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Friedenssucher

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© Illustration: Skizzomat/Marie Emmermann

Der Wunsch nach Sicherheit, die Zukunft der internationalen Ordnung und das schwierige Verhältnis der Deutschen zur Macht

Ulrich Schlie01.03.2025

Trumps feierlicher Einzug ins Kapitol, seine mit Pomp und Gloria inszenierte Rückkehr ins Weiße Haus können auch als Symbol dafür genommen werden, dass in der internationalen Politik ein neues Zeitalter angebrochen ist. Die Wahl Trumps 2016 ist damit nicht mehr der „Unfall des Systems“, als der er lange Zeit interpretiert wurde, sondern Vorbote eines Systemwandels, der die Vereinigten Staaten in einem postamerikanischen Zeitalter neu positioniert und ihren Verbündeten erhebliche Anpassungen abverlangt. Gewiss, die Probleme der letzten Jahre sind nicht verschwunden: die Rückkehr des Staatenkrieges mit Putins Einfall in die Ukraine im Februar 2022, eines Krieges, der nun ins vierte Jahr geht, die fortbestehende Möglichkeit der atomaren Vernichtung, die Suche nach einer neuen Stabilität im Nahen Osten.

2025, titelthema, schlie
© Illustration: Skizzomat/Marie Emmermann

Die Krise der internationalen Ordnung hält an. Doch die Erschütterungen des alten Systems sind unübersehbar: Israels militärischer Triumph im Kampf gegen die Hamas, der Sturz des Assad-Regimes vor Weihnachten, überhaupt das Schicksal der Proxys des Mullah-Regimes in Teheran – Syrien, die Hisbollah im Libanon und die Huthis im Jemen –, die prekäre Lage des Iran, des wohl gefährlichsten Staates der Welt, die sich in den letzten zehn Jahren auf eine von nur wenigen für möglich gehaltene Weise verschlechtert hat. Großmachtrivalität ist heute das beherrschende Thema, die großen Mächte sind zurück, die Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und China ist tonangebend. Der alte Traum der Domestizierung von Macht durch Recht ist heute so fern wie wohl zu keinem anderen Zeitpunkt seit Begründung der Vereinten Nationen. Im Nebel ist auch noch die künftige europäische Sicherheitsarchitektur: Wie kann die Ukraine nach einem Waffenstillstand ehestmöglich in die europäisch-atlantischen Sicherheitsstrukturen geführt werden? Wie können Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Europa vermieden werden, wie der Balkan befriedet? Wie kann durch militärische Abschreckung der nächste Krieg mit Putin vermieden, wie das Verhältnis zwischen Amerika und Europa im atlantischen Bündnis mit einer neuen Lastenteilung intakt gehalten werden?

Stresstest für die Demokratie 

Wir erleben heute den tiefsten Einschnitt in der Staatenwelt seit 1989 als eine umfassende Krise: „Der Weltprozess gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein“, so hat Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen geschrieben.

Die Erfahrungen seit 1989, die Wiederkehr des Autoritarismus in ganz unterschiedlichen Formen, haben die Anfälligkeit des liberalen Systems gezeigt, das immer dann am gefährdetsten war, wenn die Abwesenheit einer Bürgergesellschaft den demokratischen Diskurs verhinderte. Die Entwicklung seit 1989 lehrt, dass die klügsten verfassungspolitischen Mechanismen ihre Wirksamkeit versagen, wenn die Menschen sich von der freiheitlichen Ordnung abwenden. Liberale Ordnungen sind kein Selbstläufer. Sie sind gebunden an Formen und Institutionen, brauchen eine auf Repräsentation und Partizipation beruhende Bürgergesellschaft und müssen das gesamte Verhältnis von Bürger und Staat auf allen Ebenen umfassen. Bürgerliche Gesellschaften sind immer wieder Erosionsgefährdungen ausgesetzt. Nur in der bürgerlichen Gesellschaft kann die Idee der Humanität, der Freiheit und des Gesellschaftsvertrages sich entfalten. Der Systemwandel, den wir gegenwärtig erleben, ist auch ein Testfall für die Selbstbehauptung unserer westlichen Demokratien. Dies nimmt Politik in die Pflicht zur Gestaltung, erfordert Führungsstärke und einen klaren Kompass.

Der Bundestagswahlkampf hat einmal mehr das Unbehagen, auch die Ratlosigkeit der Deutschen gezeigt, wie schwer sie sich damit tun, sich auf die veränderte Weltlage einzulassen. Thomas Mann hatte einst das Verhältnis der Deutschen zur Welt als „abstrakt und mystisch“ bezeichnet. Das war zu einer Zeit, als die Deutschen gerade aus Hybris und Kompassverlust eine beispiellose Nemesis zu verantworten hatten. Von jeher ist in Deutschland das öffentliche Interesse an auswärtigen Angelegenheiten gering ausgeprägt. Einst hat Henry Kissinger Deutschland als Land ohne Außenpolitik bezeichnet. Er hat damit vor allem die staats- und völkerrechtlichen Einschränkungen der Souveränität im Blick gehabt. Das hat sich auch nach 1990 nicht grundlegend geändert. Das Geschenk der Geschichte der friedlichen Wiedervereinigung des Landes war möglich infolge einer plötzlich auftretenden weltpolitischen Konstellation anno 1989/90. Nicht zuletzt unter dem Druck der Partner in Nato und EU haben die Deutschen – freilich nicht ohne Zögern – ihre neuen Aufgaben übernommen. Zum Stil der deutschen Außenpolitik gehört es, dass sie bei großen Krisen und in Entscheidungssituationen Zurückhaltung geübt und sich Selbstbeschränkung auferlegt hat. Zu den Eigenheiten der deutschen Politik zählt aber auch seit je die Neigung zur Beschäftigung mit den eigenen Befindlichkeiten. Außenpolitik ist immer auch an die innere Basis gebunden.

Klassische Außenpolitik muss sich indes an Macht orientieren, und genau damit tun sich die Deutschen schwer. Die Debatte über die außen- und sicherheitspolitischen Erfordernisse der „Zeitenwende“, die seit zwei Jahren im politischen Diskurs der Bundesrepublik in der Fokussierung auf die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine eng geführt wird, hätte es verdient, als eine grundlegende politische Auseinandersetzung um die Systematik der deutschen Außenpolitik und die Erfordernisse einer künftigen Orientierung geführt zu werden.

Die große europäische Aufgabe 

Sebastian Haffner hat Politik einmal als das Feld der Vernunft und der Dämonen bezeichnet. Gegen die Dämonie der Macht hilft nur die Vernunft der Nationen. Außenpolitik muss immer die Logik der Handelnden nachvollziehen. Sie muss insbesondere auch deren innere Widersprüche erfassen. Jedes Handeln gründet auf Wahrscheinlichkeiten. Jeder Krieg trägt die Gefahr zur Eskalation in sich. Die Qualität einer Strategie bemisst sich an der Beantwortung der Frage, wie es vermieden werden kann, dass eine Veränderung des Status quo vorgenommen wird, ohne dass das Recht verletzt wird. Die Schwierigkeit des gegenwärtigen Weltsystems ist seine Heterogenität und der zunehmende Einfluss von technologischen Entwicklungen als strategischer Treiber.

In der gegenwärtigen Lage der strategischen Unsicherheiten stellen sich als grundlegende Probleme die Wiederherstellung des Friedens und die Beantwortung der Frage, wie vermieden werden kann, dass eine Veränderung des Status quo zu einer Zunahme von Gefährdungen führt. Damit verbunden ist die Frage, wie amerikanische Macht in einer postamerikanischen Welt vor dem Hintergrund einer zunehmenden Selbstbezogenheit und Interessenorientiertheit der Vereinigten Staaten und einer anhaltenden Spaltung der amerikanischen Gesellschaft gewährleistet werden kann und was dies für die künftige Entwicklung und Ausgestaltung des europäisch-amerikanischen Verhältnisses bedeutet, insbesondere für die weitere Entwicklung der Nordatlantischen Allianz und ihre Partnerschaftspolitik, die Rolle der Europäischen Union in der Welt und ihre Fähigkeit, zur eigenen Sicherheit und Verteidigung beitragen zu können. Sodann stellt sich die Frage nach der Lösung des strategischen Problems, das Russland darstellt. Diese Aufgabe wird in den nächsten Jahren vor allem eine europäische Aufgabe sein. Wie kann Sicherheit vor Russland gewährleistet werden – also erfolgreiches Containment –, wie kann friedliche Koexistenz in allmählich wieder beginnende Kooperation überführt werden? Die Gestaltung des künftigen Verhältnisses zu China aber bleibt die dominierende strategische Frage der nächsten zehn bis 20 Jahre. Der systembestimmende Konflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten erfordert eine Positionierung von allen anderen Staaten im Staatssystem. Je gefestigter ein Land im Innern, desto erfolgreicher seine Außenpolitik. Es geht um nichts Geringeres als darum, Sicherheit heute entlang der Kategorien öffentlich und privat, staatlich und nicht staatlich integral zu organisieren und eine neue internationale Balance zu finden, bei der Wirtschaft und Staatenwelt zusammengedacht werden. Die deutsche Außenund Sicherheitspolitik ist gefordert, scheinbar bewährte Bahnen zu verlassen. Eine grundlegende Analyse des sich deutlich verändernden Rahmens und eine umfassende Anpassung der Instrumente an die neue Lage wären ein guter Startpunkt für die neue Bundesregierung.

Ulrich Schlie

Ulrich Schlie ist Historiker und seit 2020 Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Von 2005 bis 2012 war er Leiter Planungsstab im Bundesministerium der Verteidigung, von 2012 bis 2014 dessen Politischer Direktor.

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