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Der Wettlauf um die Digitalisierung

Forum - Der Wettlauf um die Digitalisierung
Demonstration von Stärke und Fortschritt: Am 5300 Meter hohen Basislager des Mount Everest (Nepal) hat China die 5G-Technik installiert. © Xinhua/Action Press

Deutschland droht zwischen den USA und China zerrieben zu werden. Um dies zu verhindern, braucht es nicht nur viel Geld, sondern einen tiefgreifenden Kulturwandel.

Kai Lucks01.07.2020

Deutschland war einmal ganz vorn. Bei uns entstand das World Wide Web. An der Bundeswehr-Universität München wurden in den 80er Jahren die ersten selbst fahrenden Autos entwickelt und das Deep-Learning-Verfahren LSTM, ein künstliches neuronales Netz, wurde in den 1990ern an der TU München erfunden.

Die Umsetzung in marktgängige Produkte fand aber nicht bei uns statt. Angestoßen durch Entwicklungen im Dunstkreis der Stanford-Universität und um die Möglichkeiten, die das Internet eröffnete, bildete sich im Silicon Valley ein Industriecluster heraus, das mittlerweile die Welt dominiert. Im Zentrum stehen heute die sogenannten „Big Five“, namentlich: Microsoft, Apple, Amazon, Google (Alphabet) und Facebook.

Deutschland, das schon zahlreiche Industrien verloren hatte und noch verlieren sollte, partizipierte an dieser Entwicklung kaum. Noch werden unsere Forschungseinrichtungen, etwa das Fraunhofer-Institut, als wegweisende Quelle für Neuentwicklungen geschätzt und gezielt von Amerikanern wie Chinesen eingesetzt. Aber die Umsetzung am Markt, die sogenannte „Kapitalisierung“ des Wissens, findet anderswo statt.

Vergleichende Gewichtung

Bewertet man das strategisch entscheidende Industriesegment, nämlich die Internet-, Smart-Data- und Smart-Devices-getriebenen (also integral vernetzten) Geschäfte und stellt man dann die Branchengewichte einander gegenüber, dann kommt man auf ein Verhältnis zwischen den USA, China und Deutschland von aktuell etwa 16 zu 4 zu 1, mit weiter abnehmender Tendenz für Deutschland. Nur im Industriegeschäft kann Deutschland noch an der Spitze der großen netz-orientierten Konzerne mitmischen, vor allem mit den Stimmen von SAP und Siemens mit seiner Position als Weltmarktführer bei der Fabrikautomatisierung.

Fantasielos und abgeschlagen

Ansonsten sind wir weit abgeschlagen, bei Start-ups bringen wir im Vergleich mit den USA etwa noch ein Zehntel der technologieorientierten Neugründungen auf die Waage. Wer bei uns erfolgreich ist, geht in die USA oder wird von Amerikanern aufgekauft und dorthin verlagert. Unser großer Schatz, die rund 3,6 Millionen Mittelständler, unter ihnen etwa 1000 Weltmarktführer, zeigt aber starke Defizite: Die Zusammenarbeit mit Start-ups funktioniert selten, mit künstlicher Intelligenz (KI) können die meisten nichts anfangen, Versuche mit wirklich neuen datengetriebenen Geschäften und Geschäftsmodellen sind eher die Ausnahme. Während US-Amerikaner und Chinesen mit vielfältigen Versuchen glänzen, wie etwa Amazon und Google, die sich führende Positionen sogar in der KI und dem autonomen Fahren erarbeitet haben, verharren deutsche Internet-Player in ihren angestammten Segmenten. Ausprobieren ist nicht unsere Stärke.

Ehrgeiz in den USA und China

Dabei haben Amerikaner und Chinesen nicht nur im Branchengewicht die Nase vorn: Auch ihre Programme sind außerordentlich ehrgeizig. Präsident Xi Jinping will China zum Weltmarktführer im Bereich der KI treiben und hat dazu ein Entwicklungsprogramm von 300 Milliarden Dollar verkündet. Die Amerikaner setzen vorwiegend auf die einschlägige Industrie, allen voran die bereits genannten „Big Five“. Diese allein können vergleichbare Mittel aufbringen, wie Xi es für sein Land fordert.

Die EU glaubt, mit einem Gesamtprogramm von 20 Milliarden Euro für KI-Entwicklung gegenüber den USA und China aufholen zu können, davon drei Milliarden in Deutschland. Da liegt die Frage auf der Hand, ob wir dem vorgenannten Rückstand von Faktor vier im Branchengewicht gegenüber China und einem FuE-Investment von einem Hundertstel gegenüber den Amerikanern und Asiaten wirklich bestehen können, selbst unter der Annahme, dass die KI-Definitionen weit auseinanderliegen können und dass die Mittel bei uns viel „smarter“ eingesetzt würden. Schaffen wir die Aufholjagd, da die Bundesregierung mit den bereitgestellten Geldern rund 100 junge Professuren in mehr oder weniger etablierten Instituten finanzieren will? Wie arbeiten die denn zusammen? Oder vermehren wir nur wieder die klassische Profilierung des Einzelnen? Ist das wirklich „disruptiv“? Oder werden eher bestehende Strukturen verfestigt?

Digitale Treiber und Antagonisten

Das reale Wachstum der allumfassenden Digitalisierung wird durch zwei Faktoren bestimmt: Erstens durch die steigenden Ansprüche der Nutzer aus Industrie, Gesellschaft und Verwaltung, und zweitens durch das technologische Potenzial und die dadurch erschließbaren Errungenschaften, mit denen die Nutzerwünsche erfüllt werden können. Dagegen wirken Antagonisten, insbesondere die Datensicherheit (Cyber Security) und das Beharrungsvermögen durch gewohnte Verhaltensweisen und bestehende Strukturen. So lassen sich, technologisch gesehen, viele Routinetätigkeiten in allen Sektoren voll automatisieren. Konservierende Kräfte begrenzen jedoch die Umsetzung in vielen bekannten Fällen auf wenige Prozent. Regulatorik spielt dabei eine entscheidende Rolle. Sie verzögert und verbaut neue Lösungsansätze. Deutschland liegt dadurch im OECD-Vergleich in seiner digitalen Wettbewerbsfähigkeit auf den hintersten Plätzen.

Infrastruktur als Schlüssel

Auch bei der Infrastruktur liegt Deutschland laut OECD ganz hinten, wie aktuelle Studien unter anderem vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung belegen. Während wir 5G gerade anschieben, verfügen bereits vier Milliarden Menschen weltweit über 5G-Anschlüsse. Für Leistungsanwendungen, vor allem für das autonome Fahren, brauchen wir das 5G-Hochleistungsnetz. Zu den weiteren Anwendungsfeldern, die auf sogenannte Realzeit-Datenübertragungen angewiesen sind, gehören die Steuerung industrieller Anlagen und Netzmanagements von Infrastrukturen. Die meisten Anwendungen im Konsumsektor, in Wirtschaft und Verwaltung können durch zuverlässige und lückenlose 4G-(LTE-)Installationen abgedeckt werden. Aber selbst hier hapert es: von Flächendeckung kann kaum die Rede sein.

Neue Weichenstellungen gefordert

Jetzt muss Deutschland erneut die Weichen stellen, die entscheidend sind, ob wir Rückstände aufholen können, ob wir fähig sind, Widerstände und verkrustete Strukturen aufzubrechen, ob wir uns im globalen Wettlauf gegenüber den führenden Nationen USA und China stabile Positionen erkämpfen können und damit unseren Wohlstand sichern. Wenn wir das nicht schaffen, dann ist Deutschlands Rolle in der Welt gefährdet.

Deutschland muss dazu einen belastbaren Plan für die Entwicklung unserer „Industriegesellschaft 5.0“ entwickeln, in der wir uns jetzt bereits befinden.

Dazu bestehen folgende Handlungsfelder und -hebel:

  • Grundlagen sichern und bedarfsbestimmte digitale Infrastruktur bereitstellen: LTE flächendeckend, 5G für Realzeit-Anwendungen
  • Zielorientierte Allianzen mit Amerikanern und Chinesen, für reine Gegenhaltestrategien und Konfrontationen sind wir zu schwach
  • Wertschöpfung nach Deutschland zurückholen: unproduktive Tätigkeiten abbauen und Produktivkräfte stärken, Digitalisierung als Hebel
  • Unternehmensgründungsprogramme: bürokratische Hürden abbauen
  • Hightech-Offensive: möglichst Überspringen von Technik-Generationen durch starke Innovationen
  • Die neue KI spezifisch fördern: auf Entwicklung neuronaler Netze setzen
  • Auf Umsetzung ausrichten: KI-Anwendungsentwicklung in Start-ups und im Mittelstand forcieren
  • Expertenlücken schließen: uns fehlen 100.000 IT-Spezialisten, Deutschland muss ein mit den USA konkurrenzfähiger Standort werden
  • Ausbildungsstrukturen: duale Konzepte unter Einbezug von IT fördern, das Ansehen gewerblicher Ausbildungen in der Gesellschaft stärken
  • Smart Government entwickeln: dadurch flexibler, schneller, bürgernäher werden
  • Die Besten der Welt zum Maßstab nehmen: Benchmarking für Industrie und Verwaltung zur Regel machen, Innenvergleiche waren immer tödlich
  • Den europäischen Verbund aufbauen: leider derzeit äußerst schwach
  • Datenschutz und Datensicherheit: immer Vorsprung halten; KI kann fördern, aber auch als Waffe gegen die Gesellschaft genutzt werden

Ein Kulturwandel muss her

Gemeinsam sollten wir auf Projekte mit Leuchtturmwirkung setzen, klotzen statt kleckern. Vereinzelung zieht nicht. Der Gewaltakt, der vor uns liegt, fordert den Kräfteverbund aus Industrie, Gesellschaft und Verwaltung.

Ein Kulturwandel muss her: Geschäftsinteressen sind mutig in den Vordergrund zu stellen. Schließlich wird Deutschland sich in der neuen digital getriebenen Weltgemeinschaft neu behaupten müssen. Unseren Sozialstaat können wir nur durch die Gelder finanzieren, die die Industriegesellschaft 5.0 bei uns erwirtschaftet.

Wir dürfen uns nicht auf die Entwicklung von Grundlagen beschränken, mit denen Amerikaner und Chinesen ihre Geschäfte entwickeln. Ein neues digital getriebenes Unternehmertum ist angesagt, basierend auf neuen Technologien und neuen Geschäftsmodellen. Wir müssen die noch bestehenden Brüche in unserer Gesellschaft überwinden, Bedenkenträger durch Fakten überzeugen. Der weit verbreiteten Technologiefeindlichkeit ist entgegenzuwirken: Die Freude an grundsätzlich neuen Ideen, am Forschen, am Entwickeln und am Umsetzen in unserer Gesellschaft sind neu zu verankern. Das betrifft nicht nur die Industrie, sondern auch die Weiterentwicklung von Ausbildung und Verwaltung.


Buchtipp



Kai Lucks,

Der Wettlauf um die Digitalisierung

Schäffer-Poeschel, 670 Seiten, 89,95 Euro

schaeffer-poeschel.de

Kai Lucks

Prof. Dr.-Ing. Kai Lucks, RC Gauting-Würmtal, ist Gründer und Vorsitzender des Bundesverbandes Mergers & Acquisitions e. V. Er war 35 Jahre bei Siemens und seinen Joint Ventures im Medizin- und Energiebereich tätig und war später in der Zentrale für die Kooperationen des Konzerns, für die konzernweiten Strategieprojekte, M&A-Strategien und -Integrationen verantwortlich.

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