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Karl Wolfskehl

Verbannter Geist

Erinnerungen an Karl Wolfskehl – den Dichter des „Geheimen Deutschlands“ und Gründungsredakteur der Zeitschrift „Der Rotarier“, der vor den Nazis fliehen musste und von seinem Münchner Rotary Club im Stich gelassen wurde.

Friedrich Voit01.07.2015

Als sich 1928 in München ein Rotary Club formierte, gehörte Karl Wolfskehl, neben zahlreichen anderen führenden Repräsentanten des gesellschaftlichen Lebens der Stadt, zu den Gründungsmitgliedern. Nur wenige Jahre zuvor wäre Wolfskehl für eine international ausgerichtete Vereinigung wie Rotary wohl kaum zu gewinnen gewesen, als sein Dichten und Denken noch ganz im Dienste des Schaffens von Stefan George und dessen geistigen „Staats“ stand, für den Wolfskehl 1910 den Begriff „Geheimes Deutschland“ geprägt hatte.

Mitglied des George-Kreises

Wolfskehl, geboren am 17. September 1869, entstammte einer wohlhabenden Darmstädter jüdischen Familie, die ihre Herkunft und Verbundenheit mit der Region über Jahrhunderte zurückführte. Das vom Urgroßvater gegründete Bankgeschäft, das der Vater des Dichters um 1880 verkauft hatte, um sich seiner wirtschaftspolitischen Tätigkeit als Landtagsabgeordneter widmen zu können, gewährte großbürgerlichen Wohlstand, der Karl Wolfskehls Jugend und Erziehung prägte und es ihm ermöglichte, sich ganz seinen philologischen und literarischen Neigungen entsprechend zu bilden, ohne gezielt eine berufliche Karriere anzustreben. Er studierte Germanistik und Geschichte, wobei er zeitüblich noch andere ihn interessierende Vorlesungen besuchte, um 1893 schließlich mit einer Arbeit über „Germanische Werbungssagen“ zu promovieren. Das entscheidende Erlebnis jener Jahre war jedoch die Begegnung mit der Dichtung Stefan Georges und bald darauf mit dem Dichter selbst, der ihm zum Freund wurde. Sie wurde prägend für sein ganzes Leben.

In dem Kreis, der sich um die Jahrhundertwende um George formte, nahm Wolfskehl eine zentrale Stellung ein. Für George, der Öffentlichkeit mied, wurde Wolfskehl zum rastlos tätigen und zu allem aufgeschlossenen Vermittler nach außen, der für die neue Dichtung warb und vielfältige Kontakte schuf. Die Wohnungen, die Wolfskehl nach seiner Heirat mit Hanna de Haan 1898 in München bezog, wurden zu einem legendären Zentrum literarischer Geselligkeit. George hatte dort ein eigenes Zimmer, später eine eigens angemietete Wohnung, wo er sich Jahr für Jahr über Wochen als Gast aufhielt. Eigene Dichtung veröffentlichte Wolfskehl fast ausschließlich in den kreisinternen Blättern für die Kunst. Selbst der schmale Band „Gesammelte Dichtungen“ von 1903 zielte nicht auf eine breitere Öffentlichkeit. Man lebte ästhetischen Idealen verpflichtet, suchte eine geistige Elite heranzuziehen, abgehoben vom gewöhnlichen Tagesgeschehen.

Diese Lebensform endete mit dem I. Weltkrieg und der anschließenden Inflation, als Wolfskehl einschneidende Vermögensverluste erlitt und sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Haus in Schwabing musste aufgegeben werden, und die Familie zog in ein noch im Krieg erworbenes Landhaus im badischen Kiechlinsbergen. Damit lockerte sich auch die äußere Nähe zu Stefan George, mit dem es nun nur noch zu gelegentlichen Begegnungen kam. Wolfskehl ging für einige Zeit als Hauslehrer nach Italien, kehrte dann nach München zurück, wo er sich in den Zwanziger Jahren rasch als Herausgeber und Publizist einen Namen machte, während er als Dichter fast verstummte. Der 1927 veröffentlichte Band „Der Umkreis“ war bereits vor dem Kriege zusammengestellt und enthielt im Wesentlichen Dichtungen aus der Vorkriegszeit.

Wolfskehl spürte schon zu Beginn der 30er Jahre, dass ein nationalsozialistisches Regime für Juden einschneidende Beschränkungen und Verfolgung bringen würde. Bereits bevor Hitler an die Macht gelangte, dachte er an ein Verlassen Deutschlands. Am Tag nach dem Reichstagsbrand floh er in die Schweiz.

Vertreibung aus dem Vaterland

Der Gang ins Exil – er sollte Deutschland nie mehr betreten – brachte abermals einen grundlegenden Lebensumbruch. Die Vertreibung als Deutscher und Jude aus dem Vaterland – auch den rückgratlosen Rauswurf aus dem Rotary Club im März 1933, dessen Zeitschrift Der Rotarier er als Schriftleiter von 1930 bis 1933 verantwortet hatte, empfand er als schmähliche Kränkung – stürzte den fast 65jährigen in eine Existenzkrise, die ihm jedoch zugleich den Anstoß und Kraft zu neuer Dichtung brachte. In nur wenigen Monaten schrieb er 1934 die Gedichtfolge „Die Stimme spricht“, die er im jüdischen Schocken Verlag veröffentlichte. Diese Gedichte fanden eine außerordentliche Resonanz unter den Juden in Deutschland, die von dem emphatischen Bekenntnis zum Judentum und zur jüdischen Geschichte unmittelbar angesprochen wurden, und viele begleitete das schmale schwarze Bändchen in die weltweite Emigration. Neben diesen Gedichten entstanden die ersten Versionen des großen Gedichtes „An die Deutschen“, die umgehend unter Freunden zirkulierten. Dieses Gedicht, das das wechselseitig befruchtende jahrhundertelange Zusammenleben von Juden und Deutschen aufrief, das der Dichter im „Abgesang“ nun in stolzer Abkehr aufkündigt, erschien in seiner endgültigen Fassung erst 1947 in der Schweiz.

Das ihm verbliebene Restvermögen erlaubte Wolfskehl einen knappbemessenen Lebensunterhalt während der fünf Jahre im Schweizer und italienischen Exil. 1934 kam Margot Ruben zu ihm nach Florenz. Die um fast 40 Jahre jüngere war ihm vom gemeinsamen Freund Melchior Lechter, dem Berliner Buchkünstler, und dem ihm nahe befreundeten Basler Wirtschaftswissenschaftler Edgar Salin, bei dem Margot Ruben 1932 promoviert hatte, als Sekretärin empfohlen worden. Das Arbeitsverhältnis wandelte sich bald in eine Liebesbeziehung und Margot Ruben wurde zur Gefährtin, die sein Exil bis zum Tod 1948 in Neuseeland teilte.

In Italien stand Wolfskehl noch in regem Kontakt mit Freunden und der Familie, soweit sie wie er im Exil lebten oder zu Besuchen aus Deutschland anreisten. Als sich der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus immer mehr verbanden und ein neuer Weltkrieg am Horizont drohte, entschloss sich Wolfskehl zu erneutem Aufbruch – möglichst weit weg von Europa. Dies ermöglichte sein Verleger Salman Schocken, der Wolfskehls wertvolle Bibliothek erwarb und ihm dafür eine schmale Rente zahlte. Mitte Mai 1938 brachen Wolfskehl und Margot Ruben von Marseille auf und erreichten nach sechswöchiger Seefahrt ihr antipodisches Ziel.

Letzte Station Neuseeland

Wolfskehl kam als Tourist nach Neuseeland mit einem Rückreiseticket, das jedoch bereits kurz nach der Ankunft wertlos wurde, da Italien begonnen hatte, ausländische Juden auszuweisen. Dank der Unterstützung Aucklander Persönlichkeiten erlangten beide, nun als „refugees“, Aufenthaltsgenehmigungen. Hilfe bot ebenso der lokale Rotary Club, der den Dichter zu einer internationalen Tagung als Vertreter Deutschlands einlud. Der im Asylland völlig unbekannte Wolfskehl bewältigte den erneuten, dritten Umbruch in seinem Leben wie zuvor in einem Schub neuer Dichtung, die ihm in den Monaten nach der Ankunft entströmte. Die Kraft zu dichten sollte ihn nicht mehr verlassen. In den zehn Jahren des neuseeländischen Exils vollendete er zahlreiche Gedichte und es entstanden viele neue, die Zyklen „INRI“, „Mittelmeer“ und als Krönung die Dichtung „Hiob oder Die Vier Spiegel“, in der er, wie er 1946 an Leo Baeck schrieb, seine „Vision vom Wesen des Judentums“ gestaltete.

In den zahlreichen Briefen, die Karl Wolfskehl aus Neuseeland an die vielen über den ganzen Globus verstreuten Freunde und Bekannten schrieb, beklagt er immer wieder seine Einsamkeit und Verlorenheit in dem europafernen Exil. Er sah sich als moderner Ovid und Hiob und wie Dante als exul immeritus. Darin drückt sich sicherlich richtig sein Grundempfinden aus, aber doch auch nicht ganz. Bis ins hohe Alter wahrte sich Wolfskehl eine Neugier und Aufgeschlossenheit für seine Umwelt. Noch immer vermochte er gerade jüngeren Menschen freundschaftlich zu begegnen und sie in seinen Bann zu ziehen. Doch in seinen Briefen sind seine Bekanntschaften mit neuseeländischen Schriftstellern wie etwa dem Erzähler Frank Sargeson und den Dichtern Denis Glover, Rex Fairburn der Allen Curnow nur eher beiläufig erwähnt. Solange es seine Gesundheit erlaubte, bestand ein reger freundschaftlicher und durchaus wechselseitiger Austausch mit der jungen neuseeländischen Avantgarde, wie es einige eingehende Kapitel in den Erinnerungen neuseeländischer Freunde bezeugen.

Karl Wolfskehl, der nach dem Krieg neuseeländischer Staatsbürger wurde, dafür dankbar und sogar stolz, nun unter dem „Schutz“ des britischen Löwen zu sein, hätte gern noch einmal Europa besucht. Es war ihm jedoch nicht mehr vergönnt. Niemand im offiziellen München, das ihn einst als „Zeus von Schwabing“ feierte, rief ihn zurück. Er starb am 30. Juni 1948 und ist auf dem jüdischen Friedhof am Stadtrand von Auckland begraben. Das Grab weist kein Datum auf, sondern nennt nur den Namen in hebräischer und deutscher Sprache und darunter die lateinische Inschrift: „Exul Poeta“. Als solchen sollte die Nachwelt ihn erinnern.


An die Deutschen

von Karl Wolfkehl

Die weltzeit die wir kennen 
schuf der geist
Stefan George

Das Lied
Kein stern und kein jahr
Vernichtet den geist
Allmächtig so wahr
Er noch wundert und preist.
Stefan George

Euer Wandel war der meine.
Eins mit euch auf Hieb und Stich.
Unverbrüchlich was uns eine,
Eins das Grosse, eins das Kleine:
Ich war Deutsch und ich war Ich.
Deutscher Gau hat mich geboren,
Deutsches Brot speiste mich gar,
Deutschen Rheines Reben goren
Mir im Blut ein Tausendjahr.
Stürzebach und Stürme rauschten,
Um mich unsrer Wälder Grund,
Frauen schauten, Knaben lauschten
Auf mein Schreiten, meinen Mund.
Zu mir traten eure Besten,
Zu mir, den die Flamme heisst -
Ob im Osten, ob im Westen:
Wo ich bin ist Deutscher Geist.
Eure Kaiser sind auch meine.
Grosskarl, mild gestreng und fron,
Unter Seiner Sonnen Scheine
Zog der Ahn zum Frankenthron
Nach Magonz. Sein Spross, der klare
Ritter, Raw Kalonymos
Gab, auf dass er Treue wahre,
Treue kaiserlichem Aare,
Anderm Otto, da furchtbare
Not ihn bog, sein eigen Ross.
Und zum wahrsten Gibellinen
Friedrich, aller Kronen Kron,
Eilten, Guts und Bluts zu dienen,
Jude, Christ und Wüstensohn.
Eure Dichter sind auch meine.
Auf rief ich Held Hildebrand,
Mit dem Schwelg sass ich beim Weine,
Mit Herrn Walther auf dem Steine,
Fuhr mit dir durchs welsche Land,
Erzpoet, zu Reinalds Ruhme,
Flocht den vollsten Blütenstrauss,
Wählend, wägend Blum auf Blume
Mir und euch für unser Haus.
Eure Mär ist auch die meine.
Vom helldüstern Bruderpaar,
Blindem, der den Blanken töte,
Hoeder-Vult, von Speer und Flöte
Flüstert‘ ich euch, mir in Reine
Rauschte Schwangotts Flügelschar.
Nun im Mantel, nun als Rüde
Lockte, grollte lärmumwogt
Zweimal Wer: ich sah, mich lüde
Ursturm, Einaug, Runenvogt!
Eure Sprache ist auch meine
Liebe Muttersprache, seit
Jener Ahn kam, sie ward seine,
Blieb den Kindern, fränkisch breit.
Einverleibt zur Gottesstunde
Sann ich, sang ich, sing ich heut,
Deut und höre frühste Kunde,
Hüte mit in heiliger Runde
Deine, meine Seele, Teut.
Denn dein Traum ist auch der meine.
Vom geheimen deutschen Fug,
Von der Braut im Zauberschreine,
Vom Kristallnetz, das die Feine
Selbst gewirkt und um sich schlug,
Bis, erwacht, sie‘s über Weiten
Ausspannt in gewaltigem Zug,
Sterne fängt und Gang der Zeiten,
Weiss auch meines Traumes Flug.
Und dein Tag gar ist der meine.
Auch um meine Stirne wand
Stefan, Flammenhort vom Rheine,
Heil der Herzen, Er der Eine,
Unsres Stromes Silberband,
Duft des schönen, Schau des neuen
Lebens schenkend, der Gebühr,
Weihend mich, den Immertreuen,
Seiner Sende, seiner Kür,
Seiner Sende, auszustreuen
Junges Gotteslicht im Lied,
Seiner Kür, die goldnem Leuen
Dunkle Fittiche beschied.
Morgens Meister, Stern der Wende
Hat Ihn lang mein Sang genannt:
Sohn der Kür, Bote der Sende
Bleib ich, Flamme, Dir Trabant!

DER ABGESANG
Nur aus dem fernsten her
kommt die erneuung.
Stefan George

Dein Weg ist nicht mehr der meine,
Teut, dir schwant, erkoren seist
Du am Nordgrat, nicht am Rheine,
Lug sei, was dich Andern eine,
Lug das Lamm in Kreuzespeine,
Blut sei Same, Gift der Geist.
Borgst dir Zeichen, Zucht und Richter,
Löschest aus die eignen Lichter,
Fährst vom Weltenhaus
Deiner Kaiser, deiner Dichter
Brüllend, Teut, ins Dunkel aus:
Wüsstest du was drinnen kreist!
Nacht hat auch zu mir gesprochen,
Gottesnacht, schwer dröhnt das Wort:
Losgebrochen! Losgebrochen!
Alle meine Pulse pochen
Von dem Rufe: auf und fort!
Und ich folge, und ich weine
Weine, weil das Herz verwaist,
Weil ein Tausendjahr vereist.
Aber ob zum Morgenscheine
Hindrängt das gewaltige Wort,
Wo ich mich Altvätern eine,
Harrnd, dass Hagadol erscheine -
Ob der Ruf mich fernhin reisst:
Kür verheisst und Sende weist.
Weit aus heilig weissem Feuer
Reckt die Hand und heischt der Meister:
Überdaure! Bleib am Steuer!
Selige See lacht, Land ergleisst!
Wo du bist, du Immertreuer,
Wo du bist, du Freier, Freister,
Du der wahrt und wagt und preist -
Wo du bist, ist Deutscher Geist!

Karl Wolfskehl  
„Späte Dichtungen“, hrsg. v. Friedrich Voit, Wallstein Verlag 2009

 

Friedrich Voit
Prof. Dr. Friedrich Voit ist Professor für Europäische Sprachen und Literatur, er lehrte unter anderem an der University of Auckland. Er ist zudem Herausgeber der bei Wallstein erschienenen „Späten Dichtungen“ Karl Wolfskehls (2009) sowie Verfasser von „Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil“ (Wallstein 2005). arts.auckland.ac.nz