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Nachruf 

Der überaus begabte Herr Peres

Vom Lieblingsschüler des israelischen Staatsgründers Ben Gurion zum Friedensnobelpreisträger – ein Rückblick auf einen bewegten Lebenslauf

Rafael Seligmann01.11.2016

Shimon Peres war eine weit vielfältigere Persönlichkeit, als dies in seinen gleichförmigen Nachrufen gewürdigt wurde. Der ehemalige israelische Staatspräsident (2007–2014) be­gnügte sich nicht damit, ein „Visionär des Friedens“ zu sein. Denn der Pragmatiker Peres dachte über Visionäre ähnlich wie sein deutscher sozialdemokratischer Genosse Helmut Schmidt, der diese am liebsten in der Klinik gesehen hätte. Peres dagegen war ein ver­antwortungsbewusster Politiker.

Die Sicherheit des nur 20 000 Quadratkilometer kleinen jüdischen Staates hatte für ihn stets Vorrang. Phantasievolle Frie­denspläne entwickelte Peres nur, um das Existenzrecht Zions zu sichern. Er wusste allerdings, dass alles seinen Preis hatte:  Um den Frieden zu gewinnen, musste man Wagnisse eingehen.

Peres’ Tragik

Ein weiteres Klischee gilt es auszuräumen, um dem Lebenswerk des Verstorbenen ge­­recht zu werden. Peres war kei­nes­wegs der „letzte aus der Gründergeneration Israels“. Er gehörte ihr nur am Rande an. Der jüdische Staat wurde im Mai 1948 eta­bliert. Da war Peres, 1923 in Polen gebo­ren und  mit elf Jahren nach Palästina eingewandert,  gerade 25 Jahre alt. Zu jung, um einen maßgeblichen An­­­­teil­ an Er­richtung und Absicherung Israels zu haben. Die überra­gende Gestalt der An­fangs­­phase war David Ben Gurion, der ers­­­te Mi­nis­ter­präsident und Verteidigungs­minister Israels.

Der „Alte“, wie der 1886 geborene Ben Gurion genannt wurde, erkannte allerdings früh die vielfältigen Talente des jungen Kibbuz-Mitglieds. Peres war intel­ligent, durchsetzungsfähig, diszipliniert, charmant und gut aussehend – er war ein Cousin des US-Filmstars Lauren Bacall. Die Tragik Peres’ war, dass er um seine Vorzüge wusste, er war geradezu verliebt ins eigene Ego. Damit nicht genug, ließ er die Mitmenschen seine Überlegenheit spüren. Das sorgt nirgends für Sympathie; in einer so kleinen Gemeinschaft wie dem jüdischen Staat, bei dessen Gründung gerade einmal 600 000 Juden im Lande lebten, hatte dies verheerende Folgen. Zunächst aber stand Peres unter dem Patronat des Alten, den er neben sich als einzige Autorität akzeptierte.

Noch vor der Staatserklärung betraute Ben Gurion Peres neben anderen mit einer elementaren Aufgabe. Er sollte im Ausland insgeheim Waffen für die im Entstehen begriffenen Streitkräfte Zions besorgen. Peres übertraf die Erwartungen seines Mentors. Daher delegierte Ben Gurion seinen Gefolgsmann 1949 ins von ihm geleitete Verteidigungsministerium. Peres erwies sich als  ein dermaßen effizienter Administrator, dass Ben Gurion ihn im Alter von nur 28 Jahren zum Generaldirek­tor und damit faktisch zum amtie­renden Minister machte.

Peres nutzte diese Position mit der ihm eigenen Kompetenz, um Israels Streitkräfte auf Jahrzehnte hinaus mit zukunfts­fähigen Waffen zu versorgen. Ein entscheidender Partner und lebenslanger Freund wurde ihm dabei der deutsche Vertei­digungsminister Franz Josef Strauß. Der Israeli war Sozialist und Jude, der katho­lische Deutsche Chef der Christlich-Konservativen. Doch beide waren unverstellte Machtmenschen. Die Männer mochten und respektierten einander auf Anhieb. Deshalb einigten sie sich rasch auf geheime deutsche Waffenlieferungen an Israel. Vor allem die von Deutschland exportierten US-­Panzer waren von entscheidender Be­­deutung für Zions Heer.

Textilfabrik als Tarnung

In Frankreich beschaffte Peres moderne Mirage-Kampfjets für Israels Luftwaffe. Doch Ben Gurion und sein Lieblingsschüler dachten weit in die Zukunft. Sie begriffen, dass die Streitmacht des Kleinstaates Israel auf Dauer nicht dem überlegenen Potenzial von zwei Dutzend arabischen Staaten und dem Reichtum der Ölstaaten würde standhalten können. Um zu überleben, benötigte Zion eine überzeugende Abschreckungsmacht.

Peres überzeugte das im Algerienkrieg gegen arabische Nationalisten kämpfende Frankreich, Israel insgeheim beim Bau eines Kernreaktors zu unterstützen. Die „Textilfabrik“ im Herzen der Wüste Negev produzierte in den folgenden Jahrzehnten an die 100 Sprengköpfe, die bis heute das Rückgrat von Zions atomarer Abschreckungsmacht bilden.

Parallel zu seiner Arbeit im Verteidigungsministerium startete Peres eine politische Karriere. Unter der Obhut Ben Gurions wurde er sozialdemokratischer Abgeordneter. Doch als Ben Gurion 1965 in die Opposition ging, folgte ihm Peres – und damit in das politische Abseits. Er brauchte vier Jahre, um im Schatten seines Parteifreunds Moshe Dajan wieder in die Arbeiterpartei und damit in die Nähe der politischen Macht zurückzukehren.

Doch die Israelis entschieden sich nicht für Peres, sondern für Yitzhak Rabin. Der ehemalige General und brillante Feldherr Rabin war indessen ein unverstellter Riva­le Peres’. Dieser sei ein „Lügner und Intrigant“, schrieb Rabin in seinen Memoiren. Erst 1977 nach dem Rücktritt des populären Premiers Rabin öffnete sich der Weg an die Spitze der Regierung für Peres. Doch ihm waren nur weni­ge Monate im Amt des Regierungschefs vergönnt. Denn bei der folgenden Wahl ent­schieden sich die Israelis – wie stets bei Wahlen – gegen Peres. Dennoch brachte es der smarte Poli­tiker fertig, ins­gesamt dreimal das Amt des Regierungschefs zu bekleiden. Allerdings nur für kurze Zeit.

Als ich Peres 1978 kennenlernte, war er von den Wählern wieder einmal auf die Oppositionsbank geschickt ­worden. Er wollte nicht begreifen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich einen Regierungschef wünschte, der ihre Ängste ernst nahm und ihre Sehnsüchte teilte.

Peres erhob sich über die Niederungen der Innenpolitik, in dem er sich mit den grundlegenden Fragen des Landes beschäf­tigte. „Auf Dauer müssen wir Frieden mit unseren Nachbarn machen. Doch nicht um den Preis unserer Existenz“, erläu­terte mir Peres. Seit Beginn der 1990er Jahre sah er Iran als die größte Bedrohung Zions an. „Teheran ist unser gefährlichster Feind. Die Mullahs wollen uns mit aller Macht auslöschen. Sie sind dabei, atomare Waffen zu entwickeln und sie zumindest als Droh­potenzial einzusetzen“, sagte er.

Abkommen mit Arafat

Den Konflikt mit den Palästinensern ­dagegen wollte Peres durch einen Kompromissfrieden lösen. Als Außenminister überzeugte er seinen alten Rivalen, Premier Rabin, ein Friedensabkommen mit PLO-Chef Jassir Arafat zu unterzeichnen, das den Palästinensern zunächst Autonomie und später einen eigenen Staat einräumen sollte. Dafür wurde neben Peres und Arafat auch Rabin mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Doch ein knappes Jahr später wurde der Regierungschef von ­einem religiösen jüdischen Fanatiker ermordet. Seinen Platz nahm Peres ein. Bei den folgenden Wahlen entschieden sich die Israelis allerdings wiederum gegen Peres und für den jungen Nationalisten Benjamin Netanyahu. Alle Klugheit, alle Anstrengungen halfen Peres nichts. Die Israelis waren nicht bereit, sich für ihn als Regierungschef zu entscheiden. Es sollte für ihn und seine Arbeitspartei schlimmer kommen. Da Peres keine Chance sah, mit den Sozial­demokraten an die Macht zu gelangen, verließ er seine politische Heimat und schloss sich der Kadima-Partei des Charis­matikers Ariel Sharon an. Er wurde mit dem Amt des stellvertretenden Regierungs­chefs belohnt.

Doch als Sharon kurze Zeit später ins Koma fiel, entschied sich die Kadima gegen Peres. Quasi als Entschädigung wurde er 2007 von seiner Fraktion im Parlament zum Staatspräsidenten gewählt. Ein reprä­sentatives Amt mit vergleichbar wenig politischer Macht wie das des Bundes­präsidenten.

Doch Peres war die neue Position auf den Leib geschneidert. Mit dem Prestige des Friedensnobelpreisträgers etablierte er sich als moralische Institution. Im In- und vor allem im Ausland. Mit ungebrochener Kraft trat er für eine Friedenslösung mit einem eigenständigen palästinensischen Staat ein.

Als Israels größte Herausforderung sah er nicht die arabischen Nachbarn, ja nicht einmal die Terroristen, sondern den Aufbau einer modernen Wissensgesellschaft und einer fortschrittlichen Technologie. Seiner Frau Sonya wurde die permanente Aktivität ihres Mannes zu viel. Sie wollte endlich den Ruhestand genießen, und da Shimon dazu nicht bereit war, trennte sie sich mit Mitte 80 von ihm.

Nach sieben Jahren schied Peres 91-jährig hochgeehrt aus dem Amt des Staats­präsidenten aus. Er wäre nicht abgeneigt ge­we­sen, eine zweite Kadenz anzutreten. Doch allmählich ließen die Kräfte des eisernen Mannes nach. Am Ende musste er sich wie jeder Sterbliche der göttlichen Kraft beugen. 

Ein letztes Mal trafen sich die Großen der Welt zu seiner Beerdigung und rühmten seine Taten. Shimon Peres hätte ihre Lobesworte genossen.