Über die Kriegsmüdigkeit der westlichen Demokratien
»Si vis pacem para bellum«
Wer mit dem Einsatz militärischer Mittel droht, mit seiner Politik jedoch zu erkennen gibt, diese nie einzusetzen,
büßt Glaubwürdigkeit ein
Wie kann der Ausbruch von Kriegen verhindert werden? Auf welche Weise können Waffengänge am effektivsten und schnellsten beigelegt werden? Führt umgekehrt die Drohung mit militärischer Gewalt nicht zwangsläufig zur Eskalation? Ist der explizite Verzicht auf Gewalt nicht die sicherste Garantie für den Frieden? Ist die Diplomatie nicht das bewährteste Instrument zu Sicherung des Friedens und zur Beendigung von Kriegen? Diese und ähnliche Fragen bewegen die Öffentlichkeit in den Demokratien des Westens seit Jahrzehnten. Sie haben durch den syrischen Bürgerkrieg, der sich seit Jahren hinzieht, eine neue Aktualität erlangt.
Wer nach den beiden Weltkriegen, Völkermoden und zahllosen Waffengängen nicht von dem Wusch bewegt wird, mit aller Macht den Frieden zu erhalten und den Krieg zu ächten, hat nichts aus der Vergangenheit gelernt und besitzt obendrein weder Herz noch Verstand. Daher ist die übergeordnete Frage entscheidend: Wie lässt sich der Frieden am zuverlässigsten sichern? Sie ist weder durch idealistisches Wunschdenken noch durch neue Theorien zu beantworten. Sicherer erscheint, die Geschichte als Erfahrungsschatz zu nutzen. Ihre Lektionen können Anhaltspunkte für eine Friedenspolitik in der Gegenwart liefern, die die besten Aussichten auf Erfolg besitzt.
„Peace for our time“. Vor 75 Jahren, Ende September 1938, verkündete der britische Premierminister seinen Landsleuten „Friede für unsere Zeit“. Neville Chamberlain hatte soeben in Deutschland mit „Herrn Hitler“ über dessen Forderung nach einer Abtretung des überwiegend von Deutschen bewohnten Sudetenlandes an das Deutsche Reich verhandelt. Während der „Münchner Konferenz“ hatten die Demokratien Frankreich und Großbritannien gegenüber Hitler und seinem Adlatus Mussolini de facto die Kapitulation besiegelt. Die Menschen in Europa bejubelten frenetisch die Rettung des Friedens.
Fast überall. Denn die Tschechen ahnten, dass der NS-Diktator sich nicht mit der Einverleibung der deutschen Territorien begnügen, sondern ihr Land insgesamt zerstören würde. Das drückte auch der in seiner konservativen Partei kaltgestellte Winston Churchill aus, der für eine feste Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien eintrat. Der Tory mochte seine friedliebenden Landsleute nicht enttäuschen, meinte jedoch, das „Münchner Abkommen“ werde keinen Frieden zur Folge haben, sondern Hitler werde im Gegenteil fortan ermutigt, weitgehendere Forderungen zu stellen und zu erzwingen. In Laufe des kommenden halben Jahres werde er die Tschechoslowakei vollständig zerstören, danach werde er das nächste Land angreifen. Churchill war kein Hellseher, er verstand lediglich die Folgen der Beschwichtigungspolitik Londons.
Das tat Premier Chamberlain ebenfalls – zumindest intern. Im britischen Kabinett erklärte Chamberlain, dies sei das letzte Mal gewesen, dass er sich von diesem „hässlichen kleinen Hund“ (gemeint war Hitler) habe erpressen lassen. Wenn der Brite so dachte, warum hatten er und sein französischer Kollege Daladier Hitler nachgegeben? Chamberlain wollte Zeit gewinnen, vor allem aber bemühte er sich als demokratischer Politiker, der Stimmung der Bürger und Wähler gerecht zu werden. Die Menschen aber wollten nach den Opfern des Ersten Weltkrieges endlich Frieden. Daher Chamberlains Peace-Parole.
Auch der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, begriff, dass Hitler – und die herrschende Militärführung in Japan – nach der Weltherrschaft strebten. Doch gleichzeitig wusste Roosevelt, dass die Amerikaner nach dem Angriff Hitlers auf Polen (September 1939) und erst recht nach dem Sieg der Wehrmacht über Frankreich (Juni 1940) mehrheitlich gegen einen Krieg in Europa und Ostasien waren. Daher beschränkte sich der US-Präsident darauf, Tokio und Berlin zu provozieren. Die Diktaturen taten ihm den Gefallen und lieferten Washington so objektive Gründe zur Kriegsteilnahme.
Um das Assad-Regime an einer Eskalation des Krieges gegen die eigene Bevölkerung zu hindern, zog der amerikanische Präsident eine „rote Linie“. Durch diese Warnung wollte er zumindest den Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die Diktatur und damit zugleich die Notwendigkeit einer militärischen Intervention verhindern. Eine schlaue Doppelstrategie, die allerdings nur greift, wenn die Gegenseite sich der gleichen Logik unterwirft, die eine Demokratie leitet. Hier liegt der Denkfehler pazifistischer Regierungen und Publizisten. Daher setzen genau hier Assad und seine Verbündeten an. Ungeachtet der Drohungen der USA verwendeten sie Giftgas – ungeachtet ziviler Verluste.
Um nicht als Maulhelden zu erscheinen, mussten die Demokraten handeln. Das wäre möglich gewesen, doch die Politiker wollten sich bei ihren Parlamenten rückversichern. Die britischen Abgeordneten agierten nicht im nationalen Interesse, sondern im eigenen und lehnten ein gewaltsames Eingreifen ab. Präsident Obama war gewarnt. Er zog daraus die Konsequenz, sich ebenfalls absichern zu wollen. Da er jedoch keine parlamentarische Niederlage erleiden wollte, schickte er seinen Außenminister Kerry als Minenhund vor. Die Russen ließen sich auf einen Deal ein. Um Assad im Sattel zu halten, nötigten sie ihn zur Zusage, fortan auf seine Giftgaswaffen zu verzichten. Damit haben die USA, haben die westlichen Demokratien insgesamt eine vielfache Niederlage erlitten:
Wenn du den Frieden willst, sei auf den Krieg vorbereitet, wusste man im antiken Griechenland und Rom. Wer jedoch von vorn herein verkündet, in den internationalen Beziehungen ausschließlich diplomatische Mittel zu verwenden, oder mit dem Einsatz militärischer Mittel droht, mit seiner Politik jedoch zu erkennen gibt, diese nie einzusetzen, büßt Glaubwürdigkeit ein. Das hat fatale Konsequenzen. Denn der Verzicht auf den Einsatz von militärischer Gewalt als ultima ratio, um einen Krieg oder dessen Eskalation zu verhindern, ist ein Freibrief für alle Diktaturen. Sie können fortan Gewalt einsetzen, ohne Bestrafung befürchten zu müssen.
Fazit: Es gibt kein Patentrezept zur Erhaltung des Weltfriedens. Immer wieder wird es Regime geben, die versuchen, ihre speziellen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Sie lassen sich nicht mit friedlichen Absichtserklärungen von ihren Aggressionen abhalten. Im Gegenteil: Das, was sie als Wehrlosigkeit auffassen, stachelt sie zu ihrem expansiven Tun an. Am besten kann man Frieden und Freiheit garantieren, wenn man bereit ist, diese notfalls gewaltsam zu verteidigen. Das mag zarte pazifistische Seelen kränken, es ist jedoch eine Erfahrung, die sich durch die Geschichte zieht.
Wer nach den beiden Weltkriegen, Völkermoden und zahllosen Waffengängen nicht von dem Wusch bewegt wird, mit aller Macht den Frieden zu erhalten und den Krieg zu ächten, hat nichts aus der Vergangenheit gelernt und besitzt obendrein weder Herz noch Verstand. Daher ist die übergeordnete Frage entscheidend: Wie lässt sich der Frieden am zuverlässigsten sichern? Sie ist weder durch idealistisches Wunschdenken noch durch neue Theorien zu beantworten. Sicherer erscheint, die Geschichte als Erfahrungsschatz zu nutzen. Ihre Lektionen können Anhaltspunkte für eine Friedenspolitik in der Gegenwart liefern, die die besten Aussichten auf Erfolg besitzt.
„Peace for our time“. Vor 75 Jahren, Ende September 1938, verkündete der britische Premierminister seinen Landsleuten „Friede für unsere Zeit“. Neville Chamberlain hatte soeben in Deutschland mit „Herrn Hitler“ über dessen Forderung nach einer Abtretung des überwiegend von Deutschen bewohnten Sudetenlandes an das Deutsche Reich verhandelt. Während der „Münchner Konferenz“ hatten die Demokratien Frankreich und Großbritannien gegenüber Hitler und seinem Adlatus Mussolini de facto die Kapitulation besiegelt. Die Menschen in Europa bejubelten frenetisch die Rettung des Friedens.
Fast überall. Denn die Tschechen ahnten, dass der NS-Diktator sich nicht mit der Einverleibung der deutschen Territorien begnügen, sondern ihr Land insgesamt zerstören würde. Das drückte auch der in seiner konservativen Partei kaltgestellte Winston Churchill aus, der für eine feste Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien eintrat. Der Tory mochte seine friedliebenden Landsleute nicht enttäuschen, meinte jedoch, das „Münchner Abkommen“ werde keinen Frieden zur Folge haben, sondern Hitler werde im Gegenteil fortan ermutigt, weitgehendere Forderungen zu stellen und zu erzwingen. In Laufe des kommenden halben Jahres werde er die Tschechoslowakei vollständig zerstören, danach werde er das nächste Land angreifen. Churchill war kein Hellseher, er verstand lediglich die Folgen der Beschwichtigungspolitik Londons.
Das tat Premier Chamberlain ebenfalls – zumindest intern. Im britischen Kabinett erklärte Chamberlain, dies sei das letzte Mal gewesen, dass er sich von diesem „hässlichen kleinen Hund“ (gemeint war Hitler) habe erpressen lassen. Wenn der Brite so dachte, warum hatten er und sein französischer Kollege Daladier Hitler nachgegeben? Chamberlain wollte Zeit gewinnen, vor allem aber bemühte er sich als demokratischer Politiker, der Stimmung der Bürger und Wähler gerecht zu werden. Die Menschen aber wollten nach den Opfern des Ersten Weltkrieges endlich Frieden. Daher Chamberlains Peace-Parole.
Auch der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, begriff, dass Hitler – und die herrschende Militärführung in Japan – nach der Weltherrschaft strebten. Doch gleichzeitig wusste Roosevelt, dass die Amerikaner nach dem Angriff Hitlers auf Polen (September 1939) und erst recht nach dem Sieg der Wehrmacht über Frankreich (Juni 1940) mehrheitlich gegen einen Krieg in Europa und Ostasien waren. Daher beschränkte sich der US-Präsident darauf, Tokio und Berlin zu provozieren. Die Diktaturen taten ihm den Gefallen und lieferten Washington so objektive Gründe zur Kriegsteilnahme.
Wiederkehr des Appeasements
Wiederholt sich die Geschichte? Gleicht das gegenwärtige Geschehen in Syrien jenem am Vorabend des Zweiten Weltkrieges? Karl Marx, der ein schlechter Ökonom, doch ein trefflicher Journalist und Polemiker war, meinte, die Geschichte ereigne sich zunächst als Tragödie, später als Farce. Die Ereignisse in Syrien sind ein Trauerspiel und zugleich eine Farce. Denn die Völker, zumindest jene, die mit der Geschichte vertraut sind, kennen die furchtbaren Folgen des grandiosen Scheiterns der Appeasement-Politik Großbritanniens und Frankreichs Ende der 30er Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts. Daher wird, selbstverständlich nicht als Beschwichtigung, sondern im Namen des Friedens, heute eine Politik favorisiert, die unter allen Umständen ein militärisches Eingreifen der Demokratien in Syrien unmöglich machen will.Um das Assad-Regime an einer Eskalation des Krieges gegen die eigene Bevölkerung zu hindern, zog der amerikanische Präsident eine „rote Linie“. Durch diese Warnung wollte er zumindest den Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die Diktatur und damit zugleich die Notwendigkeit einer militärischen Intervention verhindern. Eine schlaue Doppelstrategie, die allerdings nur greift, wenn die Gegenseite sich der gleichen Logik unterwirft, die eine Demokratie leitet. Hier liegt der Denkfehler pazifistischer Regierungen und Publizisten. Daher setzen genau hier Assad und seine Verbündeten an. Ungeachtet der Drohungen der USA verwendeten sie Giftgas – ungeachtet ziviler Verluste.
Um nicht als Maulhelden zu erscheinen, mussten die Demokraten handeln. Das wäre möglich gewesen, doch die Politiker wollten sich bei ihren Parlamenten rückversichern. Die britischen Abgeordneten agierten nicht im nationalen Interesse, sondern im eigenen und lehnten ein gewaltsames Eingreifen ab. Präsident Obama war gewarnt. Er zog daraus die Konsequenz, sich ebenfalls absichern zu wollen. Da er jedoch keine parlamentarische Niederlage erleiden wollte, schickte er seinen Außenminister Kerry als Minenhund vor. Die Russen ließen sich auf einen Deal ein. Um Assad im Sattel zu halten, nötigten sie ihn zur Zusage, fortan auf seine Giftgaswaffen zu verzichten. Damit haben die USA, haben die westlichen Demokratien insgesamt eine vielfache Niederlage erlitten:
- Sie machen sich vom Wort eines Gewaltherrschers abhängig, der eben noch behauptet hatte, nicht über chemische Kampfstoffe zu verfügen.
- Sie gewähren Assads diktatorischem Regime eine Bestandsgarantie, denn Damaskus kontrolliert die Kampfstoffe und ist daher als Verhandlungspartner unentbehrlich.
- Die bis dahin entschlossenen westlichen Demokratien wie Frankreich, Kanada, Australien, Spanien sind vor dem Kopf gestoßen.
- Die syrische Opposition, die keineswegs nur aus Jihadisten besteht, sieht sich vom Westen im Stich gelassen. Radikale Kräfte werden fortan dominieren.
- Iran, der Verbündete Assads, wird fortfahren, Kernwaffen zu entwickeln.
Wenn du den Frieden willst, sei auf den Krieg vorbereitet, wusste man im antiken Griechenland und Rom. Wer jedoch von vorn herein verkündet, in den internationalen Beziehungen ausschließlich diplomatische Mittel zu verwenden, oder mit dem Einsatz militärischer Mittel droht, mit seiner Politik jedoch zu erkennen gibt, diese nie einzusetzen, büßt Glaubwürdigkeit ein. Das hat fatale Konsequenzen. Denn der Verzicht auf den Einsatz von militärischer Gewalt als ultima ratio, um einen Krieg oder dessen Eskalation zu verhindern, ist ein Freibrief für alle Diktaturen. Sie können fortan Gewalt einsetzen, ohne Bestrafung befürchten zu müssen.
Fazit: Es gibt kein Patentrezept zur Erhaltung des Weltfriedens. Immer wieder wird es Regime geben, die versuchen, ihre speziellen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Sie lassen sich nicht mit friedlichen Absichtserklärungen von ihren Aggressionen abhalten. Im Gegenteil: Das, was sie als Wehrlosigkeit auffassen, stachelt sie zu ihrem expansiven Tun an. Am besten kann man Frieden und Freiheit garantieren, wenn man bereit ist, diese notfalls gewaltsam zu verteidigen. Das mag zarte pazifistische Seelen kränken, es ist jedoch eine Erfahrung, die sich durch die Geschichte zieht.
Rafael Seligmann, RC Berlin-Gendarmenmarkt, ist Historiker, Politologe, Schriftsteller. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und ihre Mitläufer: Hitler, Putin, Trump“ bei Herder (176 Seiten, 18 Euro)
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