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Einfluss der Intellektuellen

Die Macht der Ideen

Stecken die Dichter und Denker unserer Tage in einer Identitätskrise? Obwohl sich die Welt in einem permanenten digitalen Wandel befindet, obwohl alte politische Gewissheiten nicht mehr gelten, und obwohl die Naturwissenschaften regelmäßig neue Horizonte vermessen, gibt es kaum noch bekannte Groß-Deuter, die den Zeitgenossen den Lauf der Ereignisse erklären. Die Beiträge des Juli-Titelthemas begeben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Phänomens – und nach dem Platz des Intellektuellen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Herfried Münkler15.07.2014

Was vermögen schon Ideen gegen die Übermacht der Verhältnisse? Auf den ersten Blick traut man ihnen wenig zu, zumal diejenigen, von denen sie zumeist kommen, die Ideengeber, die Intellektuellen, notorisch darüber klagen, sie seien ohne Macht und Einfluss. Aber man muss solche Klagen nicht für bare Münze nehmen. Es könnte immerhin ja auch sein, dass dahinter eine besonders raffinierte Strategie der Einflussnahme steckt: Die Ideen und ihr Einfluss werden klein und schwach gemacht, damit sie auf diese Weise und in dieser Form umso leichter in die auf den ersten Blick so starken und machtvollen Verhältnisse eindringen können, um sie von innen heraus anzugreifen und aufzusprengen. Unter diesen Umständen wäre es unklug, über die Macht der Ideen zu sprechen und dadurch auf etwas aufmerksam zu machen, was am effektivsten ist, wenn es im Verborgenen, im Unsichtbaren wirksam wird. Die Klage der Intellektuellen, dass niemand auf sie höre und sie keinen Zugang zu den Machthabern hätten, wäre dann nichts anderes als ein geschicktes Manöver, das davon ablenken soll, dass Ideen auf andere Weise Einfluss gewinnen, als man dies mit der Macht üblicherweise verbindet, und dass sie keineswegs von den Ideengebern in den Vor- und Hinterzimmern der Macht vorgetragen werden müssen.

Das Gegenmodell zur notorischen Klage über die Machtlosigkeit der Intellektuellen ist das Entwerfen von Geschichtsphilosophien durch ebensolche Intellektuelle. Die Pointe dieser Geschichtsphilosophien läuft nämlich darauf hinaus, die augenscheinlichen Machthaber als – jedenfalls auf längere Sicht – als machtlos darzustellen: Sie können tun oder lassen, was sie wollen – das wirklich folgenreiche Geschehen vollzieht sich hinter ihrem Rücken und gegebenenfalls auch gegen ihre Ziele und Absichten. Die geschichtliche Entwicklung ist danach nichts anderes als die schrittweise, zumeist langsame, dafür aber unaufhaltsame Verwirklichung von Ideen, die im einen Fall unter dem Rubrum der Freiheit, im anderen unter dem von Solidarität und Gleichheit zusammengefasst werden. Gegen die Macht der Machthaber setzen die mit Geschichtsphilosophien argumentierenden Intellektuellen die unaufhaltsame Kraft des Fortschritts, und weil in den entsprechenden Entwürfen sie selbst es sind, die über die Richtung und Dynamik dieses Fortschritts verfügen, ist die Macht der Machthaber ein Nichts gemessen an ihrer Direktionsgewalt über den Gang der Geschichte.

Das Eigenleben der Ideen

Aber wirklich groß machen sich die Intellektuellen auch in diesem Fall nicht, denn sie stellen sich bloß als Protokollanten des Geschichtsverlaufs dar, keineswegs jedoch als dessen Richtungsgeber. Sie verbleiben auf diese Weise in der komfortablen Position der Unverantwortlichkeit: Wenn die Dinge schief gehen oder die Kosten des Fortschritts höher sind als seine Erträge, kann man das nicht ihnen zurechnen, da sie ja nur aus der Geschichte herauslesen, was in dieser angelegt war.

Die notorische Klage über Einflusslosigkeit auf der einen und die selbstbewusste Verfügung über den ehernen Gang der Geschichte auf der anderen Seite sind freilich nur die Extrempositionen, die Intellektuelle beziehen können, wenn sie über die Macht der Ideen und ihren eigenen Anteil an dieser Macht sprechen. In beiden Fällen identifizieren sie sich mit den Ideen und leiden entweder daran, dass diese nicht unmittelbar wirksam werden, oder sie trösten sich damit, dass sich die Ideen auf lange Sicht doch durchsetzen. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass beide Sichtweisen zu einfach sind, um den komplexen Einfluss der Ideen auf die reale Entwicklung zu erfassen.

Zeit in Gedanken gefasst

Das beginnt damit, dass die in beiden Fällen allzu eng gedachte Verbindung zwischen Ideen und Ideengeber gelockert werden muss: Intellektuelle setzen Ideen in die Welt, und diese entfalten eine mehr oder minder große Wirkung, aber über den Einfluss der Ideen und deren Wirkung verfügen die Intellektuellen nicht. Sie sind eben nicht mehr die Herren der Ideen, nachdem sie diese in die Welt gesetzt haben. Die Ideen entfalten ein Eigenleben, das sich der Steuerung durch die Intellektuellen entzieht. Für die einen ist das der Grund zu der Klage über ihre Einflusslosigkeit, für die anderen die Inspiration zu der Vorstellung, Geschichte sei die langfristige Realisierung dieser Ideen hinter dem Rücken der mächtigen Akteure. Beides sind freilich bloß Tröstungen dafür, dass die Ideengeber über ihre Ideen nicht mehr verfügen, sobald diese in der Welt sind. Das unterscheidet Ideen, zumal politische Ideen, von den meisten anderen Formen der Einflussnahme: Ideen haben Macht, aber sie sind keine Instrumente der Machtausübung. Die Macht, die ihnen eigen ist, lässt sich nicht in die Macht der Intellektuellen konvertieren. Die Folge ist, dass Intellektuelle zumeist melancholisch und nur ganz selten sanguisisch sind. Das Bild des Intellektuellen als jemandem, der an der Heillosigkeit der Welt leidet, der zu wissen meint, wie zu helfen wäre, und der doch nicht zu helfen vermag, ist eine Folge des spezifischen Eigenlebens der Ideen. Um es zu pointieren: Die Macht der Ideen richtet sich als erstes gegen ihre Urheber.

Aber sie erschöpft sich nicht darin. Ideen, heißt es sinngemäß bei Hegel, sind „ihre Zeit in Gedanken gefasst“. Sie bilden ihre Zeit also nicht ab, sondern bringen das in ihr Angelegte, das untergründig Wirksame und nur schwer Erkennbare auf den Begriff, sie denken Entwicklungen und Trends weiter, stellen Werte heraus, von denen sie annehmen, dass sie in der Gegenwart vorherrschen, und postulieren Normen, an denen sich die zukünftige Entwicklung zu orientieren habe. Ideen fassen ihre Zeit in Gedanken, indem sie das Eine überzeichnen und Anderes vernachlässigen. Sie intervenieren damit in die jeweilige Gegenwart, indem sie dieser einen Spiegel vorhalten, der sowohl verkleinert als auch vergrößert, heraushebt, verzerrt. Ideen sind, um im Bild zu bleiben, Mikroskop, Fernglas und Weitwinkel in einem. Der Streit der Ideen, der die Selbstverständigung einer Zeit über sich selbst begleitet, resultiert daraus, dass da, wo die eine Idee ein Problem mikroskopiert, die andere es mit Hilfe des Weitwinkels relativiert. Ideen sind Angebote von Sichtweisen sowie Fokussierungen von Problemen und Lösungen. Welche von ihnen sich jeweils durchsetzt, hängt von den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ab, die von diesen Ideen in Gang gesetzt und angefeuert werden. Jedenfalls ist das in pluralistisch verfassten Gesellschaften so, in denen es eine Konkurrenz der Ideen gibt und nicht eine einzelne Idee von den Inhabern der politischen Macht zur alleingültigen und verbindlichen gemacht worden ist. Man hat letzteres als Ideokratie bezeichnet; solchen Ideokratien begegnen wir dort, wo die diffuse Macht der Ideen in eine politisch kontrollierte Übermacht verwandelt worden ist. Die sozialen, politischen und kulturellen Kosten solcher Ideokratien sind gewaltig. Das zeigt die Geschichte des real existierenden Sozialismus.

Eitelkeiten und Selbstblockaden

Man könnte meinen, angesichts dieser der Macht von Ideen inhärenten Risiken sei es vernünftig, den Einfluss der Ideen auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen zu beschneiden und Intellektuellen als Verkörperung einer aus dem Verborgenen heraus agierenden Macht zu misstrauen. Aber Ideen sind nicht bloß ihre Gegenwart in Gedanken gefasst, sondern stellen auch Orientierungen im Feld der Ungewissheit dar. Diese Ungewissheit, wie sie etwa bei Entscheidungen in politisch zugespitzten Konstellationen vorherrscht, macht denen zu schaffen, die solche Entscheidungen zu treffen haben. Sie suchen nach Lichtzeichen und Leitplanken, um sich zu orientieren. Ideen sind beides zugleich: Sie stiften Zutrauen, wo Ungewissheit vorherrscht, und vor allem daraus erwächst die Macht, die sich mit ihnen verbindet. Nicht weil sie sichere Wegweiser und Zielmarken sind, sind sie in pluralistischen Gesellschaften gefragt, sondern weil man ohne sie schlichtweg nicht auskommt. Man klammert sich an sie wie an Rettungsringe in wildbewegtem Wasser. Ideen können diejenigen, die sich mit ihnen verbinden, über Wasser halten. Aber die Richtung, in die sie sich dabei bewegen, ist offen.

Die Intellektuellen haben Ideen in die Welt gesetzt, aber danach können sie ihnen nicht mehr die Richtung vorgeben, was manche von ihnen frustriert. In dieser Frustration übersehen die Intellektuellen, wie unverzichtbar sie als Ideengeber sind. Aber um das zu erkennen, müssten sie gänzlich uneitel sein und sich als Dienstleister begreifen. Das freilich widerspricht dem Selbstverständnis der Intellektuellen, und so bleiben sie eingesperrt in dem Kerker ihrer Frustration und übersehen die Macht, die Ideen tatsächlich zukommt.

Herfried Münkler
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).

© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de