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Buch der Woche

Was Perikles und Obama eint

Die Geschichte der Rhetorik geht immer nur von Anleitungen für gute Reden aus, nie von tatsächlich gehaltenen Reden. Das ändert Karl-Heinz Göttert, indem er Redner und Reden in überraschenden Paarungen nebeneinanderstellt. Unser Buch der Woche steht auch auf der Nominierungsliste für den Preis der Leipziger Buchmesse vom 12. bis zum 15. März 2015.

04.03.2015

Perikles und Richard von Weizsäcker

Perikles’ Gefallenenrede

Perikles also soll nach Cicero der erste große und nun auch schon komplette Redner europäischer Tradition gewesen sein – nicht mehr abhängig vom Tipp eines Gottes wie Priamos. Leider kennen wir seine Reden nicht und schon gar nicht aus erster, aus der eigenen Hand. Noch hat kein Politiker seine Reden aufgeschrieben, noch gab es keine Stenographen. Wir sind angewiesen auf das Zeugnis des Thukydides, der sich nicht nur allgemein (positiv) über Perikles’ Redekunst geäußert, sondern auch eine Rede in leider nicht kontrollierbarer Weise im Wortlaut wiedergegeben hat: die berühmte Gefallenenrede. Es spricht einiges dagegen, dass wir Perikles so lesen, wie er wirklich sprach. Thukydides hat zwar Authentizität zum Maßstab seiner Berichte gemacht und, wie er selbst betont, sich von Anfang an Notizen über die Ereignisse und wohl auch Reden angefertigt, die er in großer Zahl seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges einfügte.

Aber diese Reden dienten der Charakterisierung der Redner, schufen gewissermaßen Idealbilder, bei denen der Wortlaut dann doch nicht die entscheidende Rolle spielte. Immerhin könnte Thukydides die Gefallenenrede selbst gehört haben. Die Seuche von 430 hat er so genau beschrieben, dass heutige Mediziner von Augenzeugenschaft ausgehen. Die Gefallenenrede lag damals nur ein halbes Jahr zurück. Trotzdem: Im Folgenden bedeutet »Perikles« immer nur der Perikles des Thukydides. Immerhin wissen wir sehr genau über die Rahmenbedingungen Bescheid. Es geht um den ersten Winter im Pelopo nesischen Krieg. Die Waffen ruhten, man ehrte die Toten. In Athen wurde dazu ein Redner bestellt, wie bei allem anderen auch durch Wahl. Diese Wahl fiel auf Perikles, ein klares Zeugnis der Anerkennung seiner Verdienste. Das Ereignis vollzog sich bei den Gräbern etwas außerhalb des Stadtgebietes, unter großer Anteilnahme. Thukydides erwähnt ausdrücklich eine eigens errichtete Rednerbühne, »um möglichst weithin von der Menge gehört zu werden«. Perikles sprach dabei vor denen, vor denen er auch sonst sprach. Und er wusste um die vorhandene Tradition, zitiert sie sogar. Man habe bei dieser Gelegenheit immer zuerst denjenigen gerühmt, der die Tradition begründete, beginnt er. Aber das wolle er anders handhaben. Das Argument ist höchst eigenartig: Es gehe um Männer, die etwas »getan« hätten.

Ihnen sei dafür Ehre zu erweisen, und zwar am besten ebenfalls durch ein Tun – und nicht durch Reden. Denn dabei bestehe die Gefahr, dass ein »minder guter« Redner alles nur verderbe. Ein Hörer, der im Krieg mitgekämpft hatte, könnte zum Beispiel das Lob für unzureichend halten, einer, der nicht dabei war, für übertrieben. Es gehe also um das rechte Maß, um die große Schwierigkeit, dieses Maß zu treffen, weil eine Untugend jedes Wort zu missdeuten drohe: Neid. Er bemühe sich entsprechend um die unterschiedlichen Erwartungen, die zu erfüllen seien. Eigentlich, so muss man als damaliger wie heutiger Leser folgern, ist eine angemessene Rede in dieser Situation unmöglich. Aber Perikles sagt: Er wolle es trotzdem versuchen. Eine kostbare Stelle, dieser Redebeginn. Perikles macht sich als allererstes Gedanken um sein Publikum, spricht über die Möglichkeit und Unmöglichkeit, vor ihm zu reden. Ein Mann, der maßgeblich das politische Schicksal seiner Stadt auf Reden gestellt hat, räumt ein, dass Reden schnell scheitern können, weil die Zuhörer zu Unterschiedliches wünschen bzw. erwarten.

Rhetorisch ist dieser Einsatz dabei eher einfach: Es geht um eine Captatio benevolentiae, um die Erregung von Wohlwollen, wie es die Lehrbücher später für den Redebeginn in zahlreichen Varianten ausarbeiteten. Man solle dem Zuhörer zeigen, wie demütig man ihm gegenüber auftrete. Das öffne sein Herz. Mag sein, dass Perikles gewissermaßen im Vorgriff auf die künftige Rhetorik so verfuhr, mag sein, dass es auch schon entsprechende Empfehlungen gab. Aber etwas anderes ist ja viel interessanter. Rhetorische Trickserei hin oder her, wir hören aus dem Mund eines Demokraten etwas über die Probleme des Redens in der Demokratie. Man stützt sich auf Reden und weiß, dass Reden schwierig sind. Man stützt sich auf Rationalität und weiß, dass diese Rationalität an Affekten wie Neid rasch zerschellen kann.

Perikles redet trotz der Schwierigkeiten, setzt auf die Wirkung des Zugeständnisses. Es redet jemand, der etwas vom Reden versteht – die Offenheit verstört nicht, sondern weckt Zutrauen. Einem solchen Redner kann man getrost zuhören. Christian Meier hat in seiner Beurteilung von Perikles den Gedanken geäußert, dass das demokratisch gewordene Athen »führende Persönlichkeiten« suchte, ihnen folgte. Die Demokratie habe solche »führenden Persönlichkeiten« hervorgebracht, die Überzeugungskraft mit Ansehen gepaart hätten. Die Mehrheit brauchte Autorität, an der man sich orientieren konnte, und Macht erlangte, wer sich »sehr genau auf den Bahnen hielt, auf denen sich der Wille der Mehrheit bewegte«. Weiter: Erfolg hatte, »wer das aufnehmen, zu formulieren und je neu im Einzelnen zu bestimmen wusste, ja mehr noch: wer dazu passte«. Das ist nicht mit Blick auf die Gefallenenrede gesagt, könnte aber an ihr abgelesen sein.

Perikles weiß, dass nichts ohne die Erwartungen des Publikums geht. Es ist nicht rational, so zu verfahren, wie man selbst denkt. Rational ist, an das Denken derer anzuschließen, die man überzeugen will. So gesehen ist es wie bei Homer. Wir hätten also wirklich einen Pakt hinsichtlich der Rationalität, einen Sonderweg auch in dieser spezielleren Hinsicht, beim Reden. Man hat sich auf Gleichheit eingelassen und die Entscheidung ins Reden verlegt, in überzeugendes Reden. Aber man wusste auch, was dies bedeutete. Der Redner musste an den Horizont des Publikums anschließen. Der Redner musste wissen und berücksichtigen, was »alle« dachten. Er musste sogar wissen und berücksichtigen, was sie fälschlicherweise (im Affekt) dachten. Interessant, dass dieses Kolleg über die Probleme des Redens zur Captatio benevolentiae werden konnte.

Die Rede selbst, ungefähr fünf Druckseiten, entfaltet dann das Lob der Demokratie, die für alle ersichtlich eine durchaus schwere Nebenwirkung hat, ja zum Tod einiger führt, die sich für sie einsetzen. Die Aufgabe des Redners ist sehr klar, liegt in der Verteidigung trotz dieser Nebenwirkung. Perikles spricht von der »Lebensform«, durch die »wir so groß wurden«, und malt sie in den Einzelheiten aus, die die Zuhörer kannten und einmal mehr als überlegen anerkennen sollten. Es ist dieses Leben in Freiheit, ohne Druck, auch ohne Nachteile, wenn man nicht zu den Reichen, Privilegierten gehörte. Jeder lässt jeden so gelten, wie er ist, jeder kann handeln, wie und soweit er will. Und immer gibt es einen Ausgleich für all die Anstrengungen: Wettspiele und Opfer. Dabei profitiert man von einer frühen Form von Globalisierung: Güter aus aller Welt fließen in die Stadt. Man weiß heute, was das bedeutete: zum Beispiel frische Weintrauben mitten im Winter (aus Afrika). Weiter verweist Perikles auf die Offenheit dieser Stadt, dass sie Fremde auch im Krieg nicht ausweise, dass sich jeder den Reichtum ansehen könne. Weiter auf das Unangestrengte des Tuns, auf den Verzicht auf ewiges Sichplagen in Vorwegnahme einer vermeintlich schwierigen Zukunft (wie in Sparta). Weiter auf die Liebe zur Schönheit, zum Geist. Und dann ist Perikles auch wieder beim Reden. Hier in Athen werde alles von jedem Einzelnen selbst entschieden, nach entsprechendem »Durchdenken«: Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.

Denn auch darin sind wir wohl besonders, dass wir am meisten wagen und doch auch, was wir anpacken wollen, erwägen, indes die andern Unverstand verwegen und Vernunft bedenklich macht. Man kann sagen, dass Perikles an dieser Stelle mehr als an jeder anderen idealisiert. Man kann sogar sagen, dass er sich gründlich täuschte, denn Athen sollte sich ja mit seinem Konzept bald übernehmen und abstürzen. Aber hier interessiert etwas anderes. Perikles sorgt nicht nur für (seine) Autorität, indem er an die Gedanken des Publikums anschließt. Er formuliert sein Anliegen auch auf eine Weise, die Achtung abnötigt. Der gerade zitierte Gedanke enthält ein intellektuelles Spiel, eine hübsche Antithese: Es geht um Wort und Tun, um Reden und Handeln, um eine richtige und eine verkehrte Reihenfolge. Richtig ist: zuerst erwägen, dann wagen. Falsches gibt es sogar in zweierlei Varianten: als Handeln aufgrund von Unverstand und Nichthandeln aufgrund von Nachdenken. Natürlich machen es nur die Athener, die Demokraten, richtig. Solche Formen sprachlicher Kunst verwendet Perikles ständig. Ständig spricht er Gegensätze an, um seine Gedanken zu präzisieren. Die »meisten«, die eine Gefallenenrede gehalten haben, haben es so und so gemacht, »er selbst« wolle es anders machen. Der »wohlwollende« Hörer könnte das und das denken, der »unkundige« jenes.

»Wir« zeigen jedem unsere Stadt, die »anderen« verstecken sie, »wir« erziehen unsere Kinder frei, die »anderen« quälen sie. Ein ganzes Feuerwerk von Antithesen zeigt schließlich den Unterschied von Athen und dem Konkurrenten Sparta, dem man die Toten verdankt: Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff. Reichtum dient bei uns dem Augenblick der Tat, nicht der Großsprecherei, und seine Armut einzugestehen ist nie verächtlich, verächtlicher, sie nicht tätig zu überwinden. Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsre Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selbst oder denken sie doch richtig durch. So geht es lange weiter – die schon zu Beginn zitierte Stelle schließt unmittelbar hier an.

Perikles selbst fasst das Gesagte zusammen als »Beweise«, die er für sein Lob der Stadt und der für diese Stadt Gefallenen vorgetragen hat. Natürlich sind das keine Beweise im logischen Sinne, es sind die Beweise, die den Zuhörern aus dem Herzen sprechen. Daneben sind es sprachlich wohlformulierte Beweise. Auch in diesem Punkt hören wir eine wichtige Antithese, die wieder einmal die Probleme der Redekunst auf den Punkt bringt: Es handle sich bei seinem Reden nicht um »Prunk mit Worten für den Augenblick..., sondern (um) die Wahrheit der Dinge«. Perikles weiß, dass er kunstvoll redet, gründet seine Autorität darauf – und sagt, dass sich dahinter kein bloßes Kalkül verbirgt. So häuft er weiter seine Antithesen an, bietet auch gezielte Wortwiederholungen, anaphorische Wendungen wie die folgende: Von ihnen [den Gefallenen] aber hat keiner wegen seines Reichtums, um ihn lieber noch länger zu genießen, sich feig benommen; keiner hat in der Hoffnung der Armut, er könne, wenn gerettet, vielleicht noch reich werden, Aufschub der Gefahr gesucht... Perikles stützt seine Autorität auf vieles, aber er stützt sie auch auf sprachliche Kunst.

In dieser Hinsicht ist er der erste wirklich komplette europäische Redner, auch wenn sich diese Kunst noch erheblich entwickeln, sich eine stilistische Meisterschaft ausbilden sollte, die die argumentativen Aspekte noch viel stärker ergänzte bzw. mitformte. Man kann davon ausgehen, dass das athenische Publikum, von den Sophisten und der Tragödie geprägt, eine Kennerschaft ausgebildet hatte, der man nicht mehr mit sprachlichem Fast Food kommen konnte. Perikles redete diesem Publikum nicht unbedingt nach dem Mund, aber nach seinem Geschmack. Die Regeln für Macht und Unterwerfung waren jedenfalls ausgebildet. Zweieinhalb Jahrtausende später sind Grundzüge dieses Redens immer noch zu erkennen. Es geht wieder um ein Gedenken, und zwar um ein eher noch schwierigeres. Und es geht wieder um Zweifel, wie man es dem Publikum sagen könnte. Schließlich gehört zur Lösung die Tatsache, dass der Redner seine Gedanken in einer argumentativ sowie sprachlich gehobenen Form präsentiert. Und auch diesmal gelingt es.

Der Redner gewinnt Macht, das Publikum akzeptiert sie, weil es mit dieser Form von Macht einverstanden ist. Gemeint ist die Gedenkrede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bonner Bundeshaus hielt. Von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes In der Geschichte der Bundesrepublik hat es bislang kaum eine Rede zu größerer Berühmtheit gebracht. Dabei war sie unter schwierigen Umständen zustande gekommen. Der gemeinsame Besuch von Bundeskanzler Kohl und dem amerikanischen Präsidenten Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof zum gleichen Gedenken wenige Tage zuvor missriet als Versöhnungsgeste, weil sich unter den Gräbern Angehörige der Waffen- SS fanden. Aus Kreisen der Heimatvertriebenen hatte es im Vorfeld des Jahrestages revanchistische Töne gegeben. In dieser Situation wandten sich führende Politiker an den Bundespräsidenten mit der Bitte um klärende Worte. Einige Abgeordnete der CDU / CSU und der Grünen blieben de monstra tiv fern.

Aber die Rede gelang und erzielte einmalige Resonanz. Zwei Millionen Exemplare wurden anschließend verteilt. Viele Zeitungen druckten sie ab, die New York Times mit vollem Wortlaut. Es gab Übersetzungen in 13 Sprachen, darunter eine japanische Ausgabe. In einer Dokumentation haben Ulrich Gill und Winfried Steffani alle wichtigen angesprochenen Gruppen um eine Stellungnahme gebeten und (mit Ausnahme des DDR -Vertreters) erhalten – mit meist zustimmendem bis überschwänglichem Kommentar (»Sternstunde unserer Republik«, »Glücksfall deutscher Nachkriegsgeschichte«). Aber die Beiträge zeigen auch etwas, was hier besonders interessiert: Sie belegen den Zusammenhang von Wirkung und Formulierung, ja zeigen die Wirkung in nicht unwesentlichen Zügen als Folge der Formulierung. Man kann als zentralen Satz der Rede die Aussage ansehen: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. « Diese Aussage war keineswegs neu. Im Gegenteil, sie stellte die offizielle Deutung in der DDR dar, womit sich eine gewisse Besetzung verband, die jedoch schon vorher in der Bundesrepublik durchbrochen worden war. Am 27. Februar 1985 hatte Bundeskanzler Kohl im Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland über die Befreiung »vom Schrecken des Krieges und von tausend Verstrickungen« gesprochen, »die der totalitäre NS -Staat geschaffen hatte« – und dann: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. « Alfred Grosser hat in seiner Stellungnahme zur Rede betont, dass sich Kohl im KZ Bergen- Belsen im April 1985 eher noch deutlicher zu »Scham« und »Verantwortung« geäußert und schon Bundespräsident Scheel am 6. Mai 1975 formuliert hatte: »Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit«, wobei er ebenfalls wie von Weizsäcker den Beginn der »deutschen Tragödie« auf 1933 und nicht 1945 datierte. Was also ist so zentral an diesem zentralen Satz? Die Antwort lautet: Von Weizsäcker stellt die »Definition« des 8. Mai insgesamt ins Zentrum seiner Rede, gliedert die Rede um immer neue Anläufe zu dieser Definition, von der der zitierte Satz nur einen ausmacht – darauf beruht ein Teil der Klarheit der Argumentation.

Zu Beginn spricht der Bundespräsident von »vielen Völkern«, die des Tages gedenken, um dann zu den Deutschen überzugehen: »Wir Deutsche begehen den Tag...«, »Wir müssen...«, »Wir brauchen...«, »Der 8. Mai ist für uns...«, »Der 8. Mai ist für uns Deutsche...«, »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. « Erst nach diesen verschiedenen Aspekten, zu denen es gehört, dass der Tag nicht zum »Feiern« (wie in der DDR ), sondern zum »Nachdenken« anregen müsse, fällt der zentrale Satz, übrigens in markanter Wiederholung des wichtigsten Wortes: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Aber die Rede geht ja weiter, variiert die zentrale Aussage weiter: »Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung«, heißt es zu Beginn des zweiten Abschnitts. »Der 8. Mai ist ein tiefer, historischer Einschnitt, nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte«, lautet der Beginn des vierten Abschnitts. Die Rede deutet den 8. Mai in seinen Facetten, das Neue liegt in der Ausbreitung dieses Panoramas des Gedenkens.

Das Wichtigste ist dabei die Verbindung von Rückblick und Zukunft. Der letzte Satz nach all den Facetten im ersten Abschnitt fasst dies in zwei deutlichen Antithesen zusammen: Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. Damit ist die Überleitung zur »Erinnerung« gegeben. Man kann davon ausgehen, dass dies das heikelste Stück der Rede war, sofern nun die Betroffenen sowohl vollständig wie jeweils angemessen angesprochen werden mussten. Nach einer rhetorisch kunstvollen Deutung der »Erinnerung« als Anverwandlung des Vergangenen »zu einem Teil des eigenen Innern« folgt eine litaneiähnliche Aufzählung: »Wir gedenken...«, wobei die »Toten des Krieges« insgesamt, die »sechs Millionen Juden« sowie die vielen anderen Opfer bis hin zu den Kommunisten erwähnt sind. Auch das »Gebirge menschlichen Leids« ist als eine solche Litanei ausgeformt. Besonders ausführlich behandelt von Weizsäcker die Frauen und vor allem den Holocaust.

Ein weiterer Großabschnitt ist der Kriegsschuld gewidmet, ein wiederum weiterer den Folgen des Zusammenbruchs mit dem sensiblen Thema der Vertreibung. Dann folgen die Schlussabschnitte: die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, mit den USA und Frankreich, ein Wort zur Teilung der einen deutschen Nation und schließlich ein kurzer Blick auf die so schwierig verlaufene Diskussion des Gedenkens ausgerechnet nach 40 Jahren. Von Weizsäcker sucht mit der Berufung auf die Rolle dieser Frist im Alten Testament (wo die Israeliten nach der Flucht aus Ägypten 40 Jahre in der Wüste verbringen, ehe sie das verheißene Land erreichen – nach Aussterben der »ägyptischen« Generation also) einen versöhnlichen Abschluss mit dem Hinweis auf »Klassisches«. Auch der Bundesrepublik, so soll man wohl folgern, stehen nun bessere Zeiten zu. Die neue Generation soll ihre eigene »Zukunft« gestalten, die unheilvolle Vergangenheit nur noch als »Warnung« vor Augen haben. Der Aufbau der Rede ist also klar und berücksichtigt die entscheidenden Aspekte des Themas.

Aber von Weizsäcker formuliert die einzelnen Gedanken bei allem Verzicht auf großes Pathos rhetorisch anspruchsvoll. Immer wieder zeigen sich kleine Wiederholungen und Wortspiele, vor allem viele Antithesen. »Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos«, heißt es, und sofort danach: »Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. « Etwas weiter zusammenfassend: »Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang«, »Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.« Oder etwas ausführlicher, wobei man sieht, wie rhetorisch Kunstvolles mit äußerster Einfachheit zusammengeht: Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart...

Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. Fischer Verlag, 2014. 24.99 Euro. Mehr zum Buch.