch für die strategischen Entwicklungen jenseits ihres Bündnisgebietes befähigte. Auch in dieser Dimension verbindet die Allianz Nordamerika und Europa. Einige der europäischen Mitglieder, darunter Britannien, Spanien, Portugal, die Niederlande oder Italien verfügen selbst über eine lange Tradition als maritime Macht.
Die vielfältigen Aufgaben der Nato
1989 kam der Nato mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes der Gegner abhanden. Die Phase der Neuorientierung und der Suche nach einem neuen Daseinszweck dauerte nicht lange. Es war bald klar, dass es eine Friedensdividende gar nicht gab. Der Igel von einst hatte sich schnell in einen schlauen Fuchs verwandelt.
Mit den Jahren ist die Allianz größer geworden, und sie ist politischer geworden. Sie hat zunächst den Zusammenschluss der Westeuropäer flankiert und nach 1990 der Erweiterung der Europäischen Union den Rahmen vorgezeichnet. Denn für die ostmittel- und südosteuropäischen Reformstaaten führte, und führt bis heute, der Weg in die politische Union über den Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis. Mit heute 32 Mitgliedern ist die derzeitige Nato die größte Allianz, die es in der Geschichte je gab. Seit 1989 sind beinahe so viele Neumitglieder dazugekommen, wie sich in den ersten 40 Jahren des Bündnisses zusammengefunden haben. Diese Attraktivität für Nichtmitglieder ist grosso modo bis heute ungebrochen. Die Tür bleibt offen, jedes Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs bekräftigt diese Formel.
Es versteht sich, dass mit jeder Erweiterung das Bündnis auch ein Stück weit seinen Charakter verändert hat, kleineren oder größeren Versuchungen ausgesetzt gewesen ist, die die Suche nach der inneren Balance belastet haben. Das leise Management der Beitrittswellen und der damit verbundenen inneren Neubalancierungen gehört deshalb ganz wesentlich zur Erfolgsgeschichte des Bündnisses. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Die größte Beitrittswelle der Allianz hat das Bündnis allerdings hinter sich, sie erfolgte in der Zeit zwischen 1998 und 2009. Absehbar hingegen ist, dass sich der seit Jahren abzeichnende Trend der Transformation der Nordatlantischen Allianz von einer einst rein militärisch geprägten Verteidigungsorganisation zu einem weltweit agierenden Bündnis auch künftig weiter fortsetzen wird. Dies bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Anforderungen an Streitkräfte mit Blick auf Einsatzfähigkeit, Mobilität und Durchhaltefähigkeit. Die größte Gefahr für das Bündnis wäre dabei eine Entwicklung, bei der sich die Allianz zu einer politischen Gemeinschaft ohne harten Kern umwandeln würde. Dann würde sie nicht nur ihre Errungenschaften preisgeben, sondern auch zu einem beträchtlichen Sicherheitsrisiko mutieren. Die Nato nimmt heute schon eine ganze Reihe globaler Aufgaben wahr, weil Sicherheit immer mehr global verstanden wird. Vor dem Hintergrund der immer enger miteinander verbundenen geografischen Räume ist das von ausschlaggebender Bedeutung, wenn es darum geht, für Sicherheit im 21. Jahrhundert zu sorgen, Turbulenzen im Nahen Osten, dem Aufstieg Chinas und den mit den Entwicklungen Asiens verbundenen Fragestellungen zu begegnen. Nato und EU sind deshalb in den letzten Jahren aufeinander zugegangen, haben das politisch-militärische In strumen ta ri um verbessert, die Streitkräftefähigkeit insbesondere mit Blick auf größere Effizienz und bessere Koordination vorangebracht.
Der 24. Februar 2022 ist auch in der Geschichte der Allianz eine tiefe Zäsur. Mit Putins Invasion in die Ukraine ist der Staatenkrieg nach Europa zurückgekehrt und haben die Großmachtrivalitäten weiter zugenommen. Nato-Generalsekretär Stoltenberg hat deshalb zutreffend den Ukraine-Krieg als Wendepunkt in der Geschichte bezeichnet. Die durch die russische Aggression ausgelösten geopolitischen Verschiebungen haben in der Nordatlantischen Allianz sowohl die innere Geschlossenheit als auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer entschlossenen Abschreckung und des weiteren Ausbaus der Verteidigungsfähigkeit gefördert. Die Nato hat auf ihrem jüngsten Gipfel im Juni 2023 in Vilnius eine Reihe von strategischen und operationellen Anpassungen vollzogen, die die Handlungsfähigkeit des Bündnisses weiter stärken und die Vorgaben des von den Staats- und Regierungschefs im Juni 2022 auf dem Gipfel in Madrid verabschiedeten strategischen Konzepts umsetzen.
Die Relevanz des Bündnisses ist durch eine beispiellose wirtschaftliche und militärische Unterstützung der Ukraine und ihrer Streitkräfte bei ihrem nunmehr zwei Jahre dauernden Abwehrkampf deutlich geworden. Der Nato-Ukraine-Rat, der in Vilnius erstmals in seiner neuen Form und in Gegenwart des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammentrat, bildet dabei das zentrale Forum des Austausches zwischen den Nato-Mitgliedsstaaten und der politischen Führung der Ukraine, in der die Konsultationen über weitere Unterstützungsmaßnahmen und Krisenmechanismen stattfinden.
Glaubwürdigkeit bleibt oberstes Gebot
In Vilnius hat die Allianz ihre Verteidigungsplanung entlang der geografischen Regionen Atlantik und europäische Arktis, Ostseeraum und Zentraleuropa sowie Mittelmeerraum und Schwarzmeer-Region neu aufgestellt, um so 300.000 Soldaten in 30 Tagen verlegefähig für den Einsatz zu machen. Darüber hinaus hat sie einen Defence Production Action Plan verabschiedet und mit weiteren ehrgeizigen Vorgaben zum Zwei-Prozent-Ziel bei den europäischen Verbündeten und Kanada einen Anstieg der Verteidigungsausgaben um 8,3 Prozent erreicht. Landesverteidigung als Bündnisverteidigung und damit die Fähigkeit, die aus Artikel 5 des Nato-Vertrags resultierenden Verpflichtungen erfüllen zu können als Voraussetzung für eine glaubwürdige Abschreckung, bleiben auf absehbare Zeit im Fokus der Allianz. Es ist jener Entschlossenheit zu verdanken, dass bislang Nato-Territorium von russischen Militäroperationen nahezu vollständig verschont geblieben ist und dass auch der Nato-Seeverkehr und der Transit in Nato-Staaten weiterhin ungehindert möglich sind. Die Allianz wird für ihre Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges dabei auch weiterhin sorgsam darauf achten müssen, dass sie ihre Solidarität mit der Ukraine praktiziert, ohne dabei bei einer Eskalation in militärische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden.
Türkei als schwieriger Partner
Durch die von Schweden und Finnland getroffenen Grundsatzentscheidungen zur Revision ihrer Neutralität wird das Bündnis an seiner strategisch wichtigen Nordflanke und in Nachbarschaft zu Russland signifikant gestärkt. Die in den Verhandlungen um den Beitritt Schwedens und Finnlands hervortretende Neigung des 2023 in seinem Amt bestätigten türkischen Präsidenten Erdoğan, nationale Zielsetzungen der Allianzpolitik der Türkei bei Verhandlungen in eigensüchtiger Absicht in Stellung zu bringen, wird indes zu einer zunehmenden Herausforderung. Die Türkei bleibt ein schwieriger Partner in der Allianz. Im Westbalkan ist die Allianz aufgrund zunehmender Einfluss- und Destabilisierungsversuche Serbiens bei seinen Nachbarländern in ihrer Verteidigungsfähigkeit und in ihrem Krisenmanagement weiterhin gefordert. Es ist davon auszugehen, dass die maßgeblich von Serbien verantworteten Spannungen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina weiter zunehmen und die Allianz auf absehbare Zeit zur Krisenprävention auf dem Balkan binden werden.
In einer immer unsichereren Welt werden der Nato die Aufgaben nicht ausgehen. Die Handlungsfähigkeit der Nordatlantischen Allianz wird auch 2024 ganz entscheidend von ihrer Fähigkeit zur Abschreckung und dem inneren Zusammenhalt zwischen den europäischen und amerikanischen Verbündeten abhängen. Die Nato muss eine Antwort auf das Sicherheitsbedürfnis der Ukraine finden, die nicht im Resultat zu einer Verlängerung des Krieges beiträgt und keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa entstehen lässt. Die Nato muss zu echter Zusammenarbeit mit der Europäischen Union finden, die über Komplementarität hinausgeht und die Europäer dazu befähigt, Sicherheitsfragen noch stärker als bisher in eigener Verantwortung zu lösen. All dies wird am besten gelingen, wenn Europäer und Amerikaner sich beim Jubiläum zum 75-jährigen Bestehen daran erinnern, dass die Nato immer dann besonders wirksam war, wenn Amerikaner und Europäer an einem Strang gezogen haben.
Schlaglichter der Nato-Geschichte
1962
Kuba-Krise: Russland, die USA und ihre Verbündeten bringen die Welt an den Rand eines Atomkriegs.
1974
Türkische Truppen marschieren in den Norden Zyperns ein. Ein Krieg zwischen den Nato-Partnern Türkei und Griechenland kann knapp verhindert werden.
1989
Die Berliner Mauer fällt, der Kalte Krieg ist zu Ende. Der Warschauer Pakt, das militärische Gegengewicht zur Nato, löst sich auf.
1992
Die Nato fliegt während des Kosovo-Krieges Luftangriffe gegen Jugoslawien – ohne das „Go” des UN-Sicherheitsrates. 2001 Seit dem 11. September konzentriert sich die Nato vermehrt auf Auslandseinsätze.
2012
Im syrischen Bürgerkrieg kommt es zu Raketeneinschlägen auf türkischem Boden. Die Nato verlegt PatriotAbwehrraketen in die Nähe der Grenze.
2014
Nach der Annexion der Krim beendet die Nato die militärische Zusammenarbeit mit Russland.
2022
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist Russland wieder – wie in den ersten Jahrzehnten – der große gemeinsame Gegner der Nato.
Ulrich Schlie ist Historiker und seit 2020 Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Von 2005 bis 2012 war er Leiter Planungsstab im Bundesministerium der Verteidigung, von 2012 bis 2014 dessen Politischer Direktor.
© Volker Lannert
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