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Buch der Woche

Warum Tiere dieselben Rechte wie Menschen haben

29.08.2014

Massentierhaltung, Fleischskandale, Tierversuche – unser Umgang mit Tieren ist längst kein Nischenthema mehr, für das sich lediglich Aktivisten oder Ethiker interessieren, sondern steht im Fokus breiter öffentlicher Debatten. Allerdings konzentrieren sich die Diskussionen zumeist auf Fragen der Moral, darauf, welche moralischen Rechte und Interessen wir Tieren aufgrund ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten – zum Beispiel Schmerzen zu empfinden – zuschreiben müssen und welche moralischen Pflichten sich daraus für uns ergeben.

Sue Donaldson und Will Kymlicka gehen weit darüber hinaus und behaupten, daß Tiere auch politische Rechte haben. Im Rückgriff auf avancierte Theorien der Staatsbürgerschaft argumentieren sie dafür, ihnen neben unverletzlichen Grundrechten einen je gruppenspezifischen politischen Status zuzusprechen. Das heißt konkret: volle Staatsbürgerschaft für domestizierte Tiere, Souveränität für Gemeinschaften von Wildtieren
sowie Einwohnerstatus für jene, die zwar nicht domestiziert sind, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu uns leben. Wir haben eien Leseprobe für Sie:

Ein wichtiger Strang der Theorie der Tierrechte (TTR) geht von der Prämisse aus, daß alle Tiere mit Subjektivität – das heißt: alle Tiere mit Bewußtsein bzw. Empfindungsvermögen – als Rechtssubjekte gelten sollten sowie als Träger unverletzlicher Rechte. Der Gedanke, Tiere besäßen unverletzliche Rechte, ist eine sehr markante Meinung, die weit hinausgeht über das, was man normalerweise unter dem Ausdruck »Tierrechte« versteht. Daher ist es wichtig, daß wir klarstellen, was wir mit unverletzlichen Rechten meinen und warum wir glauben, daß Tiere solche Rechte besitzen.

In der Umgangssprache wird jeder, der sich für Einschränkungen der Nutzung von Tieren einsetzt, als Verfechter von Tierrechten (TR) bezeichnet. Tritt etwa jemand dafür ein, daß Schweine, die als Schlachtvieh gehalten werden, größere Ställe erhalten sollten, um auf diese Weise die Qualität ihres kurzen Lebens zu steigern, wird er als Vertreter von Tierrechten beschrieben. Tatsächlich darf man wohl sagen, eine solche Person sei der Ansicht, Tiere hätten ein »Recht auf humane Behandlung«. Wer eine anspruchsvollere Meinung über Rechte verteidigt, könnte geltend machen: Menschen sollten gar keine Tiere essen, da wir über zahlreiche nahrhafte Alternativen verfügen; andererseits seien medizinische Tierversuche erlaubt, sofern dies die einzige Möglichkeit ist, entscheidend wichtige medizinische Erkenntnisse zu erlangen; oder man dürfe den Bestand an nichtdomestizierten Tieren reduzieren, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, extrem wichtige Habitate zu retten. Hier kann man sagen: Nach der Überzeugung des Betreffenden haben Tiere ein »Recht darauf, nicht von Menschen getötet zu werden, es sei denn, es steht ein wichtiges menschliches oder ökologisches Interesse auf dem Spiel«.

Einerlei, ob hier eine schwächere oder eine stärkere Auffassung der Rechte bejaht wird – solche Ansichten sind grundverschieden von der Vorstellung, Tiere besäßen unverletzliche Rechte. Der Begriff der unverletzlichen Rechte impliziert, daß die grundlegendsten Interessen eines Individuums nicht dem höheren Wohl anderer Personen geopfert werden dürfen. Um einen berühmten Ausdruck von Ronald Dworkin zu verwenden: Unverletzliche Rechte sind, so aufgefaßt, »Trümpfe«, die nicht gestochen werden können – egal, wie sehr eine Verletzung dieser Rechte anderen Personen nützen würde (Dworkin 1984). So kann man beispielsweise eine Person nicht töten, um ihre Körperteile auszuschlachten, selbst wenn ihre Organe, ihr Knochenmark und ihre Stammzellen Dutzenden von anderen Menschen nützen würden. Ohne Zustimmung dieser Person darf man sie auch keinen medizinischen Experimenten unterwerfen, wobei es keine Rolle spielt, wie sehr das durch solche Experimente gewonnene Wissen anderen helfen würde. In diesem Sinn unverletzliche Rechte sind ein Schutzkreis, den man um ein Individuum zieht und der gewährleistet, daß dieses Individuum nicht dem Wohl anderer geopfert wird. Diesen Schutzkreis deutet man normalerweise durch Bezugnahme auf eine Menge negativer Grundrechte gegen schwerwiegende Schäden wie: Tötung, Versklavung, Folterung oder Einkerkerung.

Die Vorstellung, Menschen besäßen solche unverletzlichen Rechte, ist umstritten. Die Utilitaristen etwa meinen, es sei moralisch geboten, das größte Wohl der größten Zahl herbeizuführen, selbst wenn das bedeute, daß man deshalb jemanden opfern muß. Wenn wir fünf Personen retten können, indem wir eine Person töten, dann sollten wir unter gleichbleibenden Randbedingungen die eine Person umbringen. Der bedeutende Utilitarist Jeremy Bentham hat es an einer bekannten Stelle einmal so formuliert: die Idee, es gebe unverletzliche Rechte, sei »Unsinn auf Stelzen« (Bentham 2002). Da die Utilitaristen nicht glauben, den Menschen stünden unverletzliche Rechte zu, liegt es auf der Hand, daß sie den Tieren ebenfalls keine derartigen Rechte zubilligen.

Heutzutage jedoch wird der Gedanke, Menschen besäßen unverletzliche Rechte, weitgehend akzeptiert, obschon es nach wie vor philosophische Diskussionen über die Fundierung der Menschenrechte gibt. Unverletzlichkeit ist die Grundlage unserer medizinischen Ethik, der innerstaatlichen Gesetze und der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung. Die Vorstellung, alle Menschen hätten Anspruch auf den Schutz bestimmter unverletzlicher Rechte gehört mit zu der juristischen »Revolution« durch Menschenrechte und der in der politischen Philosophie vollzogenen Akzentverschiebung hin zu Theorien mit Rechtsbasis. Eines der zentralen Motive von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit – die im allgemeinen als Sendbotin einer erneuerten politischen Philosophie gewertet wird – ist die Überzeugung des Autors, daß der Utilitarismus außerstande ist, die Verfehltheit der Aufopferung einzelner zum Wohle der anderen zu erklären, einerlei, ob es sich um Experimente an Einzelpersonen zur Erlangung nützlicher medizinischer Kenntnisse handelt oder um die Diskriminierung rassischer oder sexueller Minderheiten zur Befriedigung von Mehrheitspräferenzen (Rawls 1971). Eine adäquate Verteidigung der liberalen Demokratie verlangt nach Rawls’ Auffassung eine stärker »kantianische« Vorstellung von der Achtung des Individuums. Dabei sollte betont werden, daß wir nie bloß als Mittel zum Wohl der Gesellschaft behandelt werden dürfen.

Während die Idee der Unverletzlichkeit im Hinblick auf Menschen heutzutage weitgehend akzeptiert wird, sind nur sehr wenige Autoren dazu bereit, auch Tieren unverletzliche Rechte zuzugestehen. Selbst wer es akzeptiert, daß Tiere moralisch gesehen eine Rolle spielen und eine humanere Behandlung verdienen, ist in vielen Fällen der Meinung: Wenn es hart auf hart kommt, dürfen Tiere um des höheren Wohls der anderen willen verletzt und immerfort aufgeopfert werden. Während es als inakzeptabel gilt, einen Menschen umzubringen, um seine Organe auszuschlachten und damit fünf andere Menschen zu retten, ist es erlaubt, einen Pavian zu töten, um fünf Menschen (oder fünf Paviane) zu retten, und eventuell sei dieses Handeln sogar moralisch geboten. Um mit Jeff Mc- Mahan zu reden: Tiere sind »zum Nutzen des höheren Wohls uneingeschränkt verletzbar«, während menschliche Personen »zur Gänze unverletzbar« seien (McMahan 2002: 265). Robert Nozick hat diese Auffassung bekanntlich in dem Schlagwort zusammengefaßt: »Utilitarismus für Tiere, Kantianismus für Personen« (Nozick 1974: 39).

Der Ansatz, den wir im vorliegenden Buch vorstellen, verwirft diese These, wonach nur dem Menschen unverletzliche Rechte zukommen. Die Revolution durch Menschenrechte ist zwar eine moralische Errungenschaft ersten Ranges, aber sie ist noch nicht abgeschlossen. Wie wir sehen werden, hört die Reichweite der Argumente pro Unverletzlichkeit nicht auf, sobald man die Grenze der Spezies Mensch erreicht. Paola Cavalieri formuliert es so: Es ist an der Zeit, die Menschenrechte nicht bloß auf Menschen zu beschränken (Cavalieri 2001). Genauso, wie es falsch ist, einen Menschen wegen seiner Organe zu töten – auch wenn man auf diese Weise fünf Personen retten kann –, so ist es auch falsch, einen Pavian wegen seiner Organe umzubringen. Die Tötung eines Backenhörnchens oder eines Hais ist, genauso wie im Fall der Tötung eines Menschen, eine Verletzung des unverletzlichen Grundrechts auf Leben. Der Anspruch auf unverletzliche Rechte für Tiere ist schon von mehreren TR-Theoretikern geschickt verteidigt worden, und wir unsererseits haben den Argumenten dieser Autoren nur wenig hinzuzufügen. Wer diese Auffassung ohnehin für richtig hält, kann das vorliegende Kapitel überspringen und gleich zu dem originelleren Teil unserer Argumentation übergehen, in dem es um die gruppendifferenzierten und relationalen Rechte geht, die wir verschiedenen
Gruppen von Tieren gewähren müssen.

Die meisten Leser dürften allerdings nicht dieser Überzeugung anhängen; viele werden sie sogar für äußerst unplausibel halten. Wenn dem so ist, werden die Argumente, die wir auf den folgenden Seiten dieses Buchs ausbreiten, hoffentlich dennoch von Interesse sein. Selbst wenn man »Utilitarismus für Tiere, Kantianismus
für Personen« gutheißt – ja auch dann, wenn man den Utilitarismus für Tiere wie für Menschen angemessen findet oder eine völlig andere Theorie vertritt –, sprechen nach unserer Überzeugung zwingende Gründe dafür, sich eine stärker politisch und relational geprägte Theorie der Tierrechte zu eigen zu machen. Viele unserer Argumente dafür, den domestizierten Tieren die Staatsbürgerschaft, nichtdomestizierten Tieren Souveränität und im Schwellenbereich lebenden Tieren den Einwohnerstatus zu gewähren, sind keineswegs davon abhängig, daß man den Gedanken der unverletzlichen Rechte für Tiere bejaht.

Unsere eigene Ausarbeitung dieser Argumente wird jedoch in einem starken TR-Rahmen – einschließlich Festlegung auf Unverletzlichkeit – erfolgen. Das berührt die Art und Weise, in der wir diese Argumente ausbuchstabieren, sowie die Schlußfolgerungen, die wir aus ihnen ziehen. Im vorliegenden Kapitel machen wir daher den Versuch, diesen Ausgangspunkt zu verteidigen und auf einige der Einwände und Befürchtungen einzugehen, die unsere Auffassung wahrscheinlich auslösen wird. Wie kommt es, daß so viele Menschen die Vorstellung von unverletzlichen Tierrechten unplausibel finden? Manche meinen, es sei einfach evident, daß der Tod eines Menschen tragischer ist und einen größeren Verlust für die Welt bedeutet als der Tod eines Pavians; daher müsse die Tötung eines Menschen ein schlimmeres Vergehen sein als die Tötung eines Pavians. Wir hoffen, daß unsere Erörterung im vorliegenden Kapitel dazu beitragen wird, den Lesern ein lebhafteres Gefühl für den Verlust zu vermitteln, den der Tod von Tieren mit sich bringt, sowie für die Komplexität solcher Urteile über relativen Verlust. Auf jeden Fall hat diese ganze Argumentationsweise etwas Verfehltes. Es ist ja möglich und geschieht tatsächlich, daß ähnliche Urteile über relativen Verlust ausgesprochen werden, wenn es sich um den Tod unterschiedlicher Menschen handelt. So kann es vorkommen, daß man glaubt, der Unfalltod einer jungen Person sei eine größere Tragödie als der Tod eines sehr alten Menschen; oder der Tod einer Person, die das Leben liebt, sei tragischer als der Tod eines Menschenfeinds. Doch aus diesen Urteilen über relativen Verlust ergeben sich gar keine Konsequenzen hinsichtlich des unverletzlichen Rechts auf Leben. Auch wenn es der Fall sein sollte, daß der Tod einer jungen Person tragischer ist, so heißt das nicht, daß man einen alten Menschen umbringen darf, um Organe für den jungen Menschen zu bekommen. Wir dürfen Menschenfeinde nicht töten, um ihre Organe auszuschlachten und für Personen zu verwenden, die das Leben lieben.

Ja, gerade das ist das Wesentliche an unverletzlichen Rechten und das Merkmal, das sie vom Utilitarismus unterscheidet. Aus einem streng utilitaristischen Blickwinkel gesehen, hängt der Grad des Rechts auf Leben davon ab, wieviel die Betreffenden zum allgemeinen Wohl beitragen. Wir alle seien »im Dienst des höheren Wohls uneingeschränkt verletzbar«, und somit müsse man sich sein Recht auf Leben verdienen, indem man zeigt, daß die fortwährende Existenz dem Gesamtwohl dient. Wer jung, begabt und gesellig ist, müsse daher ein größeres Recht auf Leben haben als jemand, der alt, krank oder unglücklich ist. Der Grad des Rechts auf Leben variiere je nach dem relativen Verlust, der aus dem Tod des Betreffenden resultiert.

Die Revolution durch Menschenrechte läuft im Grunde auf eine Ablehnung dieser Denkweise hinaus. Das Prinzip der Unverletzlichkeit besagt, das Recht auf Leben sei unabhängig vom relativen Beitrag zum Gesamtwohl, und es dürfe nicht zum Vorteil des Gesamtwohls verletzt werden. Was Menschen betrifft, hat sich diese Auffassung durchgesetzt, und wir für unseren Teil behaupten, sie müsse auch auf Tiere ausgedehnt werden. Der Tod bestimmter Individuen mag – innerhalb der eigenen Spezies oder im Verhältnis zwischen mehreren Spezies – eine größere Tragödie oder ein schlimmerer Verlust sein als der Tod anderer Individuen, aber sie alle besitzen unverletzliche Rechte: Jedes von ihnen hat das gleiche Recht, nicht dem höheren Wohl anderer geopfert zu werden.

Durch die Behauptung, Tiere hätten das gleiche Recht, nicht dem höheren Wohl anderer geopfert zu werden, kommt eine neue Reihe von Befürchtungen und Einwänden ins Spiel. Folgt daraus, daß Tiere die »gleichen Rechte« haben wie Menschen – was ja auch das Stimmrecht, das Recht auf Religionsfreiheit oder höhere Bildung einschlösse ? Diese Frage wird häufig gestellt, um damit die Vorstellung von Tierrechten ad absurdum zu führen, aber darin liegt wieder ein Mißverständnis der Logik der Rechte-Revolution. Auch innerhalb der Kategorie der Menschen werden viele Rechte auf der Basis von Fähigkeiten und wechselseitigen Verhältnissen differentiell zugebilligt. Staatsbürger haben Rechte, die Besuchern nicht zukommen (beispielsweise das Stimmrecht oder das Recht auf Inanspruchnahme bestimmter sozialer Dienste). Erwachsene haben Rechte, die Kindern nicht zukommen (zum Beispiel das Recht, Auto zu fahren). Menschen mit bestimmten Verstandeskräften haben Rechte, die denen mit erheblichem intellektuellem Defizit nicht zukommen (beispielsweise das Recht, über die eigenen Finanzen zu entscheiden). Aber auch in diesen Fällen ist es so, daß solche Unterschiede im Hinblick auf die grundlegende Unverletzlichkeit keine Konsequenzen nach sich ziehen. Staatsbürger haben zwar Rechte, die den ausländischen Touristen nicht zukommen, aber deshalb ist es den Bürgern des betreffenden Staats noch längst nicht gestattet, Touristen zu versklaven oder sie umzubringen, um ihre Organe auszuschlachten. Erwachsene haben Rechte, die den Kindern abgehen, und geistig gesunde Erwachsene haben Rechte, die Menschen mit erheblichem intellektuellem Defizit nicht zukommen, aber trotzdem dürfen Kinder und Menschen mit geistigem Defizit nicht dem übergeordneten Wohl der geistig gesunden Erwachsenen geopfert werden. Gleiche Unverletzlichkeit ist durchaus vereinbar mit Verschiedenheiten in einem großen Bereich sonstiger staatsbürgerlicher, politischer und gesellschaftlicher Rechte, die ihrerseits Verschiedenheiten der einschlägigen Fähigkeiten, Interessen und wechselseitigen Verhältnisse Rechnung tragen. Im Fall des Menschen ist es auch hier so, daß das alles auf der Hand liegt; und wir behaupten, daß es im Fall der Tiere genauso zutrifft.

Kurz, die Problematik der unverletzlichen Rechte muß uns klar vor Augen stehen und darf nicht mit diversen sonstigen Fragen verquickt werden, die unsere Verpflichtungen gegenüber Menschen und Tieren betreffen. Um es zu wiederholen: Bei der Frage der Unverletzlichkeit geht es darum, ob es der Fall ist oder nicht, daß Grundinteressen dem übergeordneten Wohl anderer geopfert werden dürfen. Die Revolution durch Menschenrechte besagt, daß diese Unverletzlichkeit den Menschen tatsächlich zukomme. Der starken TR-Position zufolge besitzen empfindungsfähige Tiere ebenfalls diese Unverletzlichkeit. Manche Leser werden vielleicht befürchten, die erweiternde Übertragung des Begriffs der Unverletzlichkeit auf Tiere »entwerte« womöglich die hart erkämpften Errungenschaften der Rechte-Revolution. Wir hingegen machen geltend: Jeder Versuch, die Unverletzlichkeit auf Menschen einzuschränken, sei nur durchführbar, indem man das Gesamtsystem des Menschenrechtsschutzes extrem schwächt und destabilisiert, wodurch nicht nur Tiere, sondern auch viele Menschen aus dem Bereich wirksamer Schutzmaßnahmen ausgeschlossen würden.

Daß wir uns in diesem Kapitel auf die Frage der unverletzlichen Rechte konzentrieren, sollte nicht als Herabstufung der übrigen staatsbürgerlichen, politischen und gesellschaftlichen Rechte aufgefaßt werden, bei denen es etwa um Fragen der Pflichten zur medizinischen Versorgung domestizierter Tiere oder um unsere Pflichten zum Schutz des Habitats wild oder im Schwellenbereich lebender Tiere geht. Ganz im Gegenteil geht es uns bei diesem ganzen Projekt gerade um den Nachweis, daß solche allgemeineren Fragen nur angegangen werden können, indem man sie in den Rahmen einer explizit politischen Theorie der Tierrechte einbettet. Es bereitet uns Sorge, daß die Theorie der Tierrechte zwar schlagkräftige Argumente für das Prinzip der unverletzlichen Rechte vorgelegt hat, aber nicht über die nötigen begrifflichen Ressourcen verfügt, um auf diese allgemeineren Fragen einzugehen, die eine stärker relational geprägte Theorie der Gerechtigkeit voraussetzen. Doch ehe wir unsere Theorie der relationalen Gerechtigkeit aufstellen, müssen wir zunächst erklären, warum wir es für richtig halten, daß Tiere nicht zum Vorteil anderer uneingeschränkt verletzt werden dürfen, sondern in den Anwendungsbereich einer starken, auf Rechte abhebenden Theorie fallen.

Wie bereits festgestellt, sind die Argumente, die wir im vorliegenden Kapitel erörtern werden, nicht neu. Nach unserer Meinung sind die überzeugenden Gründe für eine (starke) TR-Position schon von anderen Autoren genannt worden. In unserem Buch geht es uns in erster Linie um den nächsten Schritt, der dazu dienen soll, die TTR mit umfassenderen politischen Theorien der Gerechtigkeit und der Staatsbürgerschaft zu verbinden, so daß wir potentielle Modelle der Beziehungen zwischen Tier und Mensch deutlicher in den Blick bekommen können.

Um nun den in Teil II dargelegten, originelleren Argumenten eine Basis zu geben, werden wir hier einen kurzen Überblick über die Debatte zum Thema »moralischer Status/Personenhaftigkeit der Tiere« geben, um zu erklären, warum wir die starke TR-Position für die überzeugendste Theorie halten. Im 1. Abschnitt werden wir mit einer Argumentation bezüglich Selbsthaftigkeit der Tiere beginnen und dabei die Frage aufwerfen, warum dazu die Anerkennung universeller Grundrechte erforderlich ist.5 In den Abschnitten 2 und 3 untersuchen wir die Frage, wieso Pflanzen und unbelebter Natur keine Selbsthaftigkeit zukommt, was allerdings weder bedeutet, daß wir ihnen gegenüber keine Pflichten haben, noch daß es ihnen an innerem Wert fehlt. In den Abschnitten 4 und 5 gehen wir auf mögliche Mehrdeutigkeiten bzw. Einwände ein, die die Vorstellung von der Universalität und Unverletzlichkeit der Grundrechte betreffen.

Unsere Leser werden diese Argumente hoffentlich überzeugend finden. Dabei unterschätzen wir allerdings keineswegs die Schwierigkeit des Versuchs, andere durch Argumente dazu zu bewegen, das Tier als verletzliches Selbst anzuerkennen, dessen Leben in jedem einzelnen Fall ebenso kostbar ist wie unser eigenes. Bei manchen Menschen ist der Weg zu dieser Einsicht ein intellektueller Vorgang, doch viele andere gelangen (wenn überhaupt) durch ihre Beziehungen zu bestimmten Tieren dorthin. Das ist einer der Gründe, weshalb wir darauf bedacht sind, die Diskussion über die Frage der Grundrechte und der moralischen Geltung hinaus zu erweitern, um auch unsere faktischen Beziehungen zu Tieren in all ihrer Komplexität und Fülle in Betracht zu ziehen. Den Leser möchten wir auch dann, wenn er unsere Ausgangsprämisse der Selbsthaftigkeit der Tiere und der Ausdehnung der Menschenrechte zurückweist, bitten, durchzuhalten und uns auf die Reise durch Teil II des Buchs zu begleiten. Es ist eine Übung zur Erweiterung der moralischen Vorstellungskraft, wenn man die Tiere nicht bloß als verletzliche und leidende Individuen sieht, sondern auch als Nachbarn, Freunde, Mitbürger und Angehörige unserer wie ihrer Gemeinschaften. Dabei wird eine Welt der Beziehungen zwischen Mensch und Tier ausgemalt, in der die Vorstellung ernst genommen wird, daß Tiere und Menschen auf der Basis von Gerechtigkeit und Gleichheit zusammen existieren, interagieren und sogar kooperieren können. Diese sei’s auch grobe Skizze einer eher positiven Vision der Beziehungen zwischen Mensch und Tier ist hoffentlich dazu angetan, auch jene Leser zu beeindrucken, die sich durch die üblichen TR-Argumente bezüglich der Fähigkeiten und des Leidens von Tieren oder der philosophischen Grundlagen ihrer moralischen Geltung bisher noch nicht haben überzeugen lassen.

Quelle: Sue Donaldson/Will Kymlicka: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte. Suhrkamp, 2013 Berlin. 608 Seiten, 36 Euro.