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Literatur

Die Entstehung des » Meister «-Kults

Zum Briefwechsel zwischen Stefan George und Karl und Hanna Wolfskehl

Friedrich Voit01.12.2015

Dieser Briefwechsel gibt unmittelbare Einblicke in das literarische Leben um 1900, zur frühen Wirkungsgeschichte der Dichtung Stefan Georges und zur Entstehung des Kreises, der sich um George bildete. Georges erste Gedichtbände bilden eine Brücke zum europäischen Symbolismus im Ausgang des 19. Jahrhunderts und sind ein wesentlicher Beitrag zur Erneuerung der deutschen Dichtung um und nach der Jahrhundertwende.

 

Wolfskehls Brief an George, der die Korrespondenz eröffnet, setzt den gehobenen Ton und mehr noch die Haltung zueinander, die immer beibehalten bleibt: ein Maß an Förmlichkeit wahrend und selten offen vertraut nah. Der nur ein Jahr jüngere stellt sich ganz in den Dienst der Dichtung und Mission Georges, Poesie und Kunst als lebensbereicherndes, fast religiöses Ethos zu leben. Wolfskehl sah im Dichter den „Priester vom Geiste“. George selbst war ihm der Meister, wie er ihn schon bald anredete, als dessen Jünger er sich begriff. Wolfskehl war es, der den Titel im sich bildenden Kreis einführte. Diese unbedingte Unterordnung befremdete schon manche Zeitgenossen.

 

Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, wie Wolfskehl dennoch seine Eigenständigkeit wahrte. George gab der ausgreifenden Persönlichkeit Wolfskehls, dessen vielbewundertem Wissens- und Bildungsfundus wie seinen Sammelleidenschaften, die Bücher, Spazierstöcke wie Elefanten, vor allem aber auch Menschen umgriff, lebenslang Norm und „Richte“. George, der publikumsfern einen geistesaristokratischen Nimbus wahrte, bleibt in den Briefen (oft nur Postkarten) knapp und blendete Persönliches aus, Wolfskehl ist hier eingehender, auch über sich und fungiert gleichsam als Antenne im literarischen Leben. Seine Briefe an den adorierten George freilich erreichen nur selten die persönliche wie sprachliche Souveränität, wie man sie aus seinem Briefwechsel mit Gundolf oder den späteren Exilbriefen kennt, mit denen er sich als einer der bedeutenden Briefschreiber der Epoche auswies. Bereits kurz vor der Hochzeit 1898 schaltet sich auch Wolfskehls Frau Hanna in den Briefwechsel ein. Wie Karl teilt auch sie die vorbehaltlose Verehrung des „Meisters“, doch findet sie ihren eigenen, immer erfrischenden Ton, wenn sie sich an George wendet, der ihre Art spürbar schätzte. Ihre Briefe sind eine wirkliche Entdeckung.

 

Einblicke in die Schwabinger Boheme

Der Schwerpunkt des Briefwechsels liegt in den Jahren 1893–1910. Es ist die Zeit der Nähe zwischen Briefpartnern. Man sah sich oft, sei es in Bingen, Darmstadt, Berlin oder München, wo Wolfskehl nach seiner Heirat mit Hanna de Haan lebte. So bringt der Briefwechsel neue Details zur Lenkung des literarischen Diskurses mit Hilfe der Blätter für die Kunst und der sogenannten „Geistbücher“ des Kreises, zu manchem kleinen, bisweilen kleinlichen literarischen Zank, wenn Kritiker es wagten, den Meister, gar dessen Dichtung oder den elitären Kreis um ihn zu kritisieren. Berührt wird der merkwürde Zirkel der Kosmiker um Ludwig Klages, Alfred Schuler und Wolfskehl, der 1903 am gegen Wolfskehl gerichteten Antisemitismus von Klages zerbrach, oder das legendäre Kugelzimmer, das die Wolfskehls für George in dem Haus gemietet hatten, wo auch sie ihre Wohnung hatten, und das George über Jahre immer wieder für längere Aufenthalte in München nutzte. Als Dichter und Statthalter Georges stand Wolfskehl damals im Mittelpunkt der Schwabinger Boheme und Literaturszene.

 

Nach 1910 lockerte sich die Freundschaft und mit ihr der Briefwechsel. George wandte sich zunehmend jüngeren Kreismitgliedern zu und mit dem Ende des Weltkrieges und durch die Inflation verlor Wolfskehl einen großen Teil seines Vermögens. Seine Familie lebte damals bereits auf dem 1915 erworbenen Landgut in Kiechlinsbergen am Kaiserstuhl und er selbst war nun – nach einem Zwischenspiel als Erzieher in Italien – gezwungen, sich in München ein Zimmer zu nehmen und dort seinen Lebensunterhalt als Feuilletonjournalist, Herausgeber (u.a. auch der Zeitschrift der Rotary Clubs in Deutschland, bis man ihn als Juden 1933 ausschloss) und Übersetzer zu verdienen. George, der für Wolfskehls Leben und Arbeit dieser Jahre kaum mehr Verständnis hatte, erfuhr noch von Wolfskehls Gang ins Exil. Den bedeutenden Neubeginn als Dichter aber, der sich mit der Veröffentlichung des Gedichts „Herr! Ich will zurück zu Deinem Wort“ im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt im Oktober 1933 ankündigte und das dann die Gedichtfolge „Die Stimme spricht“ (1934) eröffnete, hat George wohl nicht mehr kennengelernt vor seinem Tod im Dezember 1933. Trotz eindringlicher Bitten Wolfskehls wollte der gesundheitlich angeschlagene George den früheren Freund, der sich nur ein paar Kilometer entfernt aufhielt, nicht mehr empfangen.

 

Ein Wort noch zur vorbildlichen Edition dieses Briefwechsels, an der sich bereits mehrere versucht hatten. Was die beiden Herausgeberinnen leisteten, kann jeder ermessen, der sich am Entziffern von Wolfskehls Handschrift versucht hat. Ein Faksimile veranschaulicht, wie es George einmal zu schwierig wurde und er einfach einen Brief zurückschickte mit der Bemerkung „Vollkommen unlesbar Stefan“, was freilich nur wenig bewirkte. Die Fußnoten erschließen mustergültig, knapp und kompetent den zum Verständnis der Briefe notwendigen Hintergrund und bereichern die Lektüre.

Friedrich Voit
Prof. Dr. Friedrich Voit ist Professor für Europäische Sprachen und Literatur, er lehrte unter anderem an der University of Auckland. Er ist zudem Herausgeber der bei Wallstein erschienenen „Späten Dichtungen“ Karl Wolfskehls (2009) sowie Verfasser von „Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil“ (Wallstein 2005). arts.auckland.ac.nz