https://rotary.de/panorama/erschliesst-man-sich-diese-stadt-erschliesst-man-sich-europa-a-635.html
Über die Einzigartigkeit Triests, seine bedeutende Literatur und seine nicht minder reichhaltige Küche

»?Erschließt man sich diese Stadt, erschließt man sich Europa?«

Mit seinen Romanen um den Kommissar Proteo Laurenti hat Veit Heinichen Triest zum Schauplatz großer und kleiner Geschichten gemacht. Ein Gespräch über die Liebe des Autors zu der Stadt zwischen Adria und Karst.

01.08.2011

Herr Heinichen, Sie sind in Villingen-Schwenningen, also mitten im Schwarzwald, geboren. Wie kommt von dort nach Triest?

Veit heinichen: Wenn man da groß wird, wo die Donau entspringt, steht man automatisch mit Europa in Verbindung. Die Region ist ein Gebiet der Grenzen, zu Frankreich und der Schweiz. Der kontinuierliche Austausch mit dem „Anderen“ hinter der Grenze dort war somit ganz normal. Triest wiederum verfügt über mehr Grenzen, Kontraste, Widersprüche, aber auch Brücken als jeder andere Ort. Hier begegnet die mediterrane Welt des Südens der Welt des Nordens am direktesten. Es ist auch der Ort, wo Meer und Berge als zwei philosophische Begriffe aufeinandertreffen. Zugleich wird die Stadt oft auch als „Tor zum Balkan“ bezeichnet. Über 90 Ethnien haben hier im Laufe der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Im Kalten Krieg war Triest Anfang und Ende des Eisernen Vorhangs und – wie Istanbul, Wien und Berlin – voller Spione und Geheimdienste. Im 20. Jahrhundert hat Triest gleich mehrfach die Flagge gewechselt. Mein Freund Boris Pahor, der große Triestiner Autor slowenischer Sprache, ist 1913 noch unter „k.u.k“ geboren. 1918 kam dann das italienische Königreich und bald darauf der Faschismus. Es folgte 1943 die deutsche Besatzung. Am 1. Mai 1945 zogen die Tito-Partisanen ein, die 40 Tage lang versuchten, Triest mit harter Faust in den Griff zu bekommen, jedoch bald wieder abziehen mussten aufgrund internationalen Drucks. Von 1947 bis 1954 gab es das UN-Protektorat „Free Territory of Triest“. Erst am 26. Oktober 1954 wurde die Stadt wieder italienisch. Am Schluss kommt noch der europäische Pass dazu. Wir haben es also mit einem hoch komplexen Gebilde zu tun, das alle Verallgemeinerungsklischees sofort widerlegt. Das ist das Einzigartige an diesem Ort.

 

Was fasziniert Sie persönlich an dieser Stadt?

Natürlich hat mich Triest auch als eine Hauptstadt der Weltliteratur angezogen. Literatur ist hier nie nur in einer Sprache entstanden. Casanova hat in Triest die letzten Jahre seines Exils verbracht und seine Memoiren in Französisch geschrieben, Stendhal war hier, und Jules Verne hinterließ den Roman „Mathias Sandorf“, der sich mit dem Beginn der europäischen Nationalbewegung befasst. Der junge Sigmund Freud schrieb in Triest seine erste wissenschaftliche Ausarbeitung. Der englische Diplomat Richard Francis Burton übertrug hier „1001 Nacht“ zum ersten Mal in eine europäische Sprache, nämlich ins Englische. Dann natürlich Umberto Saba und vor allem Italo Svevo. Thomas Mann ließ den Aschenbach im „Tod in Venedig“ von Triest abfahren. Ivo Andric hat als Konsul hier gearbeitet und auf Serbisch geschrieben. Und auch James Joyce lebte elf Jahre in Triest und hat hier den „Ulysses“ begonnen. Wenn man sich diese Stadt erschließt, erschließt man sich Europa.
 

Hat sich in der Vielfalt Triests ein typischer Menschenschlag herausgebildet?

Triestiner unterscheiden sich von anderen dadurch, dass keiner einen „ethnisch reinen“ Stammbaum hat. Man hebt sich hier ab von allem, was Drumherum ist. Wenn wir nach Westen fahren, geht es nach Italien, und nach Osten fuhr man früher nach „Jugo“ – das sagen die alten Leute heute noch. Man fährt immer weg in Gebiete, die eine andere Identität haben. Der Reichtum der Triestiner Identität ist, dass sie aus vielen verschiedenen Elementen besteht. Eine Besonderheit ist auch der Speiseplan. Wenn über 90 Ethnien eine Stadt aufgebaut haben, wo hinterlassen sie die Spuren? Im Dialekt und in den Kochtöpfen. Da finden wir ganz Europa drinnen.

 

Was unterscheidet Triest von der „großen Schwester“ Venedig?

Triest ist nicht nur deutlich größer als Venedig, sondern vor allem eine zeitgenössische Stadt und kein artifizielles Gebilde wie von vorgestern. Wir haben eine Universität, der Anteil der Studenten an der Bevölkerung beträgt etwa 12 Prozent. Es gibt viele Wissenschaftler, denn die Stadt hat bedeutende Forschungseinrichtungen wie das ICTP International Centre for Theoretical Physics, eine „Nobelpreisträger-Fabrik“ für Physiker aus der ganzen Welt. Generali als einer der größten europäischen Versicherungskonzerne zieht Leute aus der Finanzwirtschaft an. Außerdem ist Triest der bedeutendste Kaffee-Hafen im Mittelmeer-Raum, mit weltberühmten Röstereien und Kaffee-Marken wie „Illy“ und „Cremcaffe“.

 

Sie haben Ihre Wahlheimat auch zum Arbeitsort Ihres Kommissars Laurenti gemacht. Warum ein Kriminalroman zur Beschreibung einer Stadt?

Das ist kein neues Phänomen. Auch in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ haben Sie ein großartiges Bild der Petersburger Gesellschaft zu jener Zeit. Wie jeder Roman ist auch der Kriminalroman Spiegel einer Epoche und eines Raumes – und somit durchaus unserer Zeit angemessen, leider. Die Schattengesellschaft ist sehr aktiv und damit auch die Vermischung von Politik, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen, aber nicht nur in Italien. Organisierte Kriminalität ist ein Großbetrieb, der keinen Markt unbestellt lässt, und Triest ist als Grenz- und Hafenstadt hierbei ein wichtiger Durchgangsort.

 

Das heißt, die Stadt des Proteo Laurenti ist mehr eine Metapher für das Verbrechen allgemein und weniger ein Bild des realen Triests?

Meine Romane sind keine Triest-Bücher, auch wenn der Kompetenzbereich des Ermittlers hier ist. Die Arbeit des Kommissars Laurenti hat mit der gesamten Bandbreite des Verbrechens in Europa zu tun. Zum Beispiel erfolgte die leitende Ermittlung beim Handel mit menschlichen Organen in Europa durch die Triestiner Staatsanwaltschaft. Damit beschäftigt sich der Kommissar Laurenti von seinem Triestiner Sitz aus.

Es gibt natürlich auch Lokalkolorit: bestimmte Wege, die Laurenti geht; bestimmte Häuser, die er sieht; und bestimmte Gerichte, die er zu sich nimmt. Aber die gesamte Abhandlung hat immer eine gesamteuropäische Dimension.

 

Mit „Stadt der Winde“ haben Sie vor fünf Jahren einen sehr sinnlichen Reiseführer verfasst, der sich neben dem Flair der Stadt auch der einheimischen Küche widmet. Was ist denn ein typisches Triestiner Gericht?

Es gibt mehr als eines. Wir haben, abhängig von der Jahreszeit, sehr gute Fische aus dem Golf und aus dem nordadriatischen Raum. Sehr lange im Jahr gibt es den „pesce azzurro“, also den blauen Fisch; von der Sardelle, den Anchovis, angefangen bis zum Thunfisch, die Makrelen usw. Die Anchovis sind sehr delikat, im Vergleich zu Sardinen haben sie kaum Fett. Dann gibt es natürlich noch die Küche des Karsts. Der Karst ist das steinerne Hochplateau, der Gürtel, der um die Stadt herum liegt. Dort bekommt man auch Wild oder deftigere Fleischspeisen.

 

Und wo kann man all das probieren?

Das beste Restaurant ist das „Ristorante Scabar“. Das gehört meiner Co-Autorin, sie ist die renommierteste Küchenchefin im weiten Umfeld. In ihren Rezepten spiegeln sich all die kulinarischen Einflüsse aus dem Norden, aus dem slawischen und aus dem mediterranen Raum wider. Für Fleischliebhaber gibt es die sogenannten Buffets, das waren früher einmal Orte, zu denen man zu Zeiten, als noch schwere körperliche Arbeit im Hafen geleistet wurde, früh morgens ging und gekochtes Fleisch verzehrte. Doch vor allem sollte der Besucher unbedingt einen fangfrischen Fisch bekommen.


Was sollte man unbedingt sehen, wenn man Triest besucht?

Zuerst sollte man viel durch die Stadt gehen. Die historischen Kaffeehäuser etwa sind mit ihrer tollen Atmosphäre einen Besuch wert, und zwar nicht nur das Café Tomasseo und das San Marco. Es gibt um die zehn, fünfzehn Lokale, die sehr schön und ganz anders als in Wien sind. Dann muss man auf die Molen hinausgehen und die Stadt vom Meer her betrachten. Schön wäre ein Ausflug mit dem Schiff. Unverzichtbar ist eine Fahrt mit der Straßenbahn, und zwar die Tram von Opicina, die einen Höhenunterschied von 350 Metern hinter sich bringt. Dann gibt es die verschiedenen Kultorte. Jede Konfession konnte hier ihren eigenen Tempel eröffnen; ob das nun die Kathedrale von St. Gusto ist mit ihren Fresken aus dem 12. Jh. ist, oder die größte Synagoge Westeuropas oder die griechisch-orthodoxe und die serbisch-orthodoxe Kirche oder San Silvestro, eine kleine romanische Kirche aus dem Jahr 1060, die mich persönlich am meisten rührt.

 

Vielleicht noch ein Geheimtipp?

Eine Fahrt auf den Karst hinauf und dort der Besuch einer der „Besenwirtschaften“ – in Österreich „Buschenschank“. Dort genießt man den selbstgeschlachteten Schinken und den hausgemachten einfachen Wein vom Karst. Und wenn man über den Karst fährt, dann sollte man auch einen Sprung in das Schloss von Duino machen, in dem Rilke im Winter 1910/1911 die „Duineser Elegien“ begonnen hat. Dort gibt es den Rilke-Weg mit einem unglaublichen Ausblick über die Steilküste. Und ansonsten muss man einfach nur losgehen und mit den Leuten reden, alles verkosten und probieren – und sich so Triest erschließen. Das Gespräch führte René Nehring