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Austausch

Ein Jahr in Uruguay

Seit acht Monaten ist Julia Weber in Uruguay. Sie engagiert sich dort in einem freiwilligen sozialen Jahr an einer Schule in Montevideo, der Hauptstadt des kleinen südamerikanischen Landes. Der Rotary Club Baden-Baden-Merkur unterstützt sie dabei finanziell. Ein kleiner Erfahrungsbericht.

23.05.2014

Höchstwahrscheinlich beginnen alle Berichte mit den gleichen Worten: „Es sind nun schon sechs Monate vergangen, ich bin an der Hälfte meines Auslandsaufenthaltes angelangt. Unglaublich, wie schnell die Zeit verflogen ist, schließlich kommt es mir vor, als wäre ich erst vor Kurzem aus dem Flugzeug gestiegen.“ Die Information dürfte also altbekannt sein und dennoch will auch ich mich dieser Formulierung anschließen.

 
Das Schöne ist jedoch, dass trotz dieses Gefühls bei rückblickender Betrachtung des hier Erlebten eine ganze Menge an Eindrücken und Geschehnissen zusammenkommt. Um nur die wichtigsten Ereignisse zu benennen, führe ich den Abschlussausflug mit den Jugendlichen meines Projektes nach Colonia del Sacramento (UNESCO Weltkulturerbe), das Zeltlager mit den Kindern des Club de Niños, das ganz anders erlebte Weihnachten und Silvester, die Jahresabschlussaufführung meiner Tanzschule im Dezember, meinen dreiwöchigen Urlaub in Brasilien, meinen Kurzurlaub in Punta del Diablo (einem wunderschönen Fischerdorf an der Atlantikküste), das Zwischenseminar in Argentinien, den Kurztrip mit vier weiteren Freiwilligen nach Punta del Este und den Start des neuen Schuljahres im hiesigen Sommer an.
 
ZELTLAGER
Das Zeltlager verbrachten die rund 55 Kinder und wir Betreuer in Conchillas, einem Badeort im Bezirk Colonia. Wir genossen bei gutem Wetter den Strand, spielten große Gruppenspiele, tanzten verkleidet zu Cumbia, aßen kulinarische Köstlichkeiten, die von einem Team aus freiwilligen Helfern zubereitet wurden, entspannten beim Angeln und entzündeten ein großes Lagerfeuer, das von einer Geschichte begleitet wurde.

Das Schöne für mich ist, dass sich durch die intensive Erfahrung ein besonderes Verhältnis zu den Kindern entwickeln konnte. Einerseits begegnen wir uns mit noch mehr Vertrauen, andererseits nehmen die Kinder aber auch die Autoritätsperson in mir stärker wahr und messen meinem Wort mehr Bedeutung bei, als sie dies noch vor dem Zeltlager getan haben. So ein Ereignis schweißt dann eben doch sehr zusammen, weshalb ich enorm viel aus den drei Tagen mitnehmen konnte.
 
ZWISCHENSEMINAR IN BARADERO – 27. JANUAR BIS 02. FEBRUAR
Das Zwischenseminar bestritt ich mit weiteren 40 Freiwilligen aus Argentinien, Uruguay und Paraguay Ende Januar in Baradero, einer Kleinstadt unweit von Buenos Aires. Es tat mir in vielerlei Hinsicht sehr gut. Nicht nur, dass ich mich mit anderen Freiwilligen austauschen konnte (und das auf der Muttersprache, wie angenehm!) und die Zeit mit viel Spaß verbrachte, es fand bei mir auch ein Umdenken, beziehungsweise Rückbesinnen auf ursprüngliche Ziele statt, die ich in den vergangenen Monaten außer Augen verloren habe. Veranlasst wurde dies durch die unterschiedlichen Programmpunkte, die zum Nachdenken, Reflektieren und Hinterfragen anregten und somit einerseits ein Resümee über die letzten sechs Monate zogen und andererseits neue Anregungen für die neue Etappe vermittelten. Auch konnte ich viel Energie und neue Motivation für die zweite Hälfte meines Aufenthaltes mitnehmen, weshalb ich das Zwischenseminar als sehr wertvoll für das Jahr ansehe.
 
UNTERSCHIEDE
Unter diesem Titel könnte man ein ganzes Buch unterbringen, schließlich geben mir sechs Monate Uruguay ausreichend Einblick, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen deutscher und uruguayischer Kultur festzustellen. Es fängt bereits bei Kleinigkeiten an, wie zum Beispiel, dass das Frühstück so gar keine Bedeutung im Alltag eines Uruguayos spielt und dafür das Abendessen zu (sehr) später Stunde umso größer ausfällt.

Vielmehr ermöglichte mir ein Gespräch mit einer uruguayischen Studentin, die in Leipzig ihr Auslandssemester machte, einen neuen Blick auf die uruguayische Kultur, da sie mir ihre Sichtweise über Deutschland mitteilte.Der größte Unterschied für sie sei gewesen, dass in Deutschland einfach alles laufe. Es sei alles organisiert, es würde nichts schief laufen, was bedeutet, dass ein Nachdenken über Alternativen unnötig sei. Besonders bildhaft sei ihr das in einer Vorlesung aufgefallen, in welcher der Professor auf einen Alternativvorschlag eines argentinischen Studenten völlig perplex reagiert habe und erwiderte, dass er noch nie über eine Alternative nachgedacht habe.

Diese Beobachtung der Studentin gliedert sich recht gut in all das ein, was ich hier erlebe: Mein Bild über Lateinamerika, das ich hier bestätigt sehe, ist dasjenige der Menschen, die sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen und in keine Panik verfallen, wenn denn etwas nicht so laufen sollte. Sie sind es eher gewohnt, ständig mit Planänderungen und Alternativen konfrontiert zu sein, weshalb sie sich weniger schnell stressen lassen und die Sachen so annehmen, wie sie ihnen zufallen.

Ein Beispiel, um das Gesagte zu verdeutlichen: Kommt in Deutschland der Bus nicht nach Plan, werden bereits an der Haltestelle erste Beschwerden laut und eine gewisse Unruhe macht sich breit, da auf einmal das pünktliche Ankommen am Zielort gefährdet ist. Hier in Uruguay existieren zwar Fahrpläne, werden aber nie zu Rate gezogen, da sie sowieso nicht eingehalten werden. Es wundert sich auch niemand, wenn der Bus überhaupt nicht kommt und im nächsten Moment drei Busse der gleichen Linie hintereinander stehen. Es läuft eben nicht nach Plan.

Es lassen sich an dieser Stelle auch so viele Verbindungen zu anderen Phänomenen ziehen, schließlich bedingt das Alternativdenken in gewissem Grade die ganze Lebenseinstellung. Zuspätkommen gehört schon beinahe zum guten Ton und wird auch bei der Arbeit nicht bemängelt. Lange Warteschlangen an der Kasse, an der Bushaltestelle und an jeglichem Schalter prägen das Stadtbild, was bewirkt, dass die Leute geduldiger sind. Daraus resultiert das Bild des Lateinamerikaners, der das Leben genießt, der sich Zeit nimmt für die kleinen Dinge und seine Prioritäten nicht auf die Arbeit sondern auf Familie und Leben verlegt.

Auf der einen Seite sind das schöne, erstrebenswerte Eigenschaften, andererseits vermisse ich hier so häufig die deutsche Planung.

Ein weiteres Beispiel: Über Karneval hatten sowohl Argentinien als auch Uruguay ein verlängertes Wochenende, was beide Länder nutzten, um zu reisen und Besuche abzustatten. Mich haben ebenfalls Freiwillige aus Buenos Aires besucht, als sie dann jedoch zurückfahren wollten, stießen wir erst einmal auf eine immens lange Warteschlange. Nach drei Stunden Anstehen (an dieser Stelle sei angemerkt, dass von drei Schaltern gerade einmal einer besetzt war; in Anbetracht der Menge an reisefreudiger Menschen für mich eine nicht nachvollziehbare Tatsache) wurde uns dann nur mitgeteilt, dass sämtliche Fahrten sowohl mit Bus als auch mit Fähre bis zum Abend des nächsten Tages komplett ausgebucht seien. Verwunderlich ist, dass trotz des Wissens um das große Reisebedürfnis der Argentinier und Uruguayos die Kapazitäten kein bisschen aufgestockt wurden und es scheint, dass überhaupt keine Vorausplanung stattgefunden habe.

Die beschriebenen Beobachtungen beruhen auf subjektiver Erfahrung und sollen keinesfalls „das“ Bild über Uruguay liefern. Ich fand jedoch sehr interessant, wie die uruguayische Studentin Deutschland wahrnahm, weshalb ich mich im vorhergehenden Kapitel der Thematik gewidmet habe. Möglicherweise liege ich mit meinen Vermutungen auch völlig falsch und Schlüsse, die gezogen wurden, gehören der Kategorie der „unziehbaren“ Schlüsse an. Darüber darf sich aber jeder Leser seine eigenen Gedanken machen.
 
ARBEITSALLTAG
Um den Bereich des Womöglichen zu verlassen, hier einige Informationen, derer ich mir zu hundert Prozent sicher bin: Im März öffnete die Obra (Anm. d. Redaktion: Die Schule, an der Julia Weber sich engagiert) ihre Türen für das neue Schuljahr. In Casa Joven formierte sich eine komplett neue Gruppe von Jugendlichen, zum Club de Niños gesellten sich fünf neue Kinder hinzu und ein neuer Stundenplan mit neuen Werkstätten wurde erarbeitet.

Das Semester hält somit Herausforderungen für mich bereit: Viele neue Gesichter, eine ganz andere Gruppendynamik in Casa Joven (während die Hauptaufgabe bei der Gruppe der ersten Jugendlichen darin bestand, sie zu motivieren und das Konfliktpotenzial gering zu halten, liegt die Hauptaufgabe mit den neuen Jugendlichen darin, ihre Energie zu leiten und sie dazu zu bringen, sich mehr zu konzentrieren) und neue Aufgaben wie zum Beispiel das Leiten eines Englisch- und eines Tanzkurses.

Trotz der vorangeschrittenen Zeit erlebe ich hier immer noch neue Dinge und entwickle mich weiter. Die wohl wertvollste Erfahrung, zumindest in Hinblick auf meinen späteren Beruf der Gymnasiallehrerin, ist der Englischkurs, der mich viel lehrt. Für all diese Möglichkeiten und Erfahrungen bin ich enorm dankbar!

(Von Julia Weber)