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Titelthema

Kommt das demokratische Zeitalter an sein Ende?

Der Wunsch nach mehr direkter Demokratie und die populistischen Bewegungen in Europa und Nordamerika offenbaren eine Krise der politischen Repräsentation.

Herfried Münkler01.09.2017

Wie schnell sich die Diagnosen und Prognosen doch ändern: Es ist gerade ein Vierteljahrhundert her, dass Francis Fukuyama in einem hernach vielzitierten Artikel vom Ende der Geschichte sprach, womit er meinte, dass es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Staatsozialismus keine tragfähige Alternative mehr zum westlichen Modell der liberalen Demokratie und einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft gebe. Doch dann kam mit dem Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase die große Finanzkrise mit ihren wirtschaftlichen Verwerfungen, und mit einem Mal galt der liberalisierte Kapitalismus als eine Form des Wirtschaftens, die auf die Katastrophe zutreibe. Und dann kam mit dem Brexit, Trump und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in der EU die Sorge auf, dass die Ära der liberalen Demokratien an ihr Ende gekommen sei.
Einige dieser Diagnosen mögen voreilig, andere übertrieben sein, aber sie haben einen Kern, der ernst zu nehmen ist: eine Krise der politischen Repräsentation, in deren Folge sich viele durch die amtierenden politischen Eliten nicht mehr für angemessen vertreten halten und statt dessen entweder direktdemokratischen Modellen oder aber politischen Führungsgestalten anhängen, die sich im Gestus des Antielitären in Szene gesetzt haben und aufgestiegen sind. Auf Dauer passt beides, der Anspruch auf stärkere politische Partizipation und das Vertrauen in Führergestalten, nicht zusammen, aber solange es nur um die Kritik der repräsentativen Demokratie und ihrer Eliten geht, gehen beide miteinander Hand in Hand.
Es ist eine Koalition des Destruktiven, die beide Seiten miteinander eingegangen sind. Will man ihr etwas positives abgewinnen, so hat sie die Frage auf die Tagesordnung gesetzt, in was für einem Typ von Demokratie wir leben wollen und wie eine demokratische Ordnung beschaffen sein muss, um über längere Zeit Bestand zu haben. Denn auch das gehört zu den besorgten Diagnosen der jüngsten Zeit dazu: dass es vor allem junge Demokratien sind, die jetzt in der Krise stecken und ihre liberalen und rechtsstaatlichen Elemente demolieren, etwa die Mittel- und Ostmitteleuropas, die erst nach 1989 entstanden sind und sich auch nicht auf Traditionen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stützen können. Hier ist der Rückfall in autoritäre Traditionen, für die Putin, Orbán und Kaczynski stehen, nicht verwunderlich. Auch Erdogan gehört dazu.

Etwas anders stellt es sich bei dem neuerlichen Auftauchen von Forderungen nach mehr direkter Demokratie dar: Hier spielen die veränderte Kommunikationssituation, die neuen Medien und die Vorstellung, man könne mit Likes gleichsam permanente Volksabstimmungen organisieren, eine zentrale Rolle. Repräsentativgremien werden als Tribut an einen langsamen Informationsfluss begriffen, und dieser Tribut sei im Zeitalter des Internets und der Online-Bürger nicht mehr vonnöten. Direkte Demokratie sei möglich, intermediäre Instanzen überflüssig und Eliten ein Ballast der Vergangenheit – so etwa die Argumentation der Piratenparteien in Westeuropa, die inzwischen nach einem kurzen Hype freilich schon wieder in der Versenkung verschwunden sind.
Ihre Vorschläge zu mehr direkter Demokratie wirken jedoch nach. Der Aufstieg des Populismus, gleichgültig, ob linker oder rechter Provenienz, beruht auch auf der Vorstellung, dass „das Volk“ es nicht nur besser weiß, sondern auch besser kann als die etablierten Eliten, die inzwischen regelmäßig mit dem Vorwurf überzogen werden, zutiefst korrupt zu sein. Nun sind sich die Gründerväter der repräsentativen Demokratie durchaus bewusst gewesen, dass Macht und Einfluss korrumpieren können und die Arroganz der Macht nicht nur einzelne Politiker, sondern die herrschende Elite in ihrer Gesamtheit erfassen kann. Deswegen haben sie den Modus des Elitenwechsels vorgesehen, bei dem die an der Macht befindliche Elite durch eine bereitstehende Gegenelite, im parlamentarischen System die Opposition, abgelöst wird. Die Verfügung über diesen Elitenwechsel liegt in der Demokratie beim Volk, das nach dem Mehrheitsprinzip darüber entscheidet.
Dieses Modell der Machtkontrolle hat in Westeuropa und Nordamerika in den letzten zwei Jahrhunderten eine erstaunliche Robustheit gezeigt und ist mit Krisen und Herausforderungen unterschiedlichster Art fertig geworden. Die Prognose vom bevorstehenden Ende des demokratischen Zeitalters beruht also auf der Vorstellung, dies werde in Zukunft nicht mehr der Fall sein und dass diese Zukunft bereits begonnen habe.

Keine robusten Alternativen
Nun zeigt der Rückblick auf Epochen der direkten Demokratie wie einer autoritär-charismatischen Führerherrschaft, dass beide eher kurzlebig waren und relativ schnell an inneren Konflikten zerbrochen oder an äußeren Herausforderungen gescheitert sind. Sowohl die athenische Demokratie des 5. vorchristlichen Jahrhunderts als auch die stadtstaatlichen Republiken des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind keine Vorbilder für politische Nachhaltigkeit, denn nach einer kurzen Blütephase sind sie an der Unlösbarkeit ihrer inneren Konflikte zerbrochen oder das Volk, das den Staat selbst verwalten musste, war nach geraumer Zeit der damit verbundenen Lasten überdrüssig und gab die Macht an denjenigen ab, der die größten Wohltaten versprach.
Etienne de la Boètie, ein Freund Montaignes, hat mit Blick darauf von der „freiwilligen Knechtschaft“ gesprochen, in die sich das Volk flüchte, wenn es den Dauerstress der Selbstregierung nicht mehr ertrage. Diese Beobachtung aus dem späten 16. Jahrhunderts dürfte kaum überholt sein. Und bei autoritär-charismatischen Führungspersonen stellt sich, wenn deren Herrschaft denn ohne Katastrophe verlaufen ist, die Nachfolgefrage, und dabei zeigt sich, dass Charisma weder vererbt noch institutionalisiert werden kann. Die Geschichte der römischen Kaiserzeit kann als ein Experimentierfeld im Umgang mit dem Nachfolgeproblem betrachtet werden – mit dem Ergebnis, dass keine dauerhaft befriedigende Lösung gefunden wurde. Der Blick in die Geschichte spricht nicht unbedingt dafür, dass es robuste Alternativen zum demokratischen Rechtsstaat gibt – was freilich nicht heißt, dass dieser deswegen außer Gefahr ist. Das Fehlen solcher Alternativen heißt bloß, dass bei seinem Zerfall mit politischem Chaos zu rechnen ist.
Das ist Grund genug, um über die Revitalisierung des demokratischen Rechtsstaats und der parlamentarischen Demokratie nachzudenken, denn dass diese zurzeit Anzeichen von Schwäche und Ermüdung aufweisen, lässt sich schwerlich bestreiten. Diese Schwächesymptome sind, jedenfalls in Deutschland, paradoxerweise eine Folge von Stabilität und Wohlstand. Bei den einen sind es Überdruss und Langeweile, die der Unterstützungsbereitschaft für die Demokratie entgegenstehen, bei den anderen ist es die Angst vor Wohlstandsverlust, die in eine Oppositionshaltung zur bestehenden Ordnung treibt.
Die jüngste Kritik an der Demokratie unterstellt, dass es machtversessene politische Eliten gibt, aber das wirkliche Problem der politischen Ordnung in Deutschland besteht darin, dass immer weniger Menschen bereit sind, in diese politische Elite einzutreten und sich durch politische Aufgaben konsumieren zu lassen. Die Parteien als Rekrutierungsorganisationen der politischen Eliten leiden an Sklerose; „in die Politik zu gehen“ ist häufig etwas für diejenigen geworden, die es andernorts aus ihrer Sicht nicht weit genug gebracht haben. Und viele, die es in der Politik bis fast in die erste Reihe geschafft haben, wechseln in die Wirtschaft, um sich dort ihre Kontakte und Fertigkeiten um ein Vielfaches besser bezahlen zu lassen. Gibt es in Deutschland eine Krise der Demokratie, so ist es keine des Systems, sondern eine der Personalrekrutierung.

Rückkehr zum politischen Realismus
An solchen Herausforderungen lässt sich jedoch arbeiten. In der Regel führen Krisen und Herausforderungen zu einem Schub an Leuten, die ihre Ideen und Erfahrungen längerfristig in den Politikbetrieb einspeisen wollen. Das war so um 1968/69, dann um 1989, und vielleicht hat die Flüchtlingskrise von 2015/16 und das große zivilgesellschaftliche Engagement ähnliche Folgen. Krisen und Herausforderungen haben eine Tendenz, Revitalisierungsagenturen des demokratischen Betriebs zu sein. Das erklärt auch die erstaunliche Standfestigkeit der demokratischen Ordnung seit dem 18. Jahrhundert.
Dass diese Ordnung freilich auf Voraussetzungen sozio-ökonomischer und politisch-kultureller Art beruht, die sich nicht durch Händeklatschen herstellen lassen, können wir zurzeit am Beispiel der mitteleuropäischen EU-Länder beobachten. Scheitert die Demokratie dort, so ist das eine Niederlage, die uns in Deutschland große Sorge machen muss. Die Entwicklung in anderen Weltregionen mag ausgesprochen unerfreulich sein, dementiert aber nur die überzogenen Erwartungen an eine globale Demokratisierung, wie sie zu Beginn der 1990er Jahre aufgekommen sind. Es handelt sich hier sonst eher um eine Rückkehr zum politischen Realismus.

Herfried Münkler
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).

© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de