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Porträt

„Das linke Bein war nicht betroffen“

Porträt - „Das linke Bein war nicht betroffen“
Polio-Zonenkoordinator Urs Herzog weiß, wovon er spricht, wenn es um das Thema Kinderlähmung geht. © André Springer

Mit Anbruch des neuen rotarischen Jahres löste Urs Herzog Hans Pfarr als Zonenkoordinator in Sachen Polio ab. Der Mediziner ist nun zuständig für die Distrikte in Deutschland, Liechtenstein und in der Schweiz.

01.10.2020

Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit gab es für Hans Pfarr und seine Mitstreiter rund um den Globus eine grandiose Neuigkeit: „Hans hatte über Jahre, ja Jahrzehnte den Kampf gegen die Kinderlähmung vorangetrieben“, blickt sein Nachfolger voll Anerkennung zurück. „Er war da wirklich mit Feuereifer dran.“ Und dieser wurde belohnt: Im Juni erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Nigeria – und damit den gesamten afrikanischen Kontinent – offiziell für poliofrei. 2016 war die heimtückische Krankheit im bevölkerungsreichsten Land Afrikas wieder ausgebrochen; in einem beispiellosen Kraftakt, mit sorgfältig koordinierten Impfaktionen und einer engmaschigen Überwachung rückte man dem Virus zu Leibe – erfolgreich! Nachdem drei Jahre lang am Stück keine einzige Neuinfektion in Nigeria auftrat, zirkuliert der Polio-Erreger seit diesem Sommer „nur“ noch in Pakistan und Afghanistan.

Folgen des Impfstopps

„Für uns alle war das natürlich eine Wahnsinns-News“, strahlt Urs Herzog. Gleich darauf verdüstert sich sein Blick. „Freilich hat uns Corona dieses Jahr aber auch ein echtes Schnippchen geschlagen.“ Am 11. März hatte der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, den Ausbruch von Covid-19 zu einer Pandemie erhoben; in der Folge wurde bei den flächendeckenden Polio-Kampagnen die Handbremse gezogen. „Die Impfkampagnen wurden weitgehend sistiert“, erklärt Urs Herzog. „Man hatte Sorge, dass infiziertes Impfpersonal das Sars-CoV-2 in Dörfern und Städten verbreiten könnte. Außerdem galt es in der akuten Notsituation, sich vor Ort auf die Identifizierung und Versorgung der an Corona Erkrankten zu fokussieren. Damit fiel Polio in die zweite Reihe zurück.“

Erste Folgen des Impfstopps sind bereits ersichtlich: Seit Anfang des Jahres erkrankten in Pakistan und Afghanistan deutlich mehr Kinder an Polio als in derselben Vorjahresperiode. Selbst in Gegenden, die zuvor poliofrei waren, tauchten wieder Fälle auf. „Hinzu kommt“, ergänzt Urs Herzog, „dass Migranten das Virus von den beiden genannten Ländern aus an andere Flecken der Erde verschleppen könnten. Dort könnten sie dann genau jene Kleinkinder infizieren, die aufgrund der Corona-Pause noch nicht geimpft sind.“ Die Zahl der Kinder, die infolge von Corona nicht gegen Polio geimpft werden konnten, beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf mindestens 80 Millionen.

Urs Herzog wäre aber nicht Urs Herzog, wenn er der Sache nicht auch etwas Positives abgewinnen würde. „Andererseits“, schiebt er also nach und lächelt verschmitzt, „hat uns Covid-19 auch manche Türen geöffnet.“ Gerade in Pakistan sei es zu erfreulichen Entwicklungen gekommen. „Die Taliban hatten unsere Maßnahmen in der Vergangenheit ignoriert; in viele ihrer Hoheitsgebiete durften unsere Polio-Frontarbeiter nicht vorstoßen. Jetzt, wo plötzlich die Angst vor den hochinfektiösen Covid-Viren grassierte, war selbst die radikal-islamistische Terrorgruppe dankbar für unsere Hilfe. Unsere Health Worker durften wichtige Schutzmaterialien an Orten verteilen, die ihnen bis dato verschlossen waren. So kam, ganz sachte, auch ein Dialog über Polio in Gang. Darauf bauen wir auf.“

„Überhaupt“, strahlt der glühende Polio-Bekämpfer, „die Sensibilisierung, die durch Covid-19 angeregt wurde, kommt uns zugute. In den 1950er Jahren war ,Polio‘ ein Schreckgespenst. Isolation, die Eiserne Lunge, bleibende Schäden – all die Bilder waren damals in den Köpfen fest verankert. Als Mitte der 50er Jahre dann die Maschinerie anlief, als systematisch geimpft wurde und die strikten Hygienemaßnahmen allmählich ihre Wirkung zeigten, war das der Anfang vom Ende von Polio hierzulande. Jetzt, wo Händewaschen, Social Distancing und viele weitere Hygieneregeln eine Art Revival erleben, könnten wir auch für Polio davon profitieren.“

Die Lage war ernst

Urs Herzog selbst profitierte ehedem vom Geschick eines Schweizer Chirurgen. „Ich war acht damals“, erzählt er. Die Familie war in den Herbstferien wandern, der kleine Urs wollte nicht mehr. „Ich fühlte mich total schlapp.“ Die vermeintliche Faulheit wurde vom Vater zunächst mit einer Ohrfeige quittiert. „Als ich dann aber ein kleines bisschen später regelrecht umfiel, wurde auch ihm der Ernst der Lage bewusst.“ „Ernst der Lage“ meint im Falle von Urs Herzog: diagnostizierte Kinderlähmung, Isolierstation, zweieinhalb Monate im Spital. Dann intensive Physiotherapie und zwei Jahre später eine Korrektur-Operation am rechten Bein. „Das linke Bein war nicht betroffen“, so Urs Herzog, auch der Rest blieb verschont. Körperlich mag man dem Schweizer Past-Governor seine Polioerkrankung nicht anmerken; auf seinen Geist allerdings, seine Berufswahl, seine Lebensgestaltung hatte diese Lebensphase nachhaltige Auswirkung. „Ich wurde Chirurg“, fasst er zusammen, „ich wurde Rotarier, und ich versuche nach Kräften, etwas zurückzugeben.“


Zur Person

Als Kind war Urs Herzog ( Jahrgang 1948) selbst an Polio erkrankt, kam jedoch ohne bleibende Schäden davon. Seit seinem Beitritt zu Rotary im Jahre 1995 (RC Allschwil – Regio Basel) widmet sich der studierte Mediziner in unterschiedlichen Funktionen dem Kampf gegen die Krankheit.

endpolio.org/de