Vom Mangel des Besonderen
Der Kunsthistoriker Marc Peschke über das Buch "Hinterhof" von Wolfgang Strassl
Hinterhöfe fristeten lange Zeit ein architektonisches Schattendasein. Die klassische Hinterhof-Bebauung der Gründerzeit, die tristen Hinterhöfe der Mietskasernen: Es gibt sie immer noch. Doch verändern sie sich. Werden aufgehübscht, werden zu grünen Refugien mitten im urbanen Raum, zur stillen Oase bisweilen, zum Ort der Erholung oder neuer, cooler Kiez-Kreativität. Zu einem von Architekten und Stadtplanern entdeckten Ort, der seit Jahren eine Renaissance erlebt: Man denke nur an die Hackeschen Höfe in Berlin, die Stars unter den Hinterhöfen.
Doch viele der Hinterhöfe sind ganz ohne Glanz. Manchen sieht man noch an, dass hier einst Vieh gehalten wurde, später Handwerker ihre dunklen Werkstätten hatten. Hier trocknete die Wäsche. Solche Höfe, die eher Mauerblümchen sind, interessieren den Münchner Wolfgang Strassl, der sein neues Fotobuch schlicht "Hinterhof" genannt hat.
Der spartanische Titel passt zu den Bildern, denen jeder Glamour fremd ist. Am Anfang des Buchs lässt Strassl den amerikanischen Fotografen Saul Leiter sprechen: "Durch Fotografie lernt man, zu schauen und zu sehen. Du fängst an, Dinge zu sehen, auf die du nie geachtet hättest." Und so wie der Pionier der US-Farbfotografie macht sich Strassl auf die Suche nach dem Unbeachteten.
Er findet einen Raum, der mehr Leerraum als Lebensraum ist, findet vollkommen Banales: eine mit Efeu bewachsene graue Wand, auf der Schilder angebracht sind, welche die Besitzer von Parkplätze benennen. Er findet einen schäbigen Kinderstuhl mit Kindertisch, an der Wand angebrachte Fahrradständer, einen Besen in einer Ecke. Dann einen auf eine Wand gemalten Tiger in einem Phantasie-Dschungel, der sich mit dem echten Hinterhof-Efeu mischt. Einen Plastiktisch und leere Blumentöpfe davor. Sprießendes Unkraut, ein abgestelltes Fahrrad, Treppenstufen mit Laub, ein Aschenbecher voller Kippen, jede Menge Kinderfahrräder, ein Garagentor, ein altes Graffiti, einen gelben Gartenschlauch, Kinderspielzeug im Sandkasten. Und nochmal: jede Menge Kippen im Becher. Dann, nächstes Bild, eine Holzbank mit einem Strohhut – der Einzug des Mediterranen in den grauen deutschen Hinterhof. Die Banalität ist ohne Grenzen.
"Ich schaue auf die nur vordergründig banale und belanglose Realität dieser urbanen Sujets, sehe sie aber davon losgelöst als unbewusst arrangierte Stillleben in ihrer doppelbödigen, surrealen und poetischen Dimension", sagt Strassl, der bereits Fotobücher über Jerusalem, London und einen Band über Münchner Parks veröffentlicht hat: reichlich andere Orte als die Hinterhöfe, die er uns jetzt zeigt.
So wenig diese Bilder visuell auffallen, so sehr sie langweilen, so passt ihr Duktus doch zum Sujet. Es ist nicht der fotografische Stil, der dieses Buch interessant macht, sondern die Tatsache, dass man in diesen so farblosen, kaum stilisierten Fotografien Belege des Wesens der menschlichen Existenz unserer Zeit erkennen kann. Diese Bilder lassen uns denken: Es ist alles banal. Es ist alles trist. Noch ein Garagentor. Und noch zwei Tonnen voll mit Altpapier. Immerhin, auch ein Gartentisch, hübsch gedeckt. Eine Ausnahme.
Banalität, Tristesse, Langeweile, Ödnis, Geistlosigkeit. Daraus ist die Welt gemacht. Viel mehr erzählen uns diese Bilder nicht. Natürlich ist die Banalität schon lange ein Thema in der Fotografie. Sie kennt Banalitäts-Meister wie William Eggleston, Heinrich Riebesehl oder Jörg Sasse. Kennt einen Jean Baudrillard, der ebenfalls Banales fotografiert hat.
"Was die Dinge kennzeichnet ist ihre Abwesenheit, ihre Absenz", schreibt der Philosoph. Und genauso lässt sich auch diese Art der Hinterhof-Fotografie beschreiben. Strassl stellt den Mangel des Besonderen, die Banalität, gnadenlos, unverstellt, ganz ohne ästhetischen Reiz aus. Ein vollendet banales Buch.
Marc Peschke ist Kunsthistoriker, Journalist und Texter, Kurator und Kunstberater für Print- und Online-Medien, PR- und Werbeagenturen, Künstler, Museen, Galerien und Büros.
Wolfgang Strassl: Hinterhof. 84 Seiten. Kerber Verlag. Bielefeld 2023. ISBN 978-3-7356-0961-8. 32 Euro