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Titelthema

Wie man Eis ißt

Titelthema - Wie man Eis ißt
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Auszug aus Umberto Eco: Platon im Striptease-Lokal

01.07.2020

Als ich klein war, kaufte man den Kindern zwei Arten von Eis, die es bei jenen weißen Wägelchen mit silberglänzenden Deckeln gab: entweder die Tüte zu zwanzig oder die Waffel zu vierzig Centesimi. Die Tüte zu zwanzig war sehr klein und paßte genau in eine Kinderhand, sie wurde erzeugt, indem man das Eis mit der halbkugelförmigen Eiszange aus dem Behälter holte und auf den eßbaren Waffelkegel stülpte. Die Großmutter riet, nur den oberen Teil dieses Kegels zu essen und die Spitze wegzuwerfen, da sie vom Eisverkäufer angefaßt worden war (aber der untere Teil war der beste und knusprigste, weshalb man ihn heimlich aß, nachdem man ihn nur zum Schein weggeworfen hatte).

Die Waffel zu vierzig wurde mit einer ebenfalls silber-glänzenden Spezialmaschine hergestellt, die zwei runde Waffelscheiben gegen einen flachen Eiszylinder preßte. Man fuhr mit der Zunge so lange zwischen die Scheiben, bis sie den in der Mitte verbliebenen Rest nicht mehr erreichte, dann aß man das Ganze mitsamt den Scheiben auf, die inzwischen weich und von Nektar durchtränkt waren. Hier hatte die Großmutter keine Ratschläge zu geben: theoretisch waren die Waffeln nur von der Maschine berührt worden, praktisch hatte der Eisverkäufer sie zwar angefaßt, um sie zu überreichen, aber es war unmöglich, die infizierte Zone zu bestimmen.

Ich war jedoch fasziniert von einigen Altersgenossen, die sich von ihren Eltern nicht ein Eis zu vierzig, sondern zwei zu zwanzig kaufen ließen. Die solcherart Privilegierten kamen dann stolz mit einem Eis in der Rechten und einem in der Linken daherspaziert und leckten, behände den Kopf drehend, mal von dem einen und mal von dem andern. Diese Liturgie erschien mir so beneidenswert luxuriös, daß ich viele Male darum bat, sie ebenfalls zelebrieren zu dürfen. Vergeblich. Meine Eltern waren unerbittlich: ein Eis zu vierzig ja, aber zwei zu zwanzig auf keinen Fall.

Zwei Eiskugeln suggerierten einen Exzess

Wie jeder sieht, konnten weder die Mathematik noch die Ökonomie, noch auch die Ernährungslehre diese Verweigerung rechtfertigen. Und nicht einmal die Hygiene, wenn man voraussetzte, dass anschließend beide Kegelspitzen weggeworfen wurden. Eine klägliche Rechtfertigung argumentierte wahrheitswidrig, daß ein kleiner Junge, der damit beschäftigt sei, den Blick abwechselnd von einem Eis zum anderen zu wenden, leichter über Steine, Stufen oder Unebenheiten stolpern könne. Dunkel schwante mir, daß es einen anderen Grund geben musste, einen brutal pädagogischen, den ich aber nicht zu finden vermochte.

Heute, als Angehöriger und Opfer einer Zivilisation des Konsums und der Verschwendung (was die der Dreißigerjahre nicht war), begreife ich, daß meine Eltern recht hatten. Zwei Eis zu zwanzig statt einem zu vierzig waren ökonomisch gesehen keine Verschwendung, aber sie waren es im symbolischen Sinne. Eben darum begehrte ich sie: weil zwei Eiskugeln einen Exzess suggerierten. Und eben darum wurden sie mir verweigert: weil sie unanständig wirkten, wie Hohn auf das Elend, Prunken mit falschen Privilegien, prahlerisch ausgestellter Wohlstand. Nur verzogene Kinder aßen zwei Eiskugeln, jene, die in den Märchen zu Recht bestraft werden, wie Pinocchio, als er die Birnenschale und den Griebs verschmäht. Und Eltern, die solche Unarten kleiner Parvenüs auch noch förderten, erzogen ihre Kinder zu dem dummen Theater des „Ich würde ja gern, aber ich kann nicht“ oder, wie wir heute sagen würden, bereiteten sie darauf vor, beim Check-in in der Touristenklasse mit einem falschen Gucci-Koffer zu erscheinen, den sie bei einem ambulanten Händler am Strand von Rimini gekauft haben.

Regentschaft des Konsums

Die Fabel droht keine Moral zu haben in einer Welt, in der die Zivilisation des Konsums inzwischen auch ihnen immer noch etwas mehr verspricht, von der kleinen Uhr an der Waschpulvertonne bis zum Anhänger als Geschenk für den Käufer der Illustrierten. Wie die Eltern jener beidhändigen Genießer, die ich so sehr beneidete, scheint die Zivilisation des Konsums uns mehr zu geben, aber faktisch gibt sie uns für vier Zehner (im besten Falle) das, was vier Zehner wert sind. Wir werfen das alte Radio weg, um das neue zu kaufen, das einen Kassettenteil mit Autoreverse hat, aber einige unerklärliche Schwächen in seinem Innern sorgen dafür, daß dieses neue Radio nur ein Jahr hält. Der neue Kombiwagen hat Ledersitze, zwei von innen einstellbare Seitenspiegel und ein Armaturenbrett aus Holz, aber er ist viel empfindlicher als der gute alte Cinquecento, der sich, auch wenn er liegen blieb, mit einem Fußtritt wieder in Gang bringen ließ. Doch die Moral von damals wollte uns eben alle spartanisch haben, und die von heute will uns alle als Sybariten. (1989)

Umberto Eco aus: Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber (Originalfassung) © 1990 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München