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Buch der Woche

Über die Erfindung der Zeit

25.10.2013

Am 27. Oktober sind die Uhren zurückgestellt worden, um eine Stunde – die Zeiten, in denen man darüber diskutierte, wie lang eine solche ist, sind längst vorbei. Thomas de Padova erweckt sie mit »Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit« zum Leben.

Wie lang ist »jetzt« ?


Für Leibniz ist Zeit ein Bewusstseinsphänomen. Er versucht, das menschliche Bewusstsein mit den Instrumenten der Differenzialund Integralrechnung zu sezieren. In gewissem Sinne sind die von ihm beschriebenen »petites perceptions« heute experimentellen Techniken zugänglich. Dabei zeigen sich den Forschern eine vielschichtige Logistik und eine Integrationsfähigkeit unseres Gehirns, mit denen kein Philosoph im 17. Jahrhundert rechnen konnte.

Modernen Experimenten zufolge fragt unser Gehirn etwa alle zwei bis drei Sekunden nach, was es Neues in der Welt gibt. Jedes dieser Zwei- oder Drei-Sekunden-Zeitfenster kennzeichne das Gefühl des Bewusstseins, erklärt der Psychologe und Physiologe Ernst Pöppel. Die von uns als Tocktock oder Ticktack bezeichneten Schläge der Pendeluhr sind ein typisches Beispiel hierfür. Wir fassen das Ticken der Uhr genauso zu kleinen Einheiten von zwei Schlägen zusammen, wie wir längere gesprochene Sätze oder auch Musikstücke nicht als Ganze wahrnehmen, sondern in kleinere Zwei- oder Drei-Sekundeneinheiten untergliedern.

Wie lang also ist »jetzt«? Die bewusst erlebte Gegenwart ist jedenfalls kein Zeitpunkt, sondern eine kleine Spanne, womöglich kaum länger als eine Atemperiode. Was jeweils ins Bewusstsein gelangt, ist abhängig vom unmittelbar vorherigen Bewusstseinszustand. Erst die Vernetzung aufeinanderfolgender Inhalte und unsere Emotionen stellen ein Gefühl der zeitlichen Kontinuität her.

Unterhalb dieser Bewusstseinsebene vollbringt unser Gehirn allerdings weitere, vielfältige Analyse- und Syntheseleistungen. So zerlegt es den Fluss des Geschehens aus Gründen der Ökonomie in kurze, diskrete Abschnitte, wie Pöppel erläutert. Die von zwei Meereswellen erzeugten Töne zum Beispiel nehmen wir nur dann als getrennte Signale wahr, wenn der zeitliche Abstand zwischen ihnen mindestens drei Millisekunden beträgt. Ist er kleiner, dann fusionieren die beiden Reize im Gehirn zu einem einzigen Ton.

Wir gewinnen jedoch nicht nur Eindrücke davon, was sich in der Welt abspielt, sondern auch, in welcher Reihenfolge dies geschieht. Obschon wir bereits nach drei Millisekunden zwischen einem Ton und zwei Tönen unterscheiden können, verstreichen wenigstens dreißig Millisekunden, ehe wir feststellen können, welcher von ihnen zuerst und welcher zuletzt da war. Erst nach dieser Spanne sind wir in der Lage, die zeitliche Ordnung des »Früher« und »Später« zu erfassen. Mit den anderen Sinnesreizen verhält es sich ähnlich, wobei sich die jeweiligen Zeitfenster geringfügig unterscheiden.

Damit unser Gehirn die Informationen, die aus verschiedenen Sinneskanälen eintreffen, richtig zusammenführen kann, ist es auf bereits verarbeitete Erfahrungen angewiesen. Legen Sie das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, kurz zur Seite und schnippen Sie mit den Fingern. Sie werden den Eindruck gewinnen, dass Sie das Geräusch des Schnippens und die Bewegung Ihrer Finger gleichzeitig wahrnehmen. Und das, obschon der akustische Reiz etwas schneller verarbeitet wird als der visuelle. Ihr Gehirn synchronisiert sie miteinander zu einem »Schnipp!«. Nur: Woraus schließt das Gehirn, dass nicht zuerst ein Geräusch da gewesen ist und die Finger erst anschließend aneinander vorbeiglitten ? Wie entscheidet sich, welche Sinnesreize als gleichzeitig erlebt werden und welche nicht?

»Wie man nachweisen konnte, stimmt das Gehirn seine Erwartungen, was die Ankunftszeiten angeht, ständig neu ab«, erläutert der Hirnforscher David M. Eagleman. Am besten gelinge dies, wenn wir selbst in Aktion treten und mit der Umwelt interagieren. Schnippen wir oder klopfen mit den Fingern auf den Tisch, dann erwarten wir, dass sowohl die sichtbare Bewegung der Finger als auch das akustische Signal und die Tastempfindung zur selben Zeit stattfinden. Nur über einen ständigen Abgleich der eingehenden Sinnesreize mit den bestehenden Erwartungen, so Eagleman, sei unser Gehirn in der Lage, »Vorher« und »Nachher« richtig einzuschätzen und die zeitliche Reihenfolge präzise zu beurteilen.


Eine kausale Theorie der Zeit

Unsere Kausalitätserwartung, die Vorstellung, dass gleiche Abläufe gleiche Ursachen haben, bewährt sich in unserem Leben Tag für Tag. Aber schließen wir von kausalen Beziehungen auf eine Zeitfolge oder umgekehrt von zeitlichen Korrelationen auf kausale Beziehungen ? Geraten wir mit dieser Fragestellung unvermeidlich in einen Zirkel?

Unserer Alltagserfahrung scheint es zu entsprechen, dass die Zeit das Primäre ist. Ob Ereignisse zufällig aufeinanderfolgen oder ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen ihnen gibt, gilt es erst einmal zu erkennen, etwa dadurch, dass zwei Ereignisse A und B zeitlich und räumlich nah beieinander liegen und sich stets nach demselben Muster wiederholen: wenn A, dann B. Also : Zuerst halte ich die Kanne schräg, danach beginnt der Kaffee nach unten zu fließen.

Davon unterscheidet sich die leibnizsche Sichtweise. Er setzt die zeitliche Abfolge nicht bereits als gegeben voraus. Nach seinem Prinzip des zureichenden Grundes bringt das Auftreten eines Zustands A notwendigerweise den Zustand B mit sich. Betrachten wir nun die Dinge um uns herum, erkennen wir derartige kausale Beziehungen zwischen ihren wechselnden Zuständen. Erst aus dieser Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung ergibt sich die Zeitfolge. Beziehungen zwischen Ereignissen herzustellen und Geschehensabläufe zu Einheiten zusammenzufassen gehört zu den dauernden Tätigkeiten unseres Geistes. Wirft zum Beispiel jemand einen Ball, verknüpft unser Geist die verschiedenen Wahrnehmungen vom Abwurf bis zum Aufschlagen. Kraft unseres Gedächtnisses sind wir imstande, einen derartigen Prozess zusammenzusehen. Auch das nicht mehr Gegenwärtige bleibt uns präsent, ansonsten wären wir nicht einmal imstande, den aufschlagenden Ball mit dem abgeworfenen zu identifizieren.

Sein Hauptaugenmerkt legt Leibniz auf unsere Fähigkeit, einzelne Ereignisse zu kausalen Ereignisketten miteinander zu verbinden. Unsere Einsicht in Zusammenhänge von Ursache und Wirkung macht es möglich, Folgeordnungen zu erkennen, innerhalb derer wir zwischen »früher« und »später« differenzieren. »Erkannt wird der kausale Zusammenhang, die Zeitordnung wird nur definiert«, fasst der Philosoph Hans Reichenbach die leibnizsche Zeittheorie zusammen.

In den Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik schreibt Leibniz: »Wenn von zwei Elementen, die nicht zugleich sind, das eine den Grund des anderen einschließt, so wird jenes als vorangehend, dieses als folgend angesehen. Mein früherer Zustand schließt den Grund für das Dasein des späteren ein. Und da, wegen der Verknüpfung aller Dinge, der frühere Zustand in mir auch den früheren Zustand der anderen Dinge in sich schließt, so enthält er auch den Grund für den späteren Zustand der anderen Dinge und ist somit früher als sie.« Daher wäre alles, was existiert, im Verhältnis zu einem anderen Existierenden entweder gleichzeitig, früher oder später.

Wie unterscheiden sich also das leibnizsche und das newtonsche Raum- und Zeitverständnis voneinander?

In Newtons Physik liegen Raum und Zeit allen Dingen und Ereignissen zugrunde. Alles ist eingebettet in ein festes Raum- und Zeitgefüge. Insbesondere kann es leere Räume zwischen den Partikeln geben, durch die sie sich bewegen. Raum und Zeit sind für Newton etwas Eigenständiges. Seine »absolute Zeit« existiert unabhängig von unseren sinnlichen Erfahrungen.

Im Unterschied dazu versteht Leibniz Raum und Zeit vom erkennenden Subjekt her und sieht in ihnen keine Entitäten für sich, sondern »Gedankendinge«. Wir selbst stellen gedankliche Ordnungen zwischen den Dingen her, fassen also zum Beispiel alles gleichzeitig Existierende zu einem Etwas zusammen, dem Raum. Damit schaffen wir uns einen Bezugsrahmen, der uns die Orientierung wesentlich erleichtert. Dennoch dürfe man sich nicht zwei Ausdehnungen vorstellen, eine abstrakte des Raumes und eine konkrete des Körpers. Der Raum ist für Leibniz nichts Reales, sondern nur das Ergebnis eines gedanklichen In-Beziehung-Setzens, nämlich die Gesamtheit der relativen Lagen jener Dinge, die gleichzeitig sind. Auf eine griffige Formel gebracht: Der Raum ist die Ordnung des Koexistierenden.

Leibniz nimmt die Komplexität der Welt mit ihren vielfältigen Verknüpfungen ernst. Wollen wir ihm auf seinen Gedankenpfaden ein Stück weit folgen, kommen wir nicht umhin, uns von gewohnten Vorstellungen zu lösen und danach zu fragen, wie wir zu einer Raum- und Zeiterfahrung gelangen, wie unser Bewusstsein Raum und Zeit konstituiert. Für Leibniz gibt es im Grunde keine Größen »Raum« und »Zeit«, sondern nur räumliche Beziehungen zwischen den Dingen wie ihre relative Lage sowie zeitliche Relationen zwischen Ereignissen, die sich in »früher« oder »später« ausdrücken.

Sein Zeitverständnis, das dem Raumbegriff logisch vorausgeht, ist ebenfalls relational. Leibniz bringt seine Ansichten wiederum auf eine denkbar knappe Formel: »Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen, in der nämlich nicht auf die bestimmte Art der Veränderungen gesehen wird.« Mittels der Zeit bringen wir Geschehensabläufe in eine Folgeordnung, setzen Ereignisse miteinander in Beziehung und unterteilen sie in Früheres, Gleichzeitiges und Späteres.

Noch vertrauter ist uns die Untergliederung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese drei Zeitmodi sind direkt mit unserem Zeiterleben verbunden, mit unseren Erinnerungen, unserem augenblicklichen Befinden und unseren Erwartungen. Dabei bezieht sich die Vergangenheit stets auf Ereignisse, die nicht mehr sind, während die Zukunft auf das gerichtet ist, was noch nicht ist.

Augustinus folgerte daraus, dass das, was wir von der Vergangenheit wissen, nur gegenwärtige Erinnerungen sind, die wir an sie haben. Auch die Zukunft wäre lediglich als gegenwärtige Erwartung in unserem Geist lebendig. Man könnte also allenfalls von einer » Gegenwart der Vergangenheit « oder einer » Gegenwart der Zukunft « sprechen.

Und was ist das »Jetzt«? Bei näherer Betrachtung schmolz die Gegenwart für Augustinus zu einem Punkt zusammen. Aus alldem schloss er, dass Zeit allein in unserer Vorstellung existiere. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestünden nur im menschlichen Geist.

Auch Leibniz hält Zeit für ein Konstrukt unseres Geistes. Der subjektive Zeitbegriff ist wesentlicher Teil seiner Philosophie, angefangen mit dem Verständnis unseres Selbstbewusstseins : Wir beziehen unsere Wahrnehmungen und Empfindungen ständig auf uns selbst als Wahrnehmende oder Empfindende und gewinnen über diese reflexiven Akte eine Vorstellung von unserer eigenen Identität. Ich bleibe immer derselbe, weil der vollständige Begriff von mir, »alle meine Zustände, die gegenwärtigen, vergangenen und auch die zukünftigen einschließt«. Schon wenn ich von mir selbst spreche, fließt eine ganze gedankliche Folgeordnung in diese Aussage mit ein.

Aus einem subjektiven Zeiterleben ergibt sich allerdings eine schier unüberschaubare Perspektivenvielfalt, wie sie insbesondere in der leibnizschen Monadenlehre zum Ausdruck kommt. VerganVergangenheit, Gegenwart und Zukunft hängen nämlich vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab, der selbst in den Wandel des Geschehens mit einbezogen ist. Was für den Einzelnen jetzt noch gegenwärtig ist, war kurz zuvor zukünftig und wird alsbald vergangen sein. Anders gesagt : Wer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denkt, denkt zugleich schon in einem zeitlichen Prozess.

Während sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit dem erlebten Wandel zeitlich verschieben, steht das Verhältnis von früher und später fest. Was einmal früher war als ein anderes Ereignis, bleibt für immer früher. In dieser Unterscheidung kann Zeit daher nicht nur vom Einzelnen oder von einer kleinen Gruppe erlebt werden, die »Hier und Jetzt« miteinander teilt, sondern von vielen voneinander getrennten Menschen zusammen gedacht werden. Und zwar dann, wenn sich frühere Ereignisse von späteren aufgrund von kausalen Ketten trennen lassen, die für die Beteiligten nachvollziehbar sind.

Indem Leibniz die spezifische Fähigkeit des menschlichen Geistes, kausale Zusammenhänge im Geschehen zu erkennen, in seine Überlegungen einbezieht, baut er eine Brücke von einer erlebten Gegenwart und subjektiven Zeit zu einer sozialen Zeit. Im Zusammenleben in modernen Gesellschaften hat eine Uhr eben die Funktion, allen Menschen anzuzeigen, was früher oder später ist. Sie stellt einen verbindlichen Bezugsrahmen dar. In der Physik kommen dann nur noch die von möglichst präzisen Uhren angezeigten Zeitspannen vor, während das » Jetzt « keinen Platz mehr darin hat. Leibniz’ Verständnis von Raum und Zeit ist reichhaltiger. Er lässt im Grunde noch die ganze Perspektivenvielfalt zu, die sich daraus ergibt, von verschiedenen Blickpunkten aus Beziehungen zwischen den Dingen und ihren Modifikationen herzustellen.

Wie unser Zeitbewusstsein letztlich entsteht, erfahren wir auch bei ihm nicht. Mit seinen » petites perceptions « deutet der Philosoph lediglich an, dass unbewusste Prozesse daran teilhaben. Bis heute durchzieht das Spannungsverhältnis zwischen den bewusst erlebten Zeitmodi »vergangen«, »gegenwärtig«, »zukünftig« und der Reihe »früher«, »gleichzeitig« und »später« zahlreiche philosophische Debatten.


Von Tatsachen- zu Vernunftwahrheiten

Für Leibniz bringt unser subjektiver Zeitbegriff etwas Wirkliches zum Ausdruck : nämlich kausale Beziehungen zwischen Ereignissen. Aber müssen wir den Satz, dass nichts ohne Grund geschieht, als letzten unerklärlichen Rest seiner Philosophie einfach hinnehmen?

Leibniz unterscheidet grob zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten finden sich etwa in der Mathematik. »Die entscheidende Grundlage für die Mathematik ist der Satz vom Widerspruch bzw. von der Identität, das heißt, es kann eine Aussage nicht gleichzeitig wahr und falsch sein. Darum gilt: A ist A und kann nicht Nicht-A sein.«

Im Alltag sind wir dagegen ständig mit Gegebenheiten konfrontiert, mit denen wir uns einfach abfinden und die Leibniz als Tatsachenwahrheiten bezeichnet. Würden wir sie als Tatsachen stehen lassen, dann blieben uns die Zusammenhänge der Naturerscheinungen grundsätzlich verborgen. Wissenschaft wäre dann eine lose Sammlung von Erfahrungen. » Um von der Mathematik zur Physik übergehen zu können, ist noch ein anderer Satz erforderlich«, fährt Leibniz daher fort. »Das ist der Satz vom hinreichenden Grund, nämlich es ereignet sich nichts, ohne dass es einen Grund gibt, warum es so und nicht anders ist.« Nach diesen Ursachen müsse man forschen. Jede Ursache habe ihre Wirkung und könne daraus erkannt werden. Leibniz weist darauf hin, dass eine solche Kausalanalyse schwierig sein kann. Da immer viele Ursachen zusammenwirken, überlagern sich die hervorgebrachten Effekte.

Ist schon unser Geist damit beschäftigt, nach solchen Ursachen zu suchen, geht die Aufgabe des Wissenschaftlers weiter : Unter den kontrollierten und protokollierten Bedingungen der besonderen Laborumgebung verändern Physiker die einzelnen Umstände sukzessive, um die Wirkung auf die Phänomene zu prüfen. So gesehen, beruht die ganze experimentelle Physik auf dem Glauben an eine kausale Struktur der Welt. Der Naturforscher beobachtet Veränderungen, die er mit Ursache-Wirkungs-Beziehungen in Zusammenhang bringt. Anschließend geht es darum, die Entwicklung der Veränderungen oder Differenzen in Form von Differenzialgleichungen zu beschreiben. Wie sich aus solchen Gesetzen eine messbare zeitliche Dauer ableiten lässt, ist eine Frage, die in diesem Buch an späterer Stelle noch thematisiert wird.

Da hinter jeder neuen Erkenntnis eine Vielzahl von Fragen lauert, ist der physikalische Forschungsprozess unabschließbar. Leibniz schreckt das nicht. Denn so wie sich eine unendliche mathematische Reihe einem Grenzwert immer weiter annähern kann, glaubt der Philosoph daran, dass wir, wenn wir das kausale Beziehungsgeflecht immer weiter auflösen, uns der Wahrheit annähern, dass wir die Tatsachenwahrheiten also letztlich auf Vernunftwahrheiten zurückführen können.

Newton ist diesbezüglich viel zurückhaltender. Als Experimentator kennt er die Schwierigkeit, in einigen wenigen Dingen eine gewisse Klarheit zu erlangen. »Mir selbst komme ich vor wie ein Knabe, der am Meeresufer spielt und sich damit belustigt, dass er dann und wann einen glatten Kiesel oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit unerforscht vor ihm liegt.« Was für ein Unterschied zu Leibniz, der alle Grenzen hinter sich lässt: »Plus Ultra!« Mit dem logisch Allernotwendigsten ausgestattet, sticht der optimistische Rationalist in See und wähnt sich schon am anderen Ufer.


Kann man »Zeit« sparen?

Wir hingegen kehren zur Alltagssprache zurück, um wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. In vielen zeitlichen Aussagen, die wir tagtäglich benutzen, klingt an, dass Zeit eine Beziehung zwischen Ereignissen ist: »Ich rufe zurück, wenn die Kinder im Bett sind.« Oder: »Komm doch heute Nachmittag vorbei.« Im ersten Fall beziehen wir uns auf einen konkreten Handlungsablauf, im zweiten auf den Lauf der Sonne. Solche zeitlichen Aussagen sind allerdings unscharf : Wie lange dauert es, die Kinder ins Bett zu bringen ? Wann ist »heute Nachmittag«?

Viel präziser sind Uhren, die wir als Maßstäbe benutzen, wenn wir etwa sagen : »Ich hole dich um viertel nach acht zu Hause ab.« Das Klingeln an der Haustür wird demnach gleichzeitig mit dem berechenbaren Vorrücken des Zeigers auf viertel nach acht stattfinden. Eine derartige Präzisierung erspart uns ein längeres Warten.

In modernen Gesellschaften mit einer hohen Mobilität und einem engmaschigen Terminkalender, in denen Wartezeiten und Pausen als unproduktiv angesehen werden, hat die Uhrzeit als standardisierter Bezugsrahmen etwas Verbindliches. Demgegenüber tritt eine Ereigniszeit, die sich auf konkrete Handlungen wie das Kinder-zu-Bett-Bringen bezieht, zurück. Wir fügen sie in den durch die Uhrzeit vorgegebenen Zeitrahmen ein und brechen das Kinder-zu-Bett-Bringen unter Umständen verfrüht ab, weil der vorgerückte Zeiger bereits das nächste Ereignis ankündigt.

Der feste soziale Zeitmaßstab wirkt in vieler Hinsicht auf unser Denken zurück. Beim Blick auf die allgegenwärtigen Uhren und Kalender, deren Einheiten fließend ineinander übergehen, erleben wir Zeit als feste Größe. Schon deswegen entspricht unsere Zeitvorstellung viel eher der newtonschen Sichtweise als der leibnizschen.

Allerdings könnte das leibnizsche Zeitverständnis dabei helfen, die Kehrseite einer solchen Komplexitätsreduktion und Verdinglichung der Zeit zu verstehen.

Wer Zeit als Beziehung zwischen Ereignissen begreift, wird schließen, dass man keine »Zeit« sparen kann. Man kann Prozesse beschleunigen, konzentrierter arbeiten und so mehr Aktivitäten in einen Tag hineinpacken. Wer jedoch meint, »Zeit« zu sparen, der spart auch an Erlebnissen und Erfahrungen, insbesondere solchen, die erst durch das Innehalten, das Warten oder den Umweg möglich werden. Ein grundsätzliches Verständnis von Zeit könnte daher auch für unser Lebensgefühl von Bedeutung sein.

Im Unterschied zu Newton spricht Leibniz der Zeit ein von den materiellen Dingen unabhängiges Dasein ab. Ausgehend vom Subjekt, betrachtet er sie als » Gedankending «. Darüber hinaus wären Raum und Zeit als mögliche Ordnungen zwischen den Dingen aber auch in den Ideen Gottes.

Gott hätte bei der Hervorbringung des Universums den bestmöglichen Plan gewählt, bei dem sich die größte Vielfalt mit der größten Ordnung verbinde, bei dem Raum und Zeit am besten genutzt würden, um die größte Wirkung mit den einfachsten Mitteln zu erzielen. Das Universum ist schöpferisch. Leibniz zufolge wird im Raum all das wirklich, was miteinander verträglich ist. Was dagegen nicht miteinander verträglich ist, existiert nicht zugleich, sondern nacheinander in der Zeit.

Da gegenwärtige und zukünftige Zustände auf eindeutige Weise funktional miteinander verknüpft wären, begegnet man in Leibniz’ posthum veröffentlichter »Urgeschichte der Erde« nichts Übernatürlichem. Ausgehend von den wegweisenden Forschungen des dänischen Geologen Niels Stensen, spekuliert der Philosoph über eine aus solarer Materie hervorgegangene Erde. Aus dieser ursprünglich glutflüssigen Masse verdampfte das Wasser und bildete eine Atmosphäre, wohingegen die Gebirge erst später entstanden.

Die zahllosen Abdrücke von Muscheln und Fischen im Gestein, das er in der Harzer Bergbauregion gesehen hat, hält er für Überreste einstiger Lebewesen. »Ich habe selbst eine Barbe, einen Barsch und einen Weißfisch in den Händen gehabt, die dem Stein eingeprägt waren.« Wir Menschen stünden mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen und diese wiederum mit den Fossilien in Zusammenhang. Alles Mögliche strebe nach Existenz. Daher existiere es auch, es sei denn, etwas anderes, das ebenfalls nach Existenz strebe, hindere es daran, weil es mit dem Ersteren nicht verträglich ist.

In einer Welt, in der alles durch Naturgesetze geordnet ist, sind selbst »Pflanzentiere« und andere Zwischenwesen nichts Ungeheuerliches. » S o groß ist die Kraft des Prinzips der Kontinuität in meinem Denken, dass ich nicht im Geringsten erstaunt wäre, wenn man Wesen entdecken würde, die hinsichtlich mancher Eigenschaften wie zum Beispiel Ernährung und Vermehrung mit gleichem Recht als Pflanzen wie Tiere gelten können. « Er sei sogar davon überzeugt, dass es solche Tiere geben müsse und es eines Tages gelingen werde, sie aufzufinden, wenn erst die Unendlichkeit von Lebewesen genauer erforscht sei, die sich im Innern der Erde und in den Tiefen der Gewässer verborgen hielten. Und in verblüffender Modernität fährt er fort: »Wir haben erst gestern zu beobachten begonnen ; wie könnten wir gerechterweise der Vernunft etwas abstreiten, was wir nur bisher keine Gelegenheit hatten zu beobachten?«

Thomas de Padova: "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit". Piper Verlag, München 2013, 352 Seiten, 22,99 Euro, Epaper 16,99 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 228 bis 237. Die Fußnoten wurden aus Gründen der Darstellungsmöglichkeiten weggelassen. Mehr zum Buch.

  • Zum Autor:Thomas de Padova ist ein deutscher Wissenschaftspublizist.De Padova studierte Physik und Astronomie in Bonn und Bologna. Von 1997 bis 2005 war er als Wissenschaftsredakteur beim Tagesspiegel tätig. Seit 2005 arbeitet er als freier Wissenschaftspublizist. De Padova lebt in Berlin und ist dort seit 2006 Mitglied im Kuratorium des Magnus-Hauses der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und Mitglied im Programmbeirat der Urania.