Nature Writing
Robert Macfarlane: Alte Wege
Macfarlane folgt den alten Wegen - jenen Pfaden, Hohlstraßen, Fuhrten, Feld- und Seewegen, die seit der Antike die menschlichen Siedlungsräume miteinander verbinden. Eine Leseprobe
Robert Macfarlane, Judith Schalnsky (Hg.): Alte Wege, Matthes & Seitz, Berlin 2016, 400 Seiten, 32 Euro
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Menschen sind Tiere, und wie alle Tiere hinterlassen wir auf Schritt und Tritt Spuren: sichtbare Zeichen in Schnee, Sand, Schlamm, Gras, Tau, Erde oder Moos. Die Jägersprache besitzt ein lichtes Wort für diese Art von Ein- und
Abdruck: Fährte. Die Fährte eines Tieres ist seine Spur. Nur vergessen wir heute oftmals, dass auch wir Spuren hinterlassen, weil wir zumeist auf Asphalt oder Beton laufen – Materialien, die nicht leicht zu prägen sind.
"Immer und überall sind Menschen gegangen und haben die Erde mit sichtbaren und unsichtbaren, symmetrischen und mäandernden Pfaden überzogen", schreibt Thomas Clark in seinem eindrücklichen Prosagedicht "In Praise of Walking" (Lob des Wanderns). Tatsächlich sieht jeder, der seine Aufmerksamkeit auf Pfade und Wege richtet, dass die Landschaft von ihnen durchfurcht ist – im Schatten des modernen Straßennetzes, das sie zuweilen schräg oder im rechten Winkel kreuzen. Spricht man all die verschiedenen Namen für Wege schnell vor sich hin, werden sie gleichsam zum Gedicht oder zur Liturgie : Saumpfade, Pilgerpfade, Feldwege, Viehtrifte, Leichenwege,
Trampelpfade, Stege, Ley-Linien, Deichwege, Heckenwege, Handelspfade, Treidelpfade, Pässe, Gassen, Pisten, Gehsteige, Chausseen, Hohlwege, Wanderwege, Kreuzwege, Dammwege, Kirchwege, Seewege, Reitwege, Heidewege, Rennsteige.
In vielen Regionen gibt es noch die alten Wege, Verbindungstrassen zwischen den Orten, die über Pässe oder um Berge herum zu einer Kirche oder Kapelle, zu einem Fluss oder zum Meer führen. Nicht alle zeugen von einer
frohen Vergangenheit. In Irland gibt es Hunderte Meilen famine roads: In den 1840 er Jahren von verhungernden Menschen für fast nichts erbaute und ins Nichts führende Straßen, die auf keiner amtlichen Grundkarte verzeichnet
sind. In den Niederlanden gibt es doodwegen und spookwegen – die Straßen der Toten und der Geister –, die zu den mittelalterlichen Friedhöfen führen. Spanien verfügt nicht nur über ein breites, funktionstüchtiges Netz an cañada, den Viehtriften, sondern hat auch den zigtausend Kilometer langen Camino de Santiago, dessen weit verzweigtes Wegenetz die Pilger zum Schrein in Santiago de Compostela führt. Auf dem Jakobsweg zählt jeder Schritt zweifach, einmal auf dem tatsächlichen Weg und einmal auf dem Weg des Glaubens. In Schottland gibt es clachan und rathad – schmale, gepflasterte Straßen und Gebirgspfade – und in Japan kleine Landwege, die der Dichter Basho in seinem Band "Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland" von 1689 beschreibt. Die amerikanischen Prärien des 19. Jahrhunderts sind von breiten Bisonwegen durchschnitten, die von dichten Bisonherden geschaffen wurden und auf denen später die ersten Siedler über die "Great Plains" nach Westen zogen.
Geschichtsträchtige Wege gibt es nicht nur an Land, sondern auch auf dem Wasser. Die Ozeane sind durchfurcht von Seewegen – Routen, deren Verlauf von den vorherrschenden Winden und Strömungen bestimmt ist –, und Flüsse zählen zu den ältesten Wegen überhaupt. Zum abgelegenen Zanskar-Tal im indischen Himalaya-Gebirge gibt es in den Wintermonaten nur einen einzigen Zugang: über den zugefrorenen Fluss. Der Zanskar fließt durch steilwandige Täler aus Schiefergestein, an deren Hängen Schneeleoparden jagen. In den tieferen Becken ist das Eis blau und klar. Möchte jemand die Reise den Fluss hinab antreten, chadar genannt, begleiten ihn die "Eislotsen", erfahrene Wanderer, die alle Gefahren kennen. ...
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