Das Gleichgewicht zwischen Erinnerung und Vergessen
Wenn Gegenwart Geschichte wird
Als die Mauer in Berlin gebaut wurde, war ich 14 Jahre alt und lebte in München. In den schwarzweißen Bildern des Fernsehens sah ich die ostdeutschen Baupioniere den Wall hochziehen. Zwischendurch wurde das verlogene Statement des damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht eingeblendet, in dem er einige Wochen zuvor versichert hatte, man denke nicht daran, eine Mauer zu errichten. Bald zeigte das Fernsehen US-Panzer in West-Berlin Richtung Demarkationslinie auffahren. Man hörte, dass sowjetische Truppen bereitstünden, „jede Provokation gegen die DDR“ zurückzuschlagen. Die Erwachsenen, meine Eltern, Lehrer, Bekannte der Familie fürchteten den Ausbruch eines neuen Krieges. Das Schicksal der Berliner und der Menschen in der DDR bekümmerte in München nur wenige. Symptomatisch war die Reaktion unseres Geschichtslehrers: „Und das alles wegen der Preußen, die uns schon die letzten beiden Kriege eingebrockt haben. Soll‘n die doch ihre Suppe alleine auslöffeln! Die Kommunisten und die Preußen“, die ihm gleichermaßen verhasst waren. Fazit: Niemand wollte Krieg, dafür war man bereit, die Menschen im Osten preiszugeben.
Persönliche Erinnerungen
Diese Ereignisse liegen ein halbes Jahrhundert zurück. In wenigen Jahrzehnten werden die letzten Zeitzeugen gestorben sein – wie vor Kurzem der letzte bekannte Soldat des Ersten Weltkrieges. Eine zeitgeschichtliche Würdigung tut not, denn die persönlichen Erinnerungen sind subjektiv und verlöschen zudem. Mein Vater Ludwig, Jahrgang 1907, erzählte mir jeden Winter vom ersten Heimaturlaub seines Vaters Weihnachten 1914. Raphael Isaak war als Feldwebelleutnant der ranghöchste Soldat im bayerischen Städtchen Ichenhausen. Daher wurde er von seinen Söhnen ständig gedrängt, mit ihnen auf die Straße zu gehen, um zu erleben, wie die anderen Fronturlauber vor ihrem Vater salutieren mussten. „Zwanzig Jahre später wurde Vater im Namen Adolf Hitlers das Frontkämpferverdienstkreuz verliehen. Doch als Jude war er ein Mensch zweiter Klasse. Deshalb kehrte Vater seiner deutschen Heimat den Rücken und ging mit seiner Familie nach Palästina.“
In Israel wuchs ich mit Menschen auf, auf deren rechtem Unterarm eine blaue Nummer tätowiert war. Auf die Frage nach deren Bedeutung erklärte mir Mutter: „Diese Menschen waren in Lagern der Nazis, die sie grausam behandelten und viele umbrachten. Auch meinen Bruder Aron und meine Schwester Jente und ihre Kinder.“ So brannten sich diese Nazinummern auch in mein Bewusstsein ein. Heute kenne ich kaum noch Menschen, die diese Tätowierung tragen. Wie erklären wir unseren Nachkommen unsere und damit ihre Geschichte? Während der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Parole vom „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ weit verbreitet. Diese Einstellung ist zu begreifen. Millionen trugen als Wähler Hitlers, als Parteimitglieder der NSDAP mittelbare Verantwortung für die braune Diktatur. Hunderttausende hatten sich als Profiteure und Helfer des Regimes schuldig an dessen Verbrechen gemacht. Ehemalige SS-Leute, Beamte, Richter, Ärzte, Offiziere waren Träger der NS-Diktatur. Sie hatten Teil an den Untaten der Nazis. Nach dem Krieg setzten die meisten ihre Karrieren in der Bundesrepublik und manche auch in der DDR fort.
Schwierige Bewältigung
Hans Globke, der Kommentator der sogenannten Nürnberger Rasse-Gesetze, hatte als Leiter des Bundeskanzleramtes in den fünfziger Jahren eine Schlüsselstellung im politischen Leben der Bundesrepublik inne. In der DDR reüssierte der ehemalige Verbindungsoffizier der Reichswehr zu Adolf Hitler während der Ermordung der SA-Führung 1934 und spätere Wehrmachtsgeneral Vinzenz Müller. Er stieg zum stellvertretenden Verteidigungsminister auf. Eines der Motive der 68er-Bewegung war das Aufbegehren vieler junger Menschen gegen das Verschweigen der Nazi-Vergangenheit in der Generation ihrer Eltern. Doch die Untaten von einst ließen sich spätestens nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und ähnlichen Verfahren nicht länger verheimlichen. Die 68er wollten endlich den Deckel vom Kessel reißen, in dem die deutsche Gesellschaft durch eine unerträgliche Vergangenheit zunehmend erhitzt wurde. Die ungestüme Rebellion der 68er verkehrte bei deren radikalem Flügel die ursprünglich idealistische Absicht jedoch in ihr Gegenteil. Mit Gewalt wollte man eine Utopie schaffen und wurde auf diese Weise ebenfalls schuldig. Mordend versuchte man die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu zerstören. Eine Gruppe selektierte 1976 in Entebbe jüdische Flugpassagiere. Damit war man wieder bei den verbrecherischen Methoden der Väter angelangt, gegen die man sich erhoben hatte. Der Großteil der westdeutschen Gesellschaft dagegen wurde sich zunehmend bewusst, dass sich die Geschichte nicht verdrängen ließ. Mit deutscher Gründlichkeit machte man sich an die „Bewältigung der Vergangenheit“. Der Geschichtsunterricht wurde fast überall auf die Jahre des „Dritten Reiches“ fixiert. Immer wieder wurden die Verbrechen der Nazis und die Mitschuld von Millionen betont. Diese Einengung der tausendjährigen deutschen Geschichte auf ein Dutzend Jahre überforderte viele Schüler. „Ich habe den Eindruck, dass hier manchmal des Guten zu viel getan wird und manche Schüler dies nur schwer verkraften“, erkannte der ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der deutschen Gesellschaft, sahen die Juden fast ausschließlich als Opfer. Dabei ging verloren, dass die Hebräer seit fast zweitausend Jahren Teil der Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft Deutschlands sind.
Als im Herbst 1989 die ostdeutsche Gesellschaft – anders als mehr als vier Jahrzehnte zuvor „die Deutschen“ – die kommunistische Diktatur gewaltlos stürzten und in Berlin die Trennmauer überwanden, waren die meisten Westdeutschen überrascht. Sie hatten sich mit der Teilung Deutschlands und der Beherrschung ihrer Landsleute im Osten durch das SED-Regime stillschweigend abgefunden. Wer sich dieser Mehrheitsmeinung verschloss, wie etwa der Verleger Axel Springer, wurde als Kalter Krieger beschimpft und stigmatisiert. Während der Agonie versuchten die Träger der Diktatur, ähnlich wie 44 Jahre zuvor die Nazis, die sie belastenden Akten zu vernichten. Ein Großteil konnte dennoch gerettet werden. Fortan wurden die Stasi-Unterlagen systematisch durch eine Behörde ausgewertet. Eine kollektive Verdrängung ließ die von Westdeutschland gesteuerte Mehrheitsgesellschaft nicht zu. Dabei geht es weniger um die Bestrafung der Täter: Die Maueropfer können ebenso wenig wie die getöteten Juden „wiedergutgemacht“ werden. Doch die Strukturen des Unrechtsstaates müssen ebenso aufgezeigt werden wie der Wert von Freiheit und Demokratie, die permanent verteidigt werden müssen. Eine Patentlösung, wie mit der Geschichte umzugehen ist, gibt es freilich nicht.
Zwecklose Verdrängung
„Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit“ – vor einem Jahr publizierte der angesehene Althistoriker Christian Meier einen viel beachteten Essay, in dem er darauf hinweist, dass das Vergessen, bzw. das Verdrängen von Verbrechen in der Folge von Kriegen in der griechischen Geschichte als Notwendigkeit angesehen wurde. Allerdings können die antiken Waffengänge nicht mit der systematischen Ermordung von Menschen durch moderne Diktaturen wie die der Nazis oder des SED-Regimes verglichen werden. Dieser Tatsache zollt auch Meier Respekt, indem er die Singularität von Auschwitz betont. Damit allerdings relativiert er seine kecke Eingangsthese.
Wir Menschen sind Wesen der Vergangenheit. Gestern haben wir sprechen, denken, lieben, schöpfen und hassen gelernt. Es ist daher zwecklos, die Geschichte verdrängen zu wollen. Allerdings sollten wir uns nicht ausschließlich mit den Untaten der Historie befassen. Das übersteigt unsere seelischen Kräfte und lässt uns zudem die Errungenschaften der Geschichte und ihrer Persönlichkeiten vergessen. Hitler darf nicht allein das Bild der deutschen Geschichte bestimmen. Dazu gehören auch Heinrich Heine, Max Liebermann, Albert Einstein, Konrad Adenauer, Dietrich Bonhoeffer, Bärbel Bohley. Erst die Balance zwischen dem Gestern und Heute ermöglicht uns ein menschenwürdiges Leben im Morgen.
Weitere Artikel des Autors
11/2023
Ach, Israel!
6/2021
Keine Alternative zur Einigung
11/2016
Der überaus begabte Herr Peres
10/2015
Neue Heimat Deutschland
5/2015
Gefährliches Spiel
2/2014
Vom Kriegshelden zum Staatsmann
10/2013
»Si vis pacem para bellum«
2/2012
Die Folgen des Islamismus
9/2011
Mission nicht erfüllt
5/2011
Lob des Profils
Mehr zum Autor