Forum
Schatzsuche in Seele und Klaviatur
In seinen soeben erschienenen Memoiren gibt der „Liedbegleiter“ Helmut Deutsch Einblicke in sein Leben und in die Welt der Musik
Es ist dies Blau in Johannes Brahms‘ „Feldeinsamkeit“, das ihm auch heute noch, nachdem er dieses Lied schon hunderte Male gehört und am Flügel gestaltet hat, einen wohligen Schauer beschert. Der am Heiligen Abend 1945 in Wien geborene Pianist Helmut Deutsch blickt heute auf mehr als fünfzig Jahre Berufserfahrung. Seinen ersten Konzertabend als Liedbegleiter von Irmgard Seefried, der unvergessenen lyrischen Sopranistin, die Weltruhm erntete, gab er 1969. Wie ein Monolith steht er seit Jahrzehnten in seinem Fach für Erfolg, Kontinuität und Entdeckerdrang. Auch als Lehrender für Pianisten und Sänger, als Juror, Ratgeber, seit 2018 auch als Wettbewerbsinitiator lebt er seine bedingungslose Liebe zum Lied, zum Gesang. Müdigkeit ist dabei nicht zu spüren, ein wenig „Altersmilde“ in fortgeschrittenen Jahren würde er hingegen zugeben. Die Elite der international gefeierten Sänger wird begleitet von Helmut Deutsch.
Prägung durch die Musikstadt Wien
Schon früh prägte ihn sein Elternhaus mit klassischer Musik. Beide Eltern waren musikaffine Naturwissenschaftler, sie hatten sich im legendären Singverein der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde kennengelernt. Mit neun begann er das Klavierspiel; das Üben war nicht so seine Sache, das Klavierexzerpt von Beethovens 5. Sinfonie mit größtmöglicher Kraftentfaltung für den geliebten Großvater zu zelebrieren, hingegen schon. „Tschingbum-Musik“ war zu Hause verpönt, die begehrte, vom Schulkameraden geliehene Elvis-Presley-LP musste der Vierzehnjährige also gleich zurückgeben. „An der Stimme nicht viel dran, aber das Blattsingen war gut“, beschied dem Sechzehnjährigen der damalige Singvereins-Chordirektor. So wurde auch er dort aufgenommen, erlebte unter Karajans Leitung ganz stark auf ihn einwirkende musikalische Eindrücke. Franz Liszt wurde sein Hausheiliger. Komposition, Dirigieren und Klavier studierte Helmut Deutsch in Wien in atemberaubendem Tempo, hatte im Alter von 21 drei Diplome in der Tasche und den Kompositionspreis der Stadt Wien mit dazu. Der reichte ihm, um diesen potenziellen Karrierezweig rasch zu beenden; als Dirigent mit dem Studentenchor zu arbeiten, fand er eher furchteinflößend. So rückte das Klavier ganz in den Lebensmittelpunkt. Es sollte der Liedgesang werden, den er wie kaum ein zweiter nicht nur zum Beruf, sondern zur Berufung werden ließ.
„Gesang auf Händen tragen“ heißt denn auch seine Autobiographie, die gerade im Leipziger Henschel-Verlag erschienen ist. Helmut Deutsch beschreibt sein Leben als Liedbegleiter auf 240 Seiten. Kein geringerer als Alfred Brendel hat das Vorwort geschrieben; man ahnt also, dass es sich bei diesem Buch um einen Hochkaräter handeln muss. Für Menschen, die dem Liedgesang gewogen sind, ist diese Schatztruhe aus Papier ein Lese-Muss. Für diejenigen, die noch nicht so recht wissen, was es denn mit dem Faszinosum Lied auf sich hat, darf man es als schmackhafte Einstiegslektüre empfehlen.
Helmut Deutsch geht gleich in medias res, braucht kein Leser-Warm-up. Er greift nach einem beglückenden Moment, man sitzt im August 2018 im großen Salzburger Festspielhaus. Zwei der besonders Begnadeten stehen neben ihm: Diana Damrau und Jonas Kaufmann, auf dem Programm Hugo Wolfs selten zu hörendes „Italienisches Liederbuch“. Und man bekommt als Leser so ein großes Stück von dieser Glücksgefühltorte zu kosten, die vor allem dann schmeckt, wenn einfach alles stimmt. Für die Künstler, fürs Publikum, für den Veranstalter.
Porträts großartiger Künstler
Dann gibt es einen Zeitsprung und unversehens tummelt man sich 1980 in Seoul neben verblüffend jungem Publikum. Am Flügel Helmut Deutsch, als Sänger steht Hermann Prey auf der Bühne, mit dem ihn eine besonders intensive, lange Schaffensperiode verbindet. Freimütig, mit Augenzwinkern und einer großen Portion Selbstironie malt Deutsch in diesem Buch zahlreiche Porträts seiner Zusammenarbeit mit den großen Sängerinnen und Sängern der letzten Jahrzehnte. Wie seine Freundin Sena Jurinac ihm den Kopf wäscht, er mit Matthias Goerne eine laue römische Sommernacht lang auf der Hoteltreppe über Wein und Musik philosophiert, für Angelika Kirchschlager Kinderfürsorge übernimmt, dann doch der kaum vorbereiteten Rita Streich grollt, die sich von ihm „geschulmeistert“ hält, oder wie er bei Camilla Nylund schlicht ins Schwärmen gerät, lädt auf unprätentiöse Weise dazu ein, in dieses Leben einen kurzen Moment hineinzutauchen. Wie es sich anfühlt, an der Seite seines ehemaligen Studenten Jonas Kaufmann von ersten kleinen Kirchenkonzerten in Bayern und Österreich bis zur Carnegie Hall oder MET mit ihren knapp 4.000 Plätzen zu musizieren, darf man lesend mitverfolgen, genauso wie seine Begeisterung für den jungen Mauro Peter, den er doch lieber keinem anderen Liedbegleiter-Kollegen „überlassen“ wollte.
In diesem Kaleidoskop an Begegnungen gibt es reichlich Anekdotenfutter, aber keine rosa Soße. Helmut Deutsch nimmt die Charaktere seiner Schützlinge mit bestechend genauer Wahrnehmung auf. „Sänger haben unter uns mimosenhaften Musikern die wahrscheinlich dünnste Haut.“ Und auch, wenn sich im Laufe der in diesem Buch höchst spannend dargestellten Entwicklung der Gattung Liederabend, der Klavierpart für Deutsch heute in einer absolut gleichberechtigten Rolle emanzipiert hat, hat sich seine Haltung nicht verändert: „Der Sänger ist für mich die Nr. 1 in einem Team von zwei Künstlern.“ „Natürlich gibt es keine Geheimnisse“, die ihn zum Erfolg geführt haben, stellt Deutsch ganz nüchtern fest. Die Mischung aus Begabung, Fleiß, Beharrlichkeit, Zufällen und entscheidenden Begegnungen hat eine Biographie wachsen lassen, die man mit Verblüffung liest. Als Repetitor vom Amateur bis zum Wagner-Sänger an der MET hat er geackert, war „Pianist vom Dienst“ für Wettbewerbe und Agenturen. Eine besondere Affinität entwickelte er zu Japan. Dass er als junger Pianist eine Brieffreundschaft mit der zwölfjährigen Tomoko, die im von ihm begleiteten Kinderchor von Odawara sang, pflegte und auf Japanisch (!) über ihre aufgeschürften Knie korrespondierte, gibt einen der kleinen Hinweise zwischen den Zeilen, in denen man diesem Pianisten menschlich nahe kommt. Das tut gut, verringert auf angenehme Weise die Sockelhöhe zwischen Künstler und Leser.
Einblicke in die Fachwelt
Ein Gewinn sind die Abschnitte, die einen gut verständlichen Fachexkurs bieten. Hier geht es um die Feinheiten des Übens, Essenzielles in der Arbeit mit Sängern, Werktreue und Freiheiten, subtil wie erheiternd wird das Thema „Notenwender“ beleuchtet. Zentral wie unmissverständlich meldet sich auch der Pädagoge Deutsch zu Wort, der offen zugibt, in jungen Jahren eher streng, sarkastisch und arrogant gewirkt zu haben, um eigene Unsicherheiten zu übertünchen. Er lehrte an den Musikhochschulen in Wien, München, Frankfurt oder Salzburg, Masterclasses gibt er nach wie vor. Sein ernüchterndes Fazit zu den europäischen Ausbildungsinstituten lautet: „Es liegt nicht zuletzt am bürokratischen System, dass Musikhochschulen keine Elite, sondern meist nur Durchschnitt ausbilden.“ Eine mahnende Haltung, mit der er sich nicht unbedingt nur Freunde gemacht hat.
Die Handschrift eines Komponisten fasziniert ihn genauso, wie die Lyrik der Texte. Ist ein „piano“ bei Mendelssohn das gleiche wie bei Brahms, was heißt denn eigentlich „nicht schnell?“. Das „Füllhorn an Emotion, Gedanken, Bildern, das im Lied in nur wenigen Minuten ausgeschüttet wird“, erfordert in der Zusammenstellung des Programms besondere Abstimmungsfeinheit. Die Verwandtschaft der Tonarten, die Tempi, der Sinnzusammenhang, alles will ausgeklügelt sein, ohne dass es ein Patentrezept gibt.
Für Helmut Deutsch, der über ein immenses musikalisches Wissen verfügt, ist Musik vor allem eines: ein sinnliches, nicht ein intellektuelles Erlebnis. Er bekennt sich ohne Scheu zum „hoffnungslosen Romantiker“, der beileibe nicht nur das deutsche Kunstlied ins Herz geschlossen hat. Russisches, slawisches, schwedisches, spanisches Liedrepertoire ist immer noch ein Kosmos, in dem der musikalische Schatzsucher Deutsch nie ans Ende des Lernens geraten wird.
Dorothe Gschnaidner
Buchtipp
Helmut Deutsch Gesang auf Händen tragen. Mein Leben als Liedbegleiter 240 Seiten, Henschel Verlag, 26,- Euro, seemann-henschel.de