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Buch der Woche

Soldatenmorde im Schatten des Reichstagsbrandes

Mit dem Roman "Der nasse Fisch", dem Auftakt einer Reihe um den Kölner Kriminalkommissar Gereon Rath im Berlin der dreißiger Jahre, gelang Volker Kutscher der Durchbruch als Krimiautor. Seinen neuen Fall erbt Gereon Rath von einem ungeliebten Vorgesetzten, von Wilhelm Böhm, der sich unter dem neuen Nazi-Polizeipräsidenten ins politische Abseits manövriert hat: Ein Obdachloser ist erstochen am Nollendorfplatz gefunden worden. Dessen Vorgeschichte führt weit zurück in den Krieg, in den März 1917, als deutsche Soldaten während der »Operation Alberich« in Nordfrankreich verbrannte Erde hinterließen.

07.11.2014

Der Mann saß an einem stählernen Pfeiler im Schatten der Hochbahntrasse, das Kinn auf die Brust gesunken, als sei er nur kurz eingenickt. Man hätte denken können, er schlafe seinen Rausch aus, so kauerte er da, in einem alten, geflickten Soldatenmantel, in Wickelgamaschen und löchrigen Handschuhen, eine dicke Wollmütze tief in die Stirn gezogen.

Wilhelm Böhm musste seinen Bowler festhalten, den ihm der scharfe, frostige Wind vom Kopf fegen wollte. Sie befanden sich direkt unter dem Hochbahnhof Nollendorfplatz, keinen Steinwurf entfernt vom Treppenaufgang, und dennoch war der Tote niemandem aufgefallen, offenbar seit Tagen nicht, jedenfalls niemandem, der es für nötig erachtet hätte, angesichts eines leblosen Körpers, der bei Minustemperaturen auf der Straße lag, die Polizei zu rufen. Böhm hielt die Luft an, als er in die Hocke ging; der tote Mann, den er in Augenschein nehmen wollte, sah einfach aus wie jemand, der stank, ein Stadtstreicher eben, einer der vielen Obdachlosen, die Berlins Straßen bevölkerten und von denen es Jahr für Jahr mehr zu geben schien. Und tatsächlich musste sich der Oberkommissar Böhm seinen Schal vor die Nase halten, um weiteratmen zu können, denn trotz der Kälte verströmte der Tote den Gestank eines Menschen, der seit Jahren auf der Straße lebte: alter Schweiß, Urin, Alkohol.

.Taubenkot bedeckte den reglosen Körper in einer dünnen, fleckigen Schicht, von den Schuhen bis hinauf zur Wollmütze. Oben aus dem Stahlgebälk gurrte es, unzählige Tauben hockten in den Streben, eine regelrechte Kolonie, die fortlaufend ihre Spuren hinterließ: Auch das Pflaster ringsum war über und über verschmutzt. Verständlich, dass die Passanten, jedenfalls die, die sich auskannten, diese Ecke mieden und die Hochbahn lieber an anderer Stelle unterquerten.

Ein Schupo, der am Nollendorfplatz seine täglichen Runden drehte, hatte schließlich – nach wie viel Tagen? – die Blutlache unter dem leblosen Mann entdeckt und die Zentrale Mordinspektion alarmiert. Die Genugtuung darüber, dass es ihm gelungen war, den Toten loszuwerden, ohne das eigene Revier damit behelligen zu müssen, war Wachtmeister Breitzke immer noch anzusehen. Kein Polizist riss sich darum, den Tod eines ungewaschenen Obdachlosen zu bearbeiten, auch nicht die Kollegen vom 174. Revier.

Den Schal vor Mund und Nase, betrachtete Böhm den Toten. Aus dem linken Nasenloch war das Blut in einem dünnen Rinnsal bis aufs Pflaster gelaufen, wo es eine Lache bildete, die bereits geronnen war. Oder gefroren, so genau war das bei den Temperaturen nicht zu sagen. Dort, wo es seinen Weg über den Mantel genommen hatte, war das Blut zu einem großen Teil im schweren Stoff versickert.

Mit spitzen Fingern durchsuchte Böhm die Taschen des Toten und fand einen alten, völlig zerfledderten Militärpass, der an einer Ecke sogar angesengt war, als habe sein Inhaber ihn bereits einmal verbrennen wollen und ein Feuerzeug an die Ecke gehalten, dann aber doch davor zurückgeschreckt. Der Oberkommissar faltete das speckige, abgegriffene Dokument auseinander. Der Reservist Heinrich Wosniak, so verrieten es die Einträge auf der fleckigen Pappe, geboren am 20sten März 1894 zu Hagen / Westfalen, war im August 1915 an der Ostfront zum 1. Garde-Reserve-Infanterie- Regiment gestoßen, das kurz darauf nach Flandern verlegt wurde. Die Hölle des Grabenkrieges hatte er überlebt, und war dennoch in seinem Soldatenmantel gestorben. Ein Großteil der Berliner Bettler trug Soldatenkleidung; Kleidung, die die Männer, oftmals schrecklich verkrüppelte Gestalten, seit dem Krieg nicht abgelegt hatten. Sie hatten ihre Gesundheit geopfert für das Vaterland, und nun kümmerte sich kein Mensch mehr um sie. Selbst den Leuten, die sie anbettelten, war ihr Anblick eher lästig, als dass sie Mitleid empfanden. Und schon gar keine Dankbarkeit. Dafür, dass diese Männer ihre Knochen hingehalten hatten für den Patriotismus der Daheimgebliebenen.

»Soll ich mit der Spurensicherung anfangen, Oberkommissar? «

Böhm blickte auf. Da stand Kriminalsekretär Gräf, einer der beiden Männer, die er mit rausgenommen hatte zum Nollendorfplatz, und pustete Atemwölkchen in die kalte Februarluft. Nicht mal eine Stenotypistin hatten sie ihm gegönnt, nur den Kriminalsekretär und einen Kommissaranwärter. Der Oberkommissar stemmte seinen schweren Körper in die Höhe und richtete sich auf. Dem unmittelbaren Dunstkreis des Toten entkommen, konnte er endlich wieder frei atmen.

»Fangen Se an, Gräf. Kronbergs Leute sind noch im Wedding, mit denen können wir heute nicht rechnen.« Böhm zeigte auf den Spurensicherungskoffer in der Hand des Kriminalsekretärs. »Das heißt, wir werden uns mit Bordmitteln bescheiden müssen. Schau’n Sie sich erst mal um, ob Sie überhaupt etwas finden. Zigarettenkippen, Fußspuren, was weiß ich. Die Ecke hier ist glücklicherweise nicht so stark frequentiert, jede Spur auf dem Pflaster könnte also ein Hinweis sein.«

Gräf stellte den Koffer ab und ließ die Verschlüsse aufschnappen.

»Und was ist mit Fingerabdrücken?«, fragte er. »Darum kümmere ich mich selber. Am Stahlträger könnten welche sein. Wenn überhaupt. Wer geht in diesen Tagen schon ohne Handschuhe vor die Tür?« Böhm schaute sich um. »Wo bleibt eigentlich Steinke?«

»Hat wohl Probleme, die Kamera aus dem Kofferraum zu kriegen. «

Reinhold Gräf machte sich mit einem Packen Markierungsschilder und einer Handvoll Beweissicherungsbehälter an die Arbeit, und Böhm wandte sich dem Schupo zu.

»Heinrich Wosniak, sagt Ihnen der Name was?«

»Von den Jestalten, die hier rumlungern, kenn ick doch keene Namen.«

»Haben Sie den Toten denn schon mal gesehen?«

»Wie?«

»Ich meine, das ist doch Ihr Revier. Hat der vielleicht hier schon mal irgendwo rumgesessen? Irgendwo gebettelt? Auf ’ner Parkbank geschlafen? So was eben.«

Wachtmeister Breitzke zuckte die Achseln. »Da müsst ick erst mal sein Jesichte sehen.«

Böhm nickte. Der Kopf des Toten war so tief auf die Brust gesunken, die verfilzten Haare hingen so weit in die Stirn, dass man das Gesicht kaum erkennen konnte.

»Wir können den Mann erst bewegen, wenn die Spurensicherung abgeschlossen ist. Solange muss ich Sie bitten zu bleiben. «

»Warten Se mal!« Breitzke hörte sich mit einem Mal deutlich weniger gelangweilt an und zeigte auf die vernarbte Haut, die unterhalb der Mütze der Leiche zu sehen war. »Vielleicht könnte det Kartoffel sein. Der steht schon mal am Nolle rum, drüben bei der U-Bahn, und schnorrt die Leute an.«

»Ich denke, von den Gestalten hier kennen Sie keine Namen? «

»Is ja ooch ’n Spitzname.«

»Kartoffel«, sagte Böhm. »Das heißt, den richtigen Namen kennen Sie nicht?«

»Ne, saach ick doch.«

»Sobald wir Fotos gemacht haben, schau’n Sie sich das Gesicht mal in Ruhe an. Vielleicht isser das ja wirklich.«

Wachtmeister Breitzke wirkte nicht begeistert, aber er nickte. Böhm hörte ein leises Fluchen. Kommissaranwärter Steinke näherte sich mit dem Fotoapparat, die unhandliche Kamera unter den Arm geklemmt, das schwere Stativ geschultert. Ob der studierte Jurist, direkt vom Hörsaal in die Burg gekommen, jemals eine Hilfe sein würde, das bezweifelte Böhm. Auch nach einem Jahr bei der Kriminalpolizei agierte der Kommissaranwärter wie ein blutiger Anfänger; das Einzige, mit dem er sich bestens auskannte, waren Dienstgrade und Besoldungsstufen. Dennoch hatte Steinke gute Chancen, die Prüfungen zu bestehen, und dann wäre er als Kommissar der Vorgesetzte von Männern wie Gräf, dem leider der Ehrgeiz fehlte, die Kommissarsprüfung abzulegen, der aber der weitaus bessere Kriminalist war. Böhms einzige Hoffnung war, dass Steinke vielleicht doch durch die Prüfung rasselte, es gab schon mehr als genug unfähige Kriminalkommissare am Alex.

»Da sind Se ja endlich, Steinke.«

»Komme mir vor wie ein Packesel«, sagte der Kommissaranwärter und ließ das Stativ zu Boden fallen. Er ging zu dem Toten hinüber und verpasste dem leblosen Bündel einen kurzen Fußtritt, als handele es sich um einen überfahrenen Hund.

»Was machen Sie denn da, Mann?«

»Wollte nur feststellen, ob der Penner wirklich tot ist und nicht nur besoffen.«

»Wäre er nicht tot, wären wir wohl nicht hier«, sagte Böhm.

»Lernen Sie heutzutage nicht mehr, dass Sie an einem Tatort selbstverständlich nichts anzurühren haben, bis die Spurensicherung abgeschlossen ist?« »Schon, aber …«

»Und ganz abgesehen davon: Erweisen Sie einem Toten gefälligst mehr Respekt!«

»Mit Verlaub, Herr Oberkommissar, aber das ist ein Stadtstreicher, ein … Pennbruder. Frage mich, warum wir für so einen überhaupt rausfahren müssen.«

»Was soll denn das heißen? Dass so einer es nicht verdient, dass wir die Umstände seines Todes untersuchen?«

»Ich meine ja nur.«

»Meinen Sie nicht, bauen Sie lieber die Kamera auf und erledigen Sie Ihre Arbeit. Wir wollen hier endlich weiterkommen.« Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Steinke noch etwas sagen, er öffnete den Mund, aber dann fuhr oben ein Zug in den Hochbahnhof ein, und das Donnern des Stahls machte jedes weitere Wort unhörbar. Der Kommissaranwärter winkte ab und begann, das Stativ auseinanderzufalten.

Böhm holte Rußpulver, Pinsel und Klebefolien aus dem Spurensicherungskoffer und machte sich daran, den Stahlträger vorsichtig einzustäuben. In der Nähe des Toten fand er keine Abdrücke, doch in rund eineinhalb Metern Höhe wurden zwei gut erhaltene und ein halber verwischter sichtbar. Er hatte gerade begonnen, die Spuren auf Folie zu bannen, da drückte Steinke das erste Mal auf den Auslöser. Die Nieten in den Stahlträgern reflektierten den Blitz, der tote Mann sah im unnatürlich grellen Licht für einen Moment zum ersten Mal wirklich bleich und tot und nicht nur betrunken aus.

Böhm nahm die Abdrücke mit zum Mordauto hinüber und beschriftete sie. Während er auf der bequemen Rückbank saß, warf er einen Blick durchs Autofenster zu Gräf hinüber, der gerade eine Zigarettenkippe mittels Pinzette vom Boden nahm und die Stelle gewissenhaft markierte, dann einen zu Steinke, der den Fotoapparat so lustlos bediente, als sehe er immer noch nicht ein, weshalb sie überhaupt hier rausgefahren waren. »

Und aus so einem soll mal ein Kriminalkommissar werden«, brummte der Oberkommissar, tütete den ersten Abdruck ein und schüttelte den Kopf.

»Heutzutage müssen Sie nur in der richtigen Partei sein, dann wird das schon mit der Karriere.«

Böhm erschrak und drehte sich um. Neben dem Mordauto stand Doktor Magnus Schwartz, wie immer wie aus dem Ei gepellt, in der rechten Hand seine schwarzlederne Arzttasche.

»Sie sollten nicht so reden, Doktor.« Böhm zuckte mit der Kinnspitze zu Steinke hinüber, der in einiger Entfernung mit dem Fotoapparat hantierte. »Man weiß nie, was die jungen Leute heute so aufschnappen. Und bei welchen Stellen es dann landet.«

»Dann sollten Sie aber auch vorsichtiger sein, lieber Böhm. Ich für meinen Fall lasse mir jedenfalls nicht den Mund verbieten. Der braune Spuk geht auch wieder vorüber. In einer Woche wird gewählt.«

»Ihr Wort in Gottes Gehörgang«, sagte Böhm.

Leute wie Steinke, der an der Universität schon Mitglied der NS-Studentenschaft gewesen war, hatten in diesen Tagen Oberwasser. Und nicht nur Doktor Schwartz hoffte, dass sich das mit den Reichstagswahlen bald wieder ändern würde. Noch war Deutschland schließlich eine Demokratie, da mochten die Nazis noch so viel von einer nationalen Erhebung faseln.

Schwartz stellte seine Tasche ab und schaute sich um. »Sie sind ja nicht gerade mit großem Aufgebot hier«, sagte er.

»Ich bin froh, dass man mir wenigstens das Mordauto gegönnt hat und ich nicht das Fahrrad nehmen musste. Wenn ich schon keine Spurensicherer bekomme. Der ED hat derzeit alle Hände voll zu tun.«

»Tja, was will man machen«, meinte Schwartz. »Viel los in diesen Tagen. Mal wieder Wahlkampf, und das sind die mit Abstand ungesündesten Zeiten in Deutschland. Schlimmer als jede Grippewelle. « Er zeigte zur Leiche hinüber. »Der hier scheint aber kein Opfer der Politik geworden zu sein, oder?«

»Ne, und auch keins der Grippewelle.«

»Das haben Sie schon herausgefunden? Was brauchen Sie mich da überhaupt noch?«

»Am besten schauen Sie ihn sich einmal an. Einfach nur erfroren ist er nämlich auch nicht.«

Böhm ging mit dem Gerichtsmediziner zur Leiche hinüber, von der Steinke gerade Nahaufnahmen machte.

»Ich denke, das reicht, Steinke. Lassen Sie den Doktor jetzt mal seine Arbeit erledigen.«

Der Kommissaranwärter gehorchte bereitwillig. Oberwachtmeister Breitzke, der geduldig ausgeharrt hatte, sah seine Chance gekommen. »Entschuldigen Sie, Herr Oberkommissar«, sagte er, »aber bevor der Doktor … Ich meine: Sie sagten doch, ich sollte mir den Toten mal näher anschauen, wenn er fotografiert ist …«

»Ja?«

»Weil …« Breitzke schaute auf seine Taschenuhr. »Ich müsste hier wirklich mal langsam weiter meine Runden drehen.«

Böhm guckte streng. »Gut«, sagte er, »dann schauen Sie mal.« Vorsichtig fasste er den seitlich auf die Brust gesunkenen Kopf des Toten bei den Haaren und zog ihn nach oben.

Es machte den Eindruck, als würde Heinrich Wosniak sie anschauen aus seinen toten Augen, beinahe vorwurfsvoll. Seine rechte Gesichtshälfte war vernarbt und erinnerte auf unappetitliche Weise tatsächlich an eine verschrumpelte Kartoffel. Das rechte Ohr war als solches kaum noch zu erkennen, das rechte Auge ohne Braue. Der Mann sah aus, als habe man seine Gesichtshaut zur Hälfte aus irgendwelchen Resten zusammengeleimt. Gleichwohl waren die bitteren Gesichtszüge gut zu erkennen, die der Mann mit in den Tod genommen hatte.

»Jau. Det is Kartoffel.« Breitzke sagte das ungerührt. »Hab ick ja jleich jesacht. Kann ick jetze jehen?«

»Der Spitzname passt«, sagte Böhm. »Was hat den armen Kerl denn so entstellt?«

»Ein französischer Flammenwerfer, wat weeß ick? Jedenfalls hat er schon so ausjesehen, als ick ihn det erste Mal vom Nolle verscheucht habe.«

»Sie haben ihn verscheucht?«

»Ist den Leuten manchmal zu sehr auf die Pelle gerückt. Da muss man doch eingreifen.«

Böhm nickte. »Dann drehen Se man weiter Ihre Runden, Wachtmeister. Auf dass Berlin sicher bleibt.«

Breitzke salutierte und wollte sich schon abwenden mit wichtigem Gesicht, da schickte Böhm ihm noch einen Satz hinterher:

»Und Ihren schriftlichen Bericht lassen Sie mir bitte heute noch zum Alex schicken.«

Breitzke salutierte ein zweites Mal und entfernte sich dann eiligen Schrittes.

Doktor Schwartz beugte sich zu dem Toten hinunter.

»Schlimme Verbrennungen. Zweiten bis dritten Grades.«

»Also tatsächlich Andenken aus dem Krieg?«

»Nein, so alt sind die Narben nicht. Wenn Sie mich fragen, hat er sich die vor zwei, höchstens drei Jahren zugezogen.«

Der Gerichtsmediziner holte eine Lupe aus seiner Arzttasche und eine kleine Stablampe, mit der er dem Toten in die Nase leuchtete.

Böhm schaute ihm eine Weile zu und wurde immer ungeduldiger, je länger der Doktor schwieg. Er trat von einem Bein aufs andere, verkniff sich aber die Frage, die ihm auf der Zunge lag.

Schwartz hatte die Lampe mittlerweile zwischen die Zähne genommen, um die Hände freizuhaben, und brummte etwas Unverständliches. Schließlich erhob er sich und packte sein Werkzeug wieder weg.

»Sicher bin ich mir nicht«, sagte er, »würde mich jedoch nicht wundern, wenn jemand dem armen Kerl hier eine Stricknadel durch die Nase ins Gehirn gerammt hätte.«

»Eine Stricknadel?«

»Nicht zwingend eine Stricknadel. Aber etwas in der Art, ein langer, spitzer Gegenstand. Einfache Methode, aber effektiv.«

»Vielleicht ein Unfall? Wollte er sich mit einem ungeeigneten Werkzeug die Nase säubern?«

»Ich will dem Toten ja nicht zu nahe treten. Aber erstens sieht er nicht so aus wie jemand, der sich überhaupt jemals um Reinlichkeit gekümmert hat, und zweitens müsste er das Corpus Delicti dann ja noch in der Hand halten. Wenigstens aber müsste es irgendwo hier herumliegen, wenn niemand Drittes beteiligt war.« »Und wie sieht’s mit dem Todeszeitpunkt aus?«

Schwartz schaute auf die von Raureif und Taubendreck wie mit einer Art fleckigem Zuckerguss überzogene Leiche. »Bei solchen Außentemperaturen schwer zu sagen. Er kann da schon Tage gelegen haben, ohne dass die Verwesungsprozesse in Gang gekommen sind. Eine tiefgekühlte Leiche verwest nun mal nicht.«

»Also wie immer: Genaues erst nach der Obduktion.«

»Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Oberkommissar. « Schwartz schaute skeptisch drein. »Dass die Leichenöffnung in dieser Frage noch genauere Erkenntnisse liefert, ist leider eher unwahrscheinlich.« Er zuckte die Achseln. »Ich könnte mir vom Wetterdienst die Temperaturen der letzten Tage kommen lassen und versuchen, diesen Faktor zu berücksichtigen. Aber eine wirklich genaue Schätzung des Todeszeitpunktes wird auch damit kaum möglich sein. Der Mann kann seit einem Tag hier liegen oder seit einer Woche.«

»Hm.« Böhm guckte enttäuscht.

»Am besten suchen Sie nach Zeugen. Befragen Sie die Passanten, dann bekommen Sie vielleicht heraus, wie lange der arme Teufel hier schon tot oder wenigstens leblos gelegen hat. Verdammt …«

Der Doktor fluchte. Eine der Tauben, die oben in den Stahlstreben gurrten, hatte einen hellen Fleck auf seinem dunklen Wintermantel hinterlassen. Schwartz zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und versuchte, die Sauerei wieder wegzutupfen. Was ihm eher schlecht gelang, der Fleck war nun ein weiß verschmierter Streifen auf seiner linken Schulter.

»Wenn Tauben reden könnten, mein lieber Böhm«, meinte Schwartz, »dann wären Sie schon einen Schritt weiter. Aber leider können die nur gurren und scheißen.«

Böhm sagte nichts, er war zu sehr damit beschäftigt, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Ich würde vorschlagen, wir lassen die Leiche gleich abtransportieren «, sagte der Gerichtsmediziner, »ist mir zu gefährlich hier. Ich arbeite lieber in der Hannoverschen Straße weiter, da haben Tauben keinen Zutritt.«

Böhm nickte und schaute auf die Leiche, betrachtete die dünne Schicht Taubenkot, die den Toten bedeckte. Und fragte sich, ob die Tauben ihnen nicht doch helfen könnten.

 

Quelle: Volker Kutscher: Märzgefallene. Gereon Raths fünfter Fall. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 608 Seiten, 19,99 Euro.