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Ach, Israel!

Forum - Ach, Israel!
Die Mutter von Antonio Macias weint um ihren Sohn, der auf einem Musikfestival von der Hamas getötet wurde. © francisco seco/picture alliance/associated press

Im Kampf der Kulturen ist Palästina nur ein Symbol. In Wahrheit richtet sich der islamistische Terror gegen die ganze westliche Welt. Da ist Abschreckung für jeden Staat unerlässlich.

Rafael Seligmann01.11.2023

Der Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen Anfang Oktober ist eine neue Qualität des internationalen Terrors. Sie begann am 11. September 2001 mit den Anschlägen gegen das Welthandelszentrum in New York und das Pentagon in Washington. Bis dahin hatten selbst die Nazis im Holocaust oder die Sowjets beim Massenmord an polnischen Offizieren bei Katyn versucht, ihre Verbrechen geheim zu halten. Selbst sprachlich. Die Nazis kreierten die Lügen der „Euthanasie“ und „Endlösung der Judenfrage“. Auf diese Weise sollten die Untaten verschleiert werden. Die Terroristen der Al-Kaida dagegen führten 2001 erstmals ihre Verbrechen aller Welt vor Augen. Der Zweck war eindeutig: „Wir bekämpfen euch Ungläubige mit tödlicher Macht. Wir erreichen euch in euren Zentren. Ihr seid nirgends mehr vor uns sicher. Unterwerft euch! Ansonsten werden wir euch an jedem Ort finden und vernichten.“ Um dieser Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen, folgten entsprechende Terroranschläge in London, Madrid, Paris, Berlin, Brüssel und woanders.

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Doch die demokratischen Länder, an ihrer Spitze die zunächst betroffenen Vereinigten Staaten, dachten damals nicht daran, sich zu ergeben. Im Gegenteil, sie bildeten eine Koalition, die nicht nur aus Demokratien wie Deutschland, sondern auch aus autoritären Staaten bestand, um die Terrororganisation Al-Kaida, aber auch das sie beherbergende Taliban-Regime in Afghanistan anzugreifen und dessen Strukturen – zumindest über Jahre hinweg – zu zerstören. Denn für die USA und ihre Verbündeten stand die Freiheit auf dem Spiel. Diese konnte – und kann – nur mittels einer Abschreckung funktionieren. Freilich gibt es idealistische, fundamentalistische und ängstliche Friedenspolitiker, die überzeugt sind, selbst diktatorische Regime, auch Terrororganisationen, durch das Eingehen auf ihre Forderungen beschwichtigen zu können. Diese Appeasement-Politik war vor 90 Jahren in den europäischen Demokratien tonangebend. Die Politik erlebte ihren Niedergang auf der Münchner Konferenz von 1938, als Großbritannien und Frankreich vor Adolf Hitler kapitulierten und die Tschechoslowakei im Stich ließen. Das Ergebnis war der Zweite Weltkrieg. Das war das Ende der Appeasement-Politik.

Die Schlagkraft der Armee nahm ab

Erst vor gut einem Jahrzehnt lebte die Beschwichtigungspolitik in Europa wieder auf, als Frankreich und Deutschland de facto die ukrainische Krim-Halbinsel Russland überließen. Dessen Herrscher Putin fühlte sich dadurch ermutigt, acht Jahre später die übrige Ukraine anzugreifen.

Auf die Bedeutung des Faktors Abschreckung habe ich in einem Referat im vergangenen August zum 75-jährigen Bestehen Israels vor unseren rotarischen Freunden des RC Berlin-Gendarmenmarkt hingewiesen. Das kleine nahöstliche Land hat sich in diesem Dreivierteljahrhundert zu einer Wohlstandsgesellschaft etabliert. Die Hightech-Industrie ist, neben jener der USA, führend. Man lebt die Demokratie aus. Seit einem Dreivierteljahr tobt eine Auseinandersetzung um eine geplante Justizreform der Regierung Netanjahu, die die Rechte des Obersten Gerichts zugunsten der Exekutive und Legislative einschränken will. Bei dieser innerisraelischen Nabelschau beachtete man zu wenig die legitimen Interessen der Palästinenser. Das Militär wurde in die innenpolitischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Reserveoffiziere, vor allem Elektronik-Spezialisten und Kampfpiloten, verweigerten wegen der Pläne zur Justizreform den Dienst. Die Schlagkraft der Armee und damit die Glaubwürdigkeit der israelischen Abschreckung nahmen ab. Dadurch wurde der Staat zunehmend gefährdet.

Das eigentliche Problem ist der Iran

Die erstrangige militärische Bedrohung Israels geht heute nicht von den arabischen Nachbarn aus – im Gegenteil. In den letzten Jahrzehnten gelang es dem jüdischen Staat, mit einer Reihe arabischer Länder wie Ägypten, Jordanien, Marokko, den Vereinigten Arabischen Emiraten Frieden zu schließen. Zuletzt kam es zu einer Annäherung zwischen Zion und SaudiArabien. Ein Friedensabkommen schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Diese friedliche Perspektive durchkreuzte die Konfliktstrategie des Iran. Die herrschende schiitische Mullah-Diktatur hat sich die Vernichtung Israels auf die vorgeblich religiöse Fahne geschrieben. Wiederum in aller Offenheit. Dies geschieht auf mehrfache Weise. Teheran lässt unter Führung der religiösen Garden Atomsprengköpfe und eine Raketenstreitmacht entwickeln. Zudem unterstützt der Iran die palästinensische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen sowie die schiitische Hisbollah-Miliz in Libanon mit Waffen, Geld und Ausbildung. Teheran fördert permanente militärische Aktionen der Hisbollah und der Hamas gegen Israel. Inwiefern der Iran in die Planung der letzten Terroroperation aus dem Gazastreifen verwickelt war, ist nicht bekannt. Doch das strategische Ziel, Israel zu provozieren und in einen Krieg zu verwickeln, wird vom Iran betrieben und von seinen Verbündeten ausgeführt. Dieses Unterfangen ist der Hamas nun in vollem Umfang gelungen.

Ohne Abschreckung keine Sicherheit

Die Israelis wurden ohnmächtig Zeuge, wie das größte Massaker an Juden nach dem Völkermord der Nazis verübt wurde. 1300 Kinder, Frauen, Alte, Männer wurden systematisch ermordet. Fast 200 in den Gazastreifen verschleppt. Israels Abschreckung hatte versagt. Die Raison d’Être des zionistischen Staates ist und bleibt die Schaffung eines Landes, in dem Juden aus aller Welt eine sichere Heimstatt finden können. Dieses Begehr wurde durch den Überfall der Hamas zerrissen. Die Hamas demonstrierte die Ohnmacht Israels und des Zionismus. Daher endete beim Bekanntwerden des Massakers schlagartig – bis auf Weiteres – der innenpolitische Streit in Zion. Die Israelis verstanden, wie 2001 die Amerikaner und Europäer, dass sie die politische Bedrohung ihrer Freiheit gewaltsam beenden mussten – auch wenn deren Ursachen politisch sind. Während Israels Armee sich auf eine Offensive gegen die Hamas vorbereitete, trieb Teheran die Hisbollah in Libanon an, ihrerseits Israel aus dem Norden durch Attacken zu provozieren. Israel sollte in einen Zweifrontenkrieg verwickelt werden. Jerusalem nahm die Herausforderung an. Und startete seinen umfassenden Gegenangriff.

In Deutschland überwog zunächst die Solidarität mit den Menschen in Israel. Man fühlt sich dem Judenstaat wegen der jüngsten Vergangenheit und der gemeinsamen Demokratie verbunden. Doch mit den Bildern der Zerstörung durch die israelischen Gegenschläge in Gaza, den fliehenden palästinensischen Zivilisten, nahm die Zustimmung zu Israels Vorgehen bei vielen ab. Können die Israelis nicht behutsamer vorgehen? Nein! „Krieg ist ein Akt der Gewalt“, erkannte der deutsche Militärphilosoph Carl von Clausewitz. Das Ziel des israelischen Angriffs ist unmissverständlich die Wiederherstellung der Abschreckung. Gelingt dies nicht, wird der jüdische Staat in Zukunft ständig Opfer von Terror- und anderen militärischen Operationen. Ein sicheres Leben wäre in Israel nicht länger möglich. Das wäre das Ende des jüdischen Staates.

Die Gefahren klar benennen

Manche in Europa und Deutschland meinen, sie könnten sich aus dem Kampf um Israel heraushalten. Das ist eine Illusion. Der Jubel über den Terroranschlag durch viele Islamisten in Europa und Deutschland, die gewaltsamen Aktionen gegen Polizei und die Sicherheitskräfte zeigen, dass die Terrorgefahr und -unterstützung sich bei uns festgesetzt hat – sie war nach 2001 nie weg. Man wollte sie lediglich vergessen. In Frankreich wurden Lehrer, die auf die islamistische Gefahr hinwiesen, ermordet. Der Literaturnobelpreisträger Salman Rushdie überlebte in New York knapp einen Anschlag.

Hundertausende syrische und afghanische Flüchtlinge kommen in unser Land. Darunter sind auch Islamisten. Sie verübten Anschläge – nicht nur gegen Juden. Der freie, der christliche Westen ist ihr Feind. Es hat keinen Sinn, diese Gefahren zu leugnen. Palästina ist nicht der Brennpunkt des „Kampfes der Kulturen“. Es ist ein Symbol. Dennoch muss den Palästinensern eine Perspektive gegeben werden. Sonst suchen viele von ihnen bei Terror- organisationen einen Ausweg. Der lange Israel-Palästina-Krieg ist nur einer von zahlreichen Konflikten in der Region. Diese Auseinandersetzungen lassen sich nicht mit Waffengewalt lösen. Auch wenn die Fähigkeit, sich militärisch zu verteidigen, für die politische Glaubwürdigkeit unerlässlich ist.

Ich hoffe, dass die Solidarität der Demokraten dazu beitragen wird, den Krieg um Israel zu entschärfen. Und dass ich mir weniger Sorgen um meine Tochter und meine Enkelkinder in Israel machen muss.