Zeitgenössische Künstler aus Polen
Poesie auf allen Kanälen
Vom Westen Europas oftmals ignoriert, hat sich unser östlicher Nachbar in den vergangenen Jahren beachtenswert entwickelt. Vor allem die Hauptstadt Warschau ist längst eine pulsierende Metropole. Die Beiträge des Titelthemas der September-Ausgabe widmen sich einem Land und einer Gesellschaft, über die die Deutschen immer noch zu wenig wissen – obwohl deren Schicksal ganz wesentlich mit dem unsrigen verbunden ist.
Seit vielen Jahren stehen polnische Künstler an der Spitze der europäischen Avantgarde. Unter den Altmeistern ist etwa Stanis?aw Dró?d? (1939–2009) zu nennen, der als berühmtester Protagonist der polnischen Konkreten Poesie gilt, und sich in seinen Arbeiten vor allem der Verbindung zwischen Wort und Raum widmete. Eine Schlüsselfigur in der osteuropäischen Videokunst und Begründer der polnischen Film-Avantgarde ist Józef Robakowski (ebenfalls Jahrgang 1939 und heute in Lodsch lebend). Und eine der bekanntesten Performance- und Fotokünstlerinnen ist Zofia Kulik (1947 in Breslau geboren, heute in Warschau). Dem gleichen Jahrgang wie Kulik gehört auch Ryszard Wasko an, der heute in Berlin lebt, und vorwiegend im Multimediabereich arbeitete, darunter Fotografie, Film, Video, Installation, Malerei und Zeichnung.
Kritische Blicke auf die Zeit
Doch auch die mittlere und jüngere Generation polnischer Künstler ist beachtenswert. So ist etwa Katarzyna Kozyra (1963 in Warschau geboren, heute ebenda und in Berlin lebend) Polens derzeit bekannteste Künstlerin. In den 1990er Jahren initiierte sie gemeinsam mit Artur ?mijewski und Pawe? Althamer die Bewegung der kritischen Kunst. Von Anfang an hat Kozyra alle sozialen Tabus gebrochen, wie Nacktheit, Alter und Tod, weshalb sie die konservative polnische Gesellschaft als kontrovers einstuft. Sie fand jedoch internationale Anerkennung und vertrat Polen 1999 auf der 48. Biennale di Venezia, wo sie eine „Lobende Erwähnung“ erhielt.
Seit seinem Abschluss als Maler am Royal College of Art in London 1995 ist auch Dominik Lejman, der 1969 in Danzig geboren wurde und heute in Posen und Berlin lebt, einer der führenden Künstler seiner Generation, die eine neue Medienkunst geschaffen hat: Er begann, die Disziplin des Malens mit seinen Videoaufzeichnungen zu vermischen und einen neuen Dialog in Hinsicht auf die Wahrnehmung einzuführen. Diese Verschmelzungen provozieren und konfrontieren unsere Vorurteile darüber, was ein Gemälde unserer Meinung nach sein sollte.
Mit der Erschaffung öffentlicher Projekte, Filme, Installationen sowie kurzlebigen Aktionen und Interventionen im städtischen Raum befasst sich Joanna Rajkowska, die 1968 in Bromberg (Bydgoszcz) geboren wurde und heute in London und Warschau lebt. In Rajkowskas Projekten geht es normalerweise um einen bestimmten Ort, der historisch oder ideologisch eine große Bedeutung hat, belegt mit einem Mangel an Identität oder Trauma. Ihre künstlerische Tätigkeit besteht darin, solchen Orten intuitive, nahezu physikalische Antworten zu geben. Sie schafft Räume, die eine Person primär alleine erfährt, zusammen mit einer anderen Person, in Harmonie mit ihrem eigenen Körper, ohne verbal kommunizieren zu müssen.
Eine neue Medienkunst
Die Gegenwart wird inzwischen maßgeblich von den 1970er Jahrgängen geprägt. Einer der spannendsten Künstler dieser Generation ist Hubert Czerepok, der 1973 in S?ubice (Frankfurt/Oder-Dammvorstadt) geboren wurde und heute in Breslau lebt. Czerepok sucht die Quelle des Chaos in der Welt, indem er die Systeme, auf denen die Welt basiert, unterminiert und kompromittiert. Seine Lieblingsthemen umfassen die Kunstwelt, Verschwörungstheorien, paranormale Phänomene, das Gute und das Böse sowie die Geschichte der Welt und der Gesellschaft. Er sucht überall im System die Viren: im Bösen, im Glück, in der Feindseligkeit oder der blanken Dummheit. Er schrieb (einen bis heute unbeantworteten) Brief an den Papst, in dem er die Rücknahme eines Fluches von einer kleinen Stadt in Schlesien forderte, er untersuchte die Geschichte der UFO-Fahrzeuge der Nazis und unterrichtete Kinder im Bau von Atombomben (aus Holz). Seine Quellen sind die Medien, das Internet und historische Bücher. Er sucht nach Unvollkommenheiten der Realität und spart dabei nichts aus, weder die Geschichte, noch die Religion oder Wissenschaft. Er demonstriert die Schwäche des menschlichen Geistes, indem er die Grenzen von Wissen, Vorstellungskraft und Logik untersucht und die Sphären des Irrationalen erforscht. Dabei ist Czerepok kein Moralist: Er will einfach nur die Skala des Wahnsinns in der Realität aufzeigen.
Präzision und Fehler
Spannend sind auch die Arbeiten der Bildhauerin Marlena Kudlicka (geboren 1973 in Posen, heute in Berlin lebend). Kudlicka ist insbesondere interessiert an der Beziehung zwischen Präzision und Fehler: Ihre Skulpturen sind mit der Präzision eines Schmuckherstellers gefertigt, aber zugleich wird in den Prozess ihrer Erschaffung ein Fehler eingearbeitet. Diese Beziehung führt immer wieder zu einer Balance, nicht nur beispielsweise zwischen Zahlen und dem geschriebenen Wort oder Dimensionen und Farbe, sondern auch zu einer Balance von Gewichten. Ihre Skulpturen basieren auf statistischen Berechnungen, weshalb sie über dem Boden zu schweben scheinen, und weshalb wir bei deren Betrachtung die Schwerkraft anzweifeln oder auf Zehenspitzen um sie herumschleichen. Ein Schlüsselelement in Kudlickas Werk ist auch die Sprache. Der Titel ist stets ein integrer Bestandteil ihrer Kunst.
Aus den 1970er Jahrgängen ist unbedingt auch Micha? Jankowski zu nennen, der 1977 in Grünberg (Zielona Góra) geboren wurde und dort immer noch lebt. Seine Gemälde erreichen die verborgensten Regionen des Unterbewusstseins. Geboren aus Furcht materialisieren sie sich selbst in Albträumen. Depression und Qual sind die Quelle von Geheimnissen, oft von absurden Visionen, die tierähnliche Menschen und menschenähnliche Tiere darstellen. Die Faszination des Bösen oder das Unglaubliche an Jankowskis Arbeiten ist nicht in der Ethik begründet; sie ist rein ästhetischer Natur. Die Grausamkeit in seinem Werk ist nichts als ein großes Spektakel; die Widerwärtigkeit zieht den Betrachter eher an als das sie ihn abstößt. Zugleich ist Jankowski inspiriert durch die alten flämischen und niederländischen Maler; doch anstatt Obst und imposante Kristallgläser abzubilden, von denen vielleicht eine gemalte Zitronenschale herabhängt, gibt es in seinen Werken eine alte Pfanne mit Löchern, eine zerbrochene Zuckerdose und eine Reihe von Kakerlaken auf einer Porzellanplatte. So bahnt sich die schmutzige Realität ihren Weg in die idealisierte Welt der Schönheit.
Die Malerei ist auch das Hauptmedium Pawe? Ksi??eks (1973 in Andrychów geboren, heute in Krakau lebend). Bevor Ksi??ek nach seinem Pinsel greift, sucht er ikonographische Quellen im Internet, in Büchern, Fotografien, Filmen (meist aus den 1920ern bis 30ern) und der Musik. Der Forschungsprozess ist für ihn das Wichtigste. Er gräbt Bilder aus, um Informationen zusammenzutragen, die schließlich in einem Kernproblem münden. Seine Serie von Gemälden und Objekten dient als eloquente und kraftvoll durchgeführte, förmliche Aufzeichnung dieses Prozesses. Ksi??ek mischt effektiv Pop und Hochkultur sowie die Vergangenheit mit Visionen der Zukunft. Ein weiterer wesentlicher Aspekt seiner Arbeit ist, dass er nicht nur enormen Wert auf den Inhalt legt, sondern auch auf die Maltechniken. Ksi??ek verwendet alte Maltechniken, die ihre Beliebtheit verloren haben, wie etwa Lasur.
Ganz anders ist wiederum die Kunst von Natalia Stachon (geboren 1976 in Katowitz, heute in Berlin wirkend). Stachon schafft einen skulpturellen Dialog mit dem Raum, mit dem sie arbeitet, indem sie ihre Konzepte in raumgreifende, architektonische Konstruktionen verwandelt. Ihre Kompositionen sind geometrisch konstruierte Strukturen, die nicht nur fühlbar sind, sondern die ihre klare, plastische Brillanz als Mittel nutzen, ein Medium ohne Materialität zu schaffen, indem sie nicht greifbares Licht als grundlegendes Rohmaterial verwendet. Diese Kombinationen von transparentem Material und soliden industriellen Festkörpern zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und geleitet ihn durch ihre dreidimensionalen, zeichnungsähnlichen Strukturen. Man könnte sagen, dass ihre Arbeiten die Verkörperung von Walter Benjamins Idee eines „dialektischen Bildes“ sind, als eine Transformation, in der Vergangenheit und Gegenwart ineinander greifen, um eine neue Existenz zu formen.
Die nächste Generation
Auch die 1980er Jahre haben inzwischen erste Spuren in der Kunstlandschaft hinterlassen. Zu nennen ist hier u.a. Szymon Kobylarz (1981 in Schwientochlowitz/?wi?toch?owice geboren, heute in Kattowitz lebend). Kobylarz erschafft Bilder, Skulpturen und Installationen. Er interessiert sich weniger für die gewöhnliche Realität als für das Versagen der Imitation. Seine Bilder bestehen aus Malereien, die Fotografien oder einfachen Rissen in der Decke gleichen. Beides fließt ihm mit solcher Leichtigkeit zu, dass er das Medium bis zur Perfektion und zugleich zur Absurdität drängt. Wo andere Künstler ihre Hand trainieren, spielt Kobylarz mit den Sinnen und dem (gesunden) Verstand. Er malt das, was ist, und vermittelt dabei den Eindruck einer Fiktion, oder von etwas, das nie existiert hat, oder das trügerisch echt ist.
Eine der interessantesten Künstlerinnen der Generation, die Mitte der 1980er Jahre geboren wurde, ist Agnieszka Polska (geboren 1985 in Lublin, heute in Warschau lebend). Ihre Hauptmedien sind Video und Fotografie. Die Quellmaterialien ihrer Arbeiten sind Illustrationen aus Zeitungen, Magazinen und Textbüchern aus den 1920er bis 1960er Jahren. Sie interessiert sich für die Ästhetik dieser alten bildlichen Darstellungen – in schlechter Qualität oder Raster –, die wiederum ihren Animationen eine altmodische Dokumentationsqualität verleihen. Auf den ersten Blick scheinen wir typische bildliche Darstellungen aus alter Zeit zu sehen. Bei näherer Betrachtung jedoch sehen wir, das etwas am Bild verändert wurde, oder dass sich ein vermeintliches Stillleben in einem der Videos sehr langsam zu bewegen beginnt. So stellt Polska dem Betrachter die Frage nach der Evolution der Erinnerung und nach der Leichtigkeit, mit der unsere geschichtliche Rückerinnerung beeinflusst werden kann. Alte Fotografie ist für sie nicht das Ziel des Kunstwerks; es ist vielmehr ein Material (eine Sprache), das sie nutzt, um gewisse Phänomene in der Geschichte und Kunstgeschichte zu analysieren. Polska behandelt die Kunst als ein Archiv und übernimmt die Rolle einer archivalischen Kritikerin oder Bibliothekarin. Sie interessiert sich jedoch nicht dafür, was noch archiviert werden muss, sondern dafür, was vergessen wurde.
Autorinnen:
Asia Zak und Monika Branicka gründeten 2007 die Galerie Zak-Branicka in Berlin, die als wichtigste Plattform für zeitgenössische Kunst aus Polen und dem Baltikum gilt.