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Historie

Der Untergang der Pamir

Historie - Der Untergang der Pamir
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Das Schicksal des Segelschulschiffs ist ein unbewältigter Cold Case der Schifffahrts- und Rechtsgeschichte.

Kai Lucks17.09.2024

Der Untergang der Pamir war 1957 die schwerste deutsche Schiffskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie kostete 80 Seeleute das Leben. Der Untergang wurde vor dem Lübecker Seeamt verhandelt. Bereits an der Führung des Prozesses entzündete sich harsche Kritik. Kap-Hoorn-erfahrene Windjammer-Kapitäne wurden nicht angehört und beklagten sich in öffentlichen Stellungnahmen und Briefen über das Urteil. Die Hauptpunkte der Kritiker waren:

  • Das Gericht unterstellte ein Szenario über den Ablauf der Katastrophe, das im Wesentlichen auf einem Stabilitätsgutachten eines Professors beruhte.
  • Dieses Szenario wurde als "das Wahrscheinlichste" bezeichnet. Aus Gründen der Verhandlungsökonomie durften andere Szenarien nicht behandelt werden.
  • Als Hauptgründe für den Untergang wurden die Verschiebung der Gerste-Ladung und falsche Beseglung unmittelbar vor dem Untergang angeführt.
  • Die Stärke des Orkans sei beherrschbar gewesen. Schuld am Untergang hätten einerseits der Kapitän gehabt wegen fehlerhafter Schiffsführung und ebenso die Korrespondenzreederei wegen falscher Anweisungen zur Beladung.

Das Urteil wurde von der nächsthöheren Instanz bestätigt. Eine weitere Revision wurde nicht zugelassen.

Legenden und Unterstellungen prägen bis heute unser Bild von dieser Schiffskatastrophe. Denn unglücklicherweise gelangten korrigierende Fakten, wie sie etwa der Kapitän und Rechtsanwalt Horst Willner mit Akribie niedergelegt hatte, zu spät an die Öffentlichkeit. Stattdessen lieferte der Autor Johannes K. Soyener mit seinem Roman "Sturmlegende"  eine verfälschende Darstellung über die Pamir, den Kapitän Diebitsch und die Eigentümer des Schiffes. In seinem von Polemiken überladenem Buch schreibt er unter anderem, das Schiff sei "… ein Seelenverkäufer gewesen, verrostet, verschuldet und fahrlässig geführt, … die Pamir hätte nie mehr aufs See gehört", sondern abgewrackt.

Er erwähnt mit keinem Wort, dass die Pamir wenige Jahre zuvor, als sie von einem norwegischen Reeder zurückgekauft worden war, mit einem enormen Aufwand repariert, neu aus- und umgerüstet und dabei technisch auf den neuesten Stand gebracht worden war. Das frachtfahrende "Segelschulschiff Pamir" war ein nationales Prestigeprojekt von solcherBedeutung, dass sich der Bundespräsident persönlich dafür einsetzte. Dazu wurde ein ganzes Berater-Gremium berufen, bestehend aus den bedeutendsten Hochseekapitänen, erfahrensten Schiffbauern und herausragenden Fachleuten. Gemeinsam schrieben sie das Lastenheft für die Umbauten und die neue Ausrüstung. Das gemeinsame Ziel war, ein beispielgebendes Segelschulschiff auf die Weltmeere zu schicken.

Die Aufgabe, der sich der Autor mit dem Schreiben des hier beschriebenen Pamir-Buches unterzog, bestand darin, die Berichterstattung von Legenden zu befreien und ein rein faktenbasiertes Bild zur Pamir und der Kadettenausbildung zu liefern. Unsachliche Äußerungen und irregeleitete Urteile schlagen sich sogar in Pressebeiträgen der letzten Jahre nieder. Insofern verfolgt das Buch nicht nur die Korrektur des juristischen Urteils, sondern auch eine von Soyeners Wirken befreite neutrale Berichterstattung. 67 Jahre nach dem Untergang war es also an der Zeit, diesen Fall nochmals grundlegend zu durchleuchten und ein rein faktenbasiertes Bild herauszuarbeiten.

Im Unterschied zu der schmalen Sichtweise des Lübecker Seeamtes wurde der Pamir-Fall dazu in einer großen Verfahrensbreite durchleuchtet, unterstützt von einschlägigen Experten, vor allem durch die Forschungsabteilung der Hamburger Schiffsbau Versuchsanstalt (HSVA).

Viele der untersuchten Aspekte sind erst durch den technischen Fortschritt und unter Nutzung heutiger Methoden und Erkenntnisse verfügbar. Betrachtet wurden unter anderem der Schiffsbau, insbesondere Verbindungstechniken (Schweißen versus Nieten), Verfahrenstechnik, Materialkunde, Aquadynamik, Wind- und Tragflächenphysik, Segel- und Navigationskunde, Erfahrungs- und Kompetenzmanagement, Unfallstatistiken, Katastrophenmodelle, Verhaltensanalytik, Führungsmodelle zur See, Regulatorik und Seerecht.

So entstand ein neues Bild zu diesem Cold Case, mit den zentralen Ergebnissen:

  • Aus der Vermutung heraus, dass die Pamir den Hurrikans entkommen konnte, sollte das Schiff mit höchster Geschwindigkeit aus dessen Gefahrenbereich herausgefahren werden. Das war eine gangbare Lösung. Aber sie misslang.
  • Die gewählte reduzierte Sturmbesegelung war diesem Zweck angemessen.
  • Die Windstärke betrug aber nicht die vom Gericht angenommenen 100 Knoten (185 km/h). Werte aus Langfrist-Wetterdaten und vergleichbaren Hurrikanen erlauben einen sicheren Schluss, dass die Windgeschwindigkeit bei über 150 Knoten gelegen haben dürfte (270 km/h). Nach übereinstimmendem Urteil der Kap-Hoorn-Kapitäne hätte die Pamir keine Chance gehabt, solche Windstärken zu überstehen. Nach heutiger Kenntnis können Windböen in Hurrikanen sogar Geschwindigkeiten von bis zu 400 km/h erreichen. Die kann ein Rahsegler wegen begrenzter Reagibilität gar nicht kompensieren.
  • Der Wellengang überrollte das Schiff bis über die unteren Rahnocken hinaus.
  • Die Schläge der Kaventsmänner waren so stark, dass der Schiffsrumpf Risse bekam, infolge derer das Schiff Wasser nahm und unterging.
  • Die Elastizität des genieteten Rumpfes war nämlich durch spätere Schweißarbeiten herabgesetzt, sodass sich zerstörende Kräfte punktuell auswirken konnten.

Somit sind Kapitän und Korrespondenzreeder moralisch zu rehabilitieren. Nach damaligem Recht wurde kein privatrechtliches Verfahren eingeleitet – heute ist das anders. Weder der Kapitän wurde verklagt ("gegen Tote klagt man nicht"), noch die Reeder, denn sie hatten sich an die Vorschriften zur Beladung gehalten.

Darüber hinaus erlaubt erst der große Zeitabstand eine grundlegende historische Wertung und Einordnung des Untergangs der Pamir.

Das Jahr des Pamir-Untergangs, 1957, markiert das Ende einer Epoche. Denn die Reedereien beschlossen, keine großen Segelfrachter mehr einzusetzen und die Kadettenausbildung der Handelsmarine gänzlich auf Motorschiffe zu verlagern. Wenige Wochen nach der Pamir-Katastrophe war das Schwesterschiff "Passat" gerade noch einem vergleichbaren Schicksal entronnen. 1958 sank die "Omega" vor der Küste Perus. Sie war der letzte noch verbliebene Frachtsegler der Welt, 71 Jahre alt: der Methusalem unter den großen Frachtseglern.

Maschinen auf Schiffen ersetzten fortan die Windkraft. Erst in jüngster Zeit sind wieder ernstzunehmende Piloteinsätze zur Unterstützung von Motoren durch Segel oder Kites zur Energieeinsparung zu beobachten.

Das Jahr des Pamir-Untergangs markiert auch den Aufstieg einer neuen Epoche, nämlich das Zeitalter der Digitalisierung. Denn die Siemens-Medizintechnik brachte 1957 mit einem Ultraschallgerät das erste voll digitale Bilddiagnostiksystem auf den Weltmarkt.

Somit war der Pamir-Untergang das Fanal eines Endes und das medizinische Ultraschallgerät das Fanal zum Anfang einer neuen Epoche.

Kern des vorliegenden Bandes ist die Geschichte der Pamir. Diese wird in einen Rahmen gestellt, der die Entwicklung der großen Rahsegler seit ihrer Entstehung und mit dem Fokus auf das 19. Jahrhundert bis zum Ende der großen Segelfrachter behandelt. Die mit dem Pamir-Untergang verbundene Zeitenwende wird im Kontext der weiterführenden gesellschaftsübergreifenden Transformationen und des industriellen Wandels der Neuzeit beleuchtet. Denn die Digitalisierung, die Automatisierung, künstliche Intelligenz und die allumfassende Vernetzung prägen auch die Schifffahrt und unseren Umgang mit den Weltmeeren.



"Der Untergang der Pamir – Fanal einer Zeitenwende"
Multimedia Industrieverlag 2024, 214 Seiten, 26 Euro

Zum Autor
Kai Lucks (RC Gauting-Würmtal) ist bekannt für seine zahlreichen Fachbeiträge auf den Gebieten von Wirtschaft, Management und Technik (siehe www.kai-lucks.de). Er hat grundlegende Werke vorgelegt, etwa mit dem "Praxis-Handbuch Industrie 4.0" und dem Buch "Der Wettlauf um die Digitalisierung" (beide bei Schaeffer-Poeschel).

 

Kai Lucks

Prof. Dr.-Ing. Kai Lucks, RC Gauting-Würmtal, ist Gründer und Vorsitzender des Bundesverbandes Mergers & Acquisitions e. V. Er war 35 Jahre bei Siemens und seinen Joint Ventures im Medizin- und Energiebereich tätig und war später in der Zentrale für die Kooperationen des Konzerns, für die konzernweiten Strategieprojekte, M&A-Strategien und -Integrationen verantwortlich.

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