Erinnerungen an Ariel Sharon
Vom Kriegshelden zum Staatsmann
Wer war Ariel Sharon und was ist sein Vermächtnis? Da Rafael Seligmann den israelischen General und ehemaligen Premierminister persönlich gut kannte, war er über die Gleichförmigkeit der Nachrufe in der Presse erstaunt.
Jeder, der sich mit Sharon eingehend beschäftigte, erkannte, dass er eine komplexe Persönlichkeit war. Manche Entscheidungen und Taten Sharons waren falsch, kontrovers, fatal. Doch Sharon war mehr als ein „Bulldozer“, ein rücksichtsloser Haudrauf, gar ein „Metzger“ etc. Er war eine prägende Persönlichkeit des jüdischen Staates, der Vorletzte der Gründergeneration. Der letzte der alten Garde ist der 90-jährige Staatspräsident Shimon Peres.
Ariel Sharon wurde 1928 im Dorf Malal in der Sharon-Küstenebene geboren – daher sein Name. Seine Eltern, Shmuel und Vera Scheinerman, waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor antisemitischen Ausschreitungen aus Russland nach Palästina geflohen. Vera Scheinermann war Hebamme. Sie half unter anderem bei der Geburt des späteren israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin (1913–1992). Sie war als zärtliche Mutter und willensstarke Persönlichkeit bekannt. „Im Vergleich zu meiner Mutter bin ich ein Softie“, sagte mir Sharon lachend.
Die Eltern gaben ihrem Sohn den Namen Ariel, was „Gottes Löwe“ bedeutet. Entsprechend erzog Vater Shmuel seinen Sprössling. Er wollte Ariel zu einer wehrhaften Persönlichkeit formen. Sein Sohn sollte anders als die passiven europäischen Juden, die Gefahren und Verfolgungen flohen, jederzeit bereit sein, um seine und die Rechte seines Volkes zu kämpfen. Scheinerman hatte Erfolg. Sein Lebtag focht Ariel Sharon gegen die eigene Angst an.
Kindheit auf dem Bauernhof
Doch Ariel konnte nicht nur kämpfen. Seine Eltern lehrten den Buben, das Land zu lieben. Arik, die Koseform, wollte Bauer sein. Er lernte Geige spielen und sich an Musik zu erfreuen. Bis zuletzt besuchte er symphonische Konzerte. Auch der seinerzeit in Palästina gängige Sozialismus war nicht Sache der Eltern. Sie legten mehr Wert auf bürgerliche Tugenden wie Bildung und gute Tischmanieren.
Das Leben auf dem kleinen Bauernhof in Malal war keine Idylle. Denn seit 1936 befanden sich die Araber Palästinas im Aufstand. Sie bekämpften mit Waffengewalt die jüdische Gemeinschaft, von der sie wussten, dass sie einen jüdischen Staat anstrebte. Das bedeutete ständige Überfälle. Mit 14 Jahren meldete sich Arik Sharon zur Jugendorganisation der Hagana, der jüdischen Verteidigungsorganisation. Daneben absolvierte er das Gymnasium.
Als 1948 Israels Unabhängigkeitskrieg nach einem entsprechenden UNO-Beschluss begann, meldete sich Sharon umgehend zu den Waffen. Seine Tapferkeit fiel auf. Doch er erlitt einen schweren Bauchschuss. Sobald er gehen konnte, meldete er sich wieder bei der Truppe.
1949, nach dem Ende des Krieges, bei dem jeder dreißigste israelische Soldat gefallen war, studierte Ariel in Jerusalem endlich die Geschichte seines Volkes und der Region. Er verbesserte sein Arabisch. Das akademische Vergnügen währte gerade zwei Jahre. Dann wurde Sharon erneut zu den Waffen gerufen. Die 30.000-Mann-Armee Israels war zu klein, um die 963 Kilometer lange Grenze gegen das Eindringen der Fedayeen, der arabischen Untergrundkämpfer, abzuriegeln, die mit Unterstützung der regulären arabischen Armeen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland israelische Zivilisten terrorisierten. Auf Befehl von General Dayan schuf Sharon eine Konter-Guerilla. Gerade einmal drei Dutzend Mann, die sich darauf spezialisierten, die Stützpunkte der Guerilleros und der Armeen auf arabischem Territorium anzugreifen. Sharons Einheit 101 kämpfte rücksichtslos. Neben Untergrundkämpfern gab es auch zivile Opfer. Auch in der eigenen Armee war Sharon bald ob seiner Eigenwilligkeit berüchtigt.
Held des Sechs-Tage-Kriegs
Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 erwies sich Sharon als brillanter Divisionskommandeur. Seine Panzertruppe umging die ägyptischen Stellungen und zerschnitt stattdessen die Nachschublinien des Feindes. In wenigen Tagen durchquerte seine Division die Sinai-Halbinsel und erreichte den Suezkanal. Das war die Kriegsentscheidung. Als jüngster General erwartete Sharon seine Promotion zum Generalstabschef. Als diese nicht zuletzt aufgrund seiner Eigensinnigkeit ausblieb, zog Sharon im Sommer 1973 seine Uniform aus und gründete den bürgerlichen Likud-Block in Konkurrenz zur regierenden Arbeitspartei. Doch die politische Karriere währte nur kurz. Im Oktober 1973 griffen die Armeen Ägyptens und Syriens Israel simultan an. Ägyptens Truppe drang tief in den Sinai ein. Verteidigungsminister Moshe Dayan orakelte düster, das Ende Israels stehe bevor. Der reaktivierte Sharon ließ sich nicht beirren. Mit seiner Panzertruppe überquerte er gegen ausdrücklichen Befehl des Armeeoberkommandos den Suezkanal Richtung Afrika. In gewohnter Manier zerschnitt seine Division die ägyptischen Nachschublinien und lähmte damit Kairos Armee. Der Krieg war entschieden. Die israelischen Soldaten, ja das ganze Volk, jubelte: „Arik, König Israels“.
Sharons Militärphilosophie, Entscheidungen zu erzwingen, erwies sich in der Politik jedoch als fatal. Als Verteidigungsminister wollte er die palästinensische Untergrundorganisation Fatach militärisch besiegen und damit deren Kommandeur Yasser Arafat ausschalten. Mit Israel verbündete christliche Milizen nutzten die Gelegenheit, Rache an den Palästinensern zu üben. Es kam zu den Massakern von Sabra und Shatilla. Frauen und Kinder wurden ermordet. Die israelische Armee griff nicht ein. Sharon trug als Minister die Verantwortung und musste sein Amt aufgeben.
Im Sommer 1984 besuchte ich Sharon auf dessen Farm am Rande der Negev-Wüste. Ich hatte einen harschen Ex-Militär erwartet. Doch Sharon erwies sich als zärtlicher Ehemann gegenüber seiner Frau Lily und als liebevoller Vater seines Sohns Gilad. Mir gegenüber war er ein höflicher Gastgeber. Da sein Terminplan gedrängt war, sagte er mir eine halbe Stunde zu. Doch da ihn unser Gespräch zunehmend interessierte, zog es sich länger als vier Stunden hin.
Die erste Überraschung, im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute verstand sich Sharon in erster Linie nicht als Israeli: „Ich liebe mein Land, ich habe länger als dreißig Jahre für Israel gekämpft. Doch noch wichtiger ist mein Verständnis als Jude. Das Judentum ist die Wurzel unserer Geschichte und unseres heutigen Staates Israel.“
Wechsel der Perspektive
Sharon hatte die Zeit nach seinen Rauswurf als Verteidigungsminister genutzt, um das Konzept eines „modernen Israels“ zu entwerfen. Bei aller Liebe zur Landwirtschaft wusste er, dass sein Land auf Dauer nicht vom Export von Jaffa-Orangen und den Melonen seiner Farmen bestehen konnte. „Wir müssen eine Wissensgesellschaft werden. Wir brauchen Leute, die Initiative und Knowhow besitzen, um Israel mit moderner Technologie zu einer weltweit führenden Nation zu machen“, erläuterte er mir. Nach einem ausgiebigen Essen, bei dem ich seinen immensen Appetit bestaunte, verabschiedete er mich freundlich. Wir blieben fortan in Verbindung.
In den folgenden Jahren förderte Sharon den Ausbau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten. Nach wie vor suchte er das Palästinenserproblem militärisch zu lösen. Doch als Ariel Sharon im Jahre 2000 zum israelischen Premierminister gewählt wurde, änderte sich seine Perspektive. „Von hier (dem Büro des Ministerpräsidenten) sieht man die Sachen anders als zuvor.“ Sharon begriff, dass er fortan politisch agieren musste. Er intensivierte das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Europa. In Deutschland sah er „den besten Freund Israels auf dem Kontinent“. Er isolierte PLO-Chef Arafat und ordnete einen einseitigen Rückzug Israels aus dem palästinensischen Gazastreifen an. Dabei ließ er die jüdischen Siedlungen räumen, deren Bau er einst unterstützt hatte.
Sharon drängte auf eine Lösung des Palästinenserproblems mit gemäßigten arabischen und westlichen Führern. Als sein Likud ihm dabei nicht folgen wollte, gründete er eine neue Partei, die Kadima (Vorwärts), die auf ihn ausgerichtet war. Doch die rasche Vorwärtsbewegung zum Frieden blieb Sharon versagt. Er fiel ins Koma.
Ariel Sharon kämpfte sein Lebtag für die Sicherheit des jüdischen Staates. Er war ein Kriegsheld, ein skrupelloser Soldat. Erst die letzten Jahre wandelte er sich zum Staatsmann auf dem Weg zum Frieden. Sein Werk muss vollendet werden.
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