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Hybris und Nemesis

Forum - Hybris und Nemesis
Adolf Hitler hält im Zuge der Maifeierlichkeiten 1933 im Lustgarten vor dem Berliner Stadtschloss eine Ansprache an die deutsche Jugend. Für die perfekte Inszenierung sorgen Musikanten der SA sowie zahlreiche Fotografen und Bildberichterstatter. © Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo

Wie konnte es passieren, dass die Nationalsozialisten vor 90 Jahren eine solch breite Zustimmung erhielten? Über das Phänomen Hitler, den Revolutionär gegen die Revolution.

Ulrich Schlie01.01.2023

Das Jahr 1933 steht im europäischen Kontext und ist geprägt von Krisen: der Krise des Liberalismus, Unbehagen an der Modernität, Aufstieg der Massen, Entpersönlichung, auch Entchristianisierung des Individuums. Und doch können all diese Krisen nicht hinreichend erklären, warum 1933 in Deutschland Hitlers Nationalsozialisten die Macht ergreifen konnten.

Morde, Streiks und Straßenkämpfe

Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, war das Schlimmste in Deutschland bereits überstanden: Wirtschaftlich ging es aufwärts, und außenpolitisch lockerten sich einige der drückendsten Fesseln des Versailler Systems. Seit Anfang der 1930er Jahre herrschte in Deutschland der durch die Verfassung gedeckte Ausnahmezustand. „Systemkrise“, „Krise der Demokratie“, „Staatskrise“, „Weltwirtschaftskrise“ – in der öffentlichen Debatte gab es für den Zustand und als Erklärungsversuch viele Bezeichnungen für die angespannte Situation. Ob der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning der letzte Kanzler vor der Auflösung der Weimarer Republik oder bereits der erste im Prozess des Niedergangs war, darüber streiten die Historiker bis heute. Brünings Kabinett wurde noch von den Sozialdemokraten toleriert, den Nachfolgeregierungen Papen und Schleicher fehlte die parlamentarische Unterstützung gänzlich. Als es am 12. September 1932 zur Abstimmung über einen Misstrauensantrag gegen das Kabinett Papen kam, wurde dieser mit 512 Stimmen gegen 42 vom Weimarer Reichstag angenommen – in der deutschen Parlamentsgeschichte ein wohl einzigartiger Vorgang. Außenpolitisch konnte das zunehmend aggressiv auftretende Deutschland der Präsidialregierungen erste Erfolge verbuchen. Brünings Ziel war es, wie er in seinen Memoiren geschrieben hatte, „ohne darüber zu reden den ganzen Versailler Vertrag ins Wanken zu bringen“. Brüning ging aufs Ganze. Sein Nachfolger Franz von Papen konnte die Früchte dieser Politik ernten, als im Juli 1932 auf der Lausanner Konferenz die Reparationsfrage gelöst wurde und sich in den Genfer Abrüstungsverhandlungen eine faktische Gleichbehandlung Deutschlands ankündigte. Mit einer Politik des Primats der Außenpolitik hatte jedoch bereits Brüning eine Verschärfung der ohnehin angespannten Lage in Kauf genommen. Mit der Wirtschaftskrise kam der Aufstieg des Nationalismus, der die große Politik immer unberechenbarer werden ließ.

Franz von Papen träumte vom autoritären Staat und sprach vom bolschewistischen Umsturz, der drohe, wenn ihm der Reichspräsident nicht die erwünschten Vollmachten erteile. Auch General Kurt von Schleicher malte das Gespenst eines bevorstehenden Bürgerkriegs an die Wand, um seine Ernennung zum Reichskanzler durchzusetzen. Die tatsächliche Situation war davon nicht weit entfernt: politische Morde, Massenstreiks, Straßenkämpfe – Tempo von links genauso wie von rechts. Schleichers Konzept, die Gewerkschaften für seine Notstandspolitik zu gewinnen und den linken Flügel von der NSDAP abzuspalten, musste scheitern, weil die Linken den seit jeher intrigierenden Militärs misstrauten und auf der Rechten gemutmaßt wurde, der General könne über die Hintertür der Notstandsverordnungen den Sozialismus einführen. Intrigenspiele der Mächtigen und die fortschreitende Vergreisung des nunmehr 84-jährigen Reichspräsidenten, mit dessen persönlichem Wohlwollen seit Brüning alle Kanzler standen oder fielen, erleichterten Hitlers zielbewusste Machtergreifung.

Diffuser Wunsch nach Veränderung

Doch Hitlers Aufstieg war nicht nur der Schwäche der Republik, er war auch der Stärke des Nationalsozialismus geschuldet. Ohne den revolutionären Schwung der nationalsozialistischen Bewegung wäre die Machtübernahme Hitlers nicht möglich gewesen. Hitler war ein Geschöpf des 20. Jahrhunderts, den der politische Umbruch nach der militärischen Niederlage von 1918 nach oben und in die Politik gespült hatte. Die Kampfansage an die „Schmach von Versailles“ wurde zum wichtigsten Punkt seines Programms, das trotz aller rhetorischen Bekenntnisse mehrdeutig und schwammig blieb. In der Ablehnung des so bezeichneten „Diktatfriedens“ konnte sich Hitler der Zustimmung der Deutschen sicher sein. Der eklektische Umgang mit Traditionen – einerseits das Bekenntnis zum nationalen Erbe, andererseits die Verheißung einer neuen Zeit – bildete den Schlüssel zum Erfolg Adolf Hitlers. Die Verschwommenheit der politischen Aussagen war gewollt, Hitlers Programm bewusst vage gehalten. Über den eigentlichen Charakter des nationalsozialistischen Regimes sollten die Deutschen mit Absicht im Unklaren gehalten werden.

Vor allem kam Hitler ein Anfang der 1930er Jahre weitverbreiteter, diffuser Wunsch nach Veränderung entgegen. Denn die nationale Erhebung, die Hitler an die Macht trug, erwuchs in erster Linie aus der Sehnsucht nach etwas wirklich Neuem, nach politischer Ordnung und einem Schnitt, der mit den wechselvollen, unsicheren Zuständen des ungeliebten Weimarer Parteienstaats abschloss. Die Erfolge etwa, die die NSDAP seit 1929 im ländlichen Raum erzielte, hängen zuallererst auch mit der Enttäuschung zusammen, dass es den von der DNVP dominierten landwirtschaftlichen Verbänden in der Spätphase der Weimarer Republik nicht gelungen war, die seit 1927 anhaltende internationale Agrarkrise, die sich durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 noch einmal verschärfte, zu meistern. Damit verbunden war ein Vertrauensverlust in die traditionellen agrarkonservativen Parteien wie Deutschnationale Volkspartei und Christlich-Nationale Bauern- und Landvolk-Partei, die es nicht vermocht hatten, diese Entwicklung zu stoppen und die zudem untereinander befehdet waren. Der agrarisch-protestantische Konservativismus in der Weimarer Republik hatte durch seine „nationalistischen Aufweichungen“ (Wolfram Pyta) die Trennschärfe gegenüber nationalistisch-völkischen Bewegungen verloren. Indem sich die NSDAP mit den örtlichen Honoratioren und Meinungsführern verband und es geschafft hatte, sich als deren Sprachrohr an die Spitze der Unzufriedenen zu setzen, trug sie entscheidend zur Auflösung traditioneller dörflicher Machtstrukturen bei.

Adolf Hitler war es in relativ kurzer Zeit gelungen, alle politischen Erwartungen und Vorstellungen seiner Zeit zu bündeln und auf seine Person zu konzentrieren. Die Zustimmung der alten Eliten zum Nationalsozialismus gründete ganz wesentlich auf dem Missverständnis, den neuen Machthabern gehe es vorrangig darum, in einer aus den Fugen geratenen Welt die staatliche Ordnung und Deutschlands Ehre wiederherzustellen. Hitlers politischer Horizont war tief im 19. Jahrhundert verhaftet. Er selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, dass seine politische Vorstellungswelt in der Zeit vor seinem 30. Lebensjahr entstanden war. Die innere Geschlossenheit dieses Gedankengebäudes ist bemerkenswert. Noch die letzten Phrasen im Bunker der Reichskanzlei, anno 1945, bilden einen authentischen Aufguss dessen, was Hitler seit seinen Wiener Jahren immer wieder deklamiert und in seinem Kampf-Buch millionenfach unter die Deutschen gebracht hatte.

Macht ohne Grenzen

Hitler war Revolutionär gegen die Revolution. Der Nationalsozialismus löste einen in der Geschichte nie da gewesenen Modernisierungsschub aus. Im Einsatz der Medien (Volksempfänger und Völkischer Beobachter) und der Technik (Wahlreisen im Flugzeug, Volkswagen) war Hitler ganz auf der Höhe seiner Zeit. Sein Aufstieg war an die Bedingungen des Massenzeitalters gebunden. Die Geschichte des Nationalsozialismus aber ist auch die Geschichte seiner Unterschätzung. Hinter der Maske scheinbarer bürgerlicher Wohlanständigkeit Hitlers verbarg sich die revolutionäre Kraft des sozialen Declassé, der in seinem Größenwahn und seiner grenzenlosen Ichbezogenheit geradezu besessen war vom Willen, die Fesseln der persönlichen Biografie zu sprengen und den Gang der Weltgeschichte seinen eigenen Lebensgesetzen zu unterwerfen. Hitlers Vita lehrt, dass innere Geschlossenheit und Flexibilität bei der Wahl der Mittel keine Gegensätze sein müssen. Die Attraktivität des Nationalsozialismus beruhte gerade auf seiner Unschärfe, mit der es gelang, weite Kreise der deutschen Gesellschaft zu täuschen und Nichtzusammengehöriges zusammenzubringen. Die NSDAP wurde zur alleinigen Trägerin der Staatsgewalt erhoben, ohne diese je zu besitzen. Die wirkliche Klammer zwischen Staat und Partei war Adolf Hitler selbst. Das „Führerprinzip“ legitimierte die absolute Befehlsgewalt des „Führers“ und begründete damit eine Machtfülle, der keine Grenzen gesetzt waren: Staat, Partei und Wehrmacht waren dem Willen des „Führers“ untertan.

Der Nationalsozialismus vereinte in sich moderne und zukunftsweisende Elemente, die Überwindung der Klassengesellschaft, „Kraft durch Freude“ und Ansätze zu einer arbeitnehmerfreundlichen Sozialpolitik mit einem antimodernistischen, rückwärtsgewandten und menschenverachtenden Menschenbild, mit Blut-und-Boden-Ideologie und Rassenwahn, eine zivilisationsfeindliche Ideologie mit technikgläubiger Industriestaatlichkeit. Was hochtrabend als nationalsozialistische Weltanschauung daherkam, war ein buntes, pseudoreligiöses und pseudowissenschaftliches Gedankengebräu, das vor allem anderen dazu diente, den bedingungslosen Führungsanspruch Adolf Hitlers und seiner Partei zu untermauern, getreu dem von Hitlers Propagandisten Joseph Goebbels bereits 1932 formulierten Programm: „Wir werden die Macht niemals wieder aus der Hand geben. Man muss uns als Leichen heraustragen.“ Der tatsächliche Verlauf der Geschichte hat diese Prophezeiung auf grausame Weise bestätigt. Auch dies lehrt das Kapitel der deutschen Geschichte, das am 30. Januar 1933 einsetzte: Hybris und Nemesis sind Schwestern. 

Ulrich Schlie

Ulrich Schlie ist Historiker und seit 2020 Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Von 2005 bis 2012 war er Leiter Planungsstab im Bundesministerium der Verteidigung, von 2012 bis 2014 dessen Politischer Direktor.