Festspiele 2024 – Spezial
Tschö, pas de deux?
Die Frage nach dem Selbstverständnis des Balletts und seiner Bedeutung für das Publikum braucht dringend neue Antworten.
Wenn das Gespräch auf Tanz kommt, sind die Referenzen oft klassisch. „Klassisches Ballett“ wird allgemein genannt, was so unterschiedliche Werke wie die Ballette Giselle (1841), La Sylphide (1832) und Schwanensee (1895) umfassen soll. Eine vage nostalgische Vorstellung rufen auch die Namen der anderen beiden berühmten Tschaikowski-Ballette hervor: Nussknacker und Dornröschen. Je weiter das 19. Jahrhundert in die historische Tiefe zurücksinkt, desto stärker wird in vielen die Überzeugung, dass diese Ballette mit ihren wadenlangen Tutus und ephemeren Bewegungen auf Spitzenschuhen uns nichts mehr zu sagen haben, sondern eine Unterhaltung für Kinder und sehr alte Leute sind. Aber das ist nicht die Schuld des Publikums.
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Lange Zeit hat jede Generation von Choreographen diese historischen Ballette umdekoriert, uminszeniert und mit ihren Ideen behängt, bis das Original nur noch in wenigen Szenen zu erkennen war. Die Ballettwelt existierte in Abhängigkeit von Oral History, von Physical History, sozusagen, davon, dass eine Generation der nächsten ihre Rollen übertrug und die Choreographen ihre Freiheiten erweiterten, ohne sich je ganz von der Faszination der alten Stoffe lösen zu können. Der Vergleich ist unvorstellbar, aber es war im Ballett so, als hätte Ludwig van Beethoven keines seiner Werke notieren können, sondern hätte sie einem Orchester und Solisten vorgespielt und beigebracht, und diese hätten nach dem Tod des Komponisten den nächsten Dirigenten und die nachkommenden Musiker gelehrt, wie die 9. Sinfonie zu spielen sei, und welche genialen Änderungen sie vorgenommen hätten.
Herausfordernd: Überlieferungen ohne Notation
So ist die Krise des Tanzes, einer Kunst ohne Notation, entstanden. Je länger die Uraufführungen von Marius Petipa und Lew Iwanow zurücklagen, desto mehr waren die Werke nur noch so gut wie ihre späten Regisseure und Interpreten, und Argumente, so könne man das doch nicht machen, hatten keinen Textcorpus, auf den sie sich berufen konnten. Oder noch einmal anders erklärt: In der Serie Friends, die im Manhattan Mitte der 90er Jahre beginnt, erbt Monica eines Tages ein viktorianisches Puppenhaus, dass sie zu Lebzeiten ihrer Tante nicht berühren durfte. Nun steht die Villa in ihrem Wohnzimmer. Ihre Freundin Phoebe trifft ein, mit einem großen Karton voller Spielzeugeinkäufe auf dem Arm. Der Porzellanhund, den sie als erstes neben dem Puppenhaus aufstellt, reicht an die Regenrinne heran. Monicas Einwand, man könne keinen Hund mitspielen lassen, der auf das Dach pinkeln könnte, wischt Phoebe beiseite: Das Haus sei eben auf radioaktivem Abfall erbaut, daher der Riesenhund. Man sieht ein paar Playmobilfiguren dazukommen. So aber hat sich Monica das nicht vorgestellt. In einem viktorianischen Puppenhaus hätte keine dieser Figuren etwas verloren, erklärt sie. Gekränkt schnappt sich Phoebe den Dinosaurier, den sie eben noch vor dem Wohnzimmerfenster knurren ließ und sagt: „Wir gehen. Wir sind hier nicht willkommen in diesem „House of No Imagination“. Das ist die Situation des klassischen Tanzes. Seine Geschichte ist das leere viktorianische Puppenhaus, die Choreographen der Gegenwart meinen, sie könnten es mit Dinosauriern, Playmobilrittern und Hunden im falschen Maßstab bespielen. Man möchte zu Monica werden und sie alle rausschmeißen, die Giselle eines David Dawson genauso wie die Cinderella eines Christopher Wheeldon. Gleichzeitig hat Phoebe recht. Ohne Vorstellungskraft, ohne Fantasie und radikale Ideen wird die in der Renaissance geborene Kunst des klassischen Tanzes enden wie Monicas leerstehendes, trauriges Puppenhaus.
Die Frage nach dem Selbstverständnis des Balletts und seiner Bedeutung für das Publikum stellt sich drängender denn je. Ist der klassische Tanz an sein Ende gekommen? Sind in dieser Sprache keine Stoffe verhandelbar, die später als im 19. Jahrhundert entwickelt wurden? Ist also im Tanz unmöglich, was der Literatur mit einer Erneuerung des Romans gelang – der Beweis der Erzählbarkeit der Welt? Der Tanz ist die am stärksten gegenwartsbezogene Kunst. Seit Jahrhunderten löst eine Generation von Ballettmeistern die vorherige ab. Bei diesen Wechseln vollziehen sich Transformationsprozesse. Ballette der Vorgänger werden umgeschrieben, neu geschrieben, aus dem Repertoire gestrichen. Eine jahrhundertealte, kodifizierte Schule hat habituell die Werke ihres Repertoires ständig beschnitten, geschliffen, neu ausgemalt und drapiert, während zugleich Generationen von Ballerinen die Jüngeren darin coachten, eine Rolle richtig auszufüllen. Darin eine Paradoxie zu sehen, heißt, das Besondere des Tanzes zu erkennen. In diesem widersprüchlichen Feld von Bewahrung und Veränderung, von ikonischen Gesten und Signaturschritten einerseits und Verwischung und Nivellierung und Implementierung andererseits handeln die Akteure des klassischen Tanzes.
Das Niveau der Companien gleicht sich an
Seit Alexei Ratmansky, der weltweit gefragte Hauschoreograf des New York City Ballet, in der Harvard Theater Collection jene Kisten öffnete, in denen tatsächlich Notationen von zwei Dutzend bedeutenden Balletten aus dem Russland des 19. Jahrhunderts auf ihre Entdeckung warteten, hat die Ballettwelt Grund dazu, sich elementar zu verwandeln. Ratmansky, der in der Ukraine ausgebildete klassische Tänzer, der einige Jahre das Moskauer BolschoiBallett leitete, bevor er mit Frau und Kind in die Vereinigten Staaten ging, hat diese Notation gelernt und rekonstruiert ein Original nach dem anderen.
Daneben choreografiert er wundervolle, eigene Werke, leider hauptsächlich außerhalb Europas. Für das Repertoire des Bayerischen Staatsballetts hat er im Dezember 2022 die großartigen Tschaikowski-Ouvertüren geschaffen, die sich nach wie vor im Spielplan finden: dicht gewebte Tänze, deren kunstvolle Phrasierungen und komplexe Schrittvariationen eine phantastische, halb abstrakte, sozusagen post-narrative Form gefunden haben.
Das allgemeine technische Niveau der Tänzer hat sich immens gesteigert, die Unterschiede zwischen den berühmten Traditionscompanien nivellieren sich, und vielleicht ist es nur eine Einbildung zu glauben, man würde das Royal Ballet und das Ballett der Pariser Oper auseinanderhalten können, wenn alle in Trainingskleidung an einem dritten Ort tanzen würden. Die Schönheiten des Tanzes lassen sich in Ratmanskys Rekonstruktionen von Petipas und Iwanows Klassikern entdecken, in seinen eigenen neuen Choreographien und zuletzt in seinem an der Mailänder Scala im vergangenen Dezember herausgekommenen Coppélia.
Respekt im Umgang miteinander wächst
Die anderen großen Themen der Ballettwelt sind gerade sehr ernst. Die Codes für die Ausbildung und das Verhalten gegenüber professionellen Tänzern werden vielerorts neu geschrieben oder sind es gerade, weg von autoritären pädagogischen Methoden und hin zu mehr Respekt und Unterstützung. Wie überall ist der Begriff Diversität wirklich in Stein zu meißeln und den Verantwortlichen vor die Tür zu rollen. Im zeitgenössischen Tanz geht es wilder, egalitärer, barfüßiger und rauher zu. Hier kann man lernen als Publikum, was es bedeutet, seinen Weg auf die Bühne zu finden, wenn man benachteiligt aufgewachsen ist oder mit Einschränkungen lebt oder in einer weiß dominierten Welt existiert unter Menschen, deren Vorfahren die eigenen Vorfahren versklavt haben. Die großartige Ligia Lewis ist hier exemplarisch zu nennen. Das „ImPulsTanz Festival” in Wien stellt jeden Sommer sicher, dass man nichts von Bedeutung im zeitgenössischen Tanz verpasst. Einige der besten Tänzer haben selbst das Wort ergriffen. Margot Fonteyns und Carlos Acostas Bücher erzählen, wie es sich anfühlt, das Leben eines Athleten zu führen, der genauso hart arbeitet wie ein Leistungssportler, aber nach einer Vorstellung selten so zufrieden ist, wie es Medaillen nach gewonnenen Wettkämpfen machen.
Gerade erscheint ein neues Buch, es ist von Osiel Gouneo, der – auch in Ratmanskys TschaikowskiOuvertüren – am Bayerischen Staatsballett tanzt. Es heißt Black Romeo. Mein Weg in der weißen Welt des Balletts. Darin schreibt er: „Diversity, also Vielfalt, ist ja gerade das ganz große Thema, gerade auch in der Welt der Künste. Darüber muss ich mich schon deshalb wundern, weil ich diesen Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung schon mein ganzes Leben führe. Warum also jetzt? Die Gleichbehandlung von Ethnien, Geschlechtern und Nationalitäten sollte so normal sein wie das tägliche Ein- und Ausatmen – aber das ist sie nicht.“ Nun, ein wenig besser ist es mittlerweile geworden: Osiel Gouneo tanzt den Romeo.
Persönliche Empfehlungen für die Festspiele 2024 unter wiebke@wiebkehuester.de
Wiebke Hüster ist Tanzkritikerin der FAZ und häufig im Deutschlandradio zu hören. Natur ist ihr zweites großes Thema.