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Die Natur braucht Rechte!

Titelthema - Die Natur braucht Rechte!
Riesenmuschel, Tridacna derasa, Muscheln, Omaha’s Henry Doorly Zoo and Aquarium. Gefährdet. Als Folge von Überfischung und Umweltverschmutzung sind einige Arten von Riesenmuscheln vom Aussterben bedroht. Die Art Derasa wird 60 Zentimeter groß. © Joel Sartore/Photo Ark

Ökosysteme müssen endlich in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen werden, nicht nur einzelne Teile.

Hermann Ott01.02.2023

Wie es um das nichtmenschliche Leben auf unserem Planeten bestellt ist, brauche ich vermutlich nicht zu erzählen. Der Weltrat für Biodiversität IPBES, ein internationales wissenschaftliches Gremium zur Einschätzung der Lage, konstatiert, dass der Artenschwund bis zu 100-mal schneller erfolgt als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Der Mensch versursacht das größte Artensterben seit dem Einschlag eines Meteors vor 65 Millionen Jahren – ein zweifelhafter Rekord.

Ich verkenne nicht, dass es in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte beim Schutz von Umwelt und Natur gegeben hat. In allen Ländern der Erde gibt es eine Vielzahl von Gesetzen und in vielen genießt die Umwelt sogar einen verfassungsrechtlichen Schutz. Doch wir Menschen schützen Umwelt und Natur, als würden wir nicht dazugehören, als wäre sie etwas von uns Getrenntes und bräuchte uns, um zu existieren. Da offenbart sich die alte Vorstellung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“. Natürlich kann man diese biblische Vorstellung modern als eine Pflicht zum Hegen und Pflegen verstehen. Also anders als frühere Vorstellungen, die eher das Recht auf Ausbeutung betonten. Doch auch als Heger oder Gärtner liegt der Ball im Feld des Menschen, der die Umwelt und diesen Planeten nach seinem Willen formt.

Da sind Menschen in anderen Weltgegenden weiter, wo der Mensch als Teil der Natur verstanden wird. Wo Bäume, Flüsse oder Seen deshalb eigene Rechte haben, unabhängig vom Menschen. Ecuador war der erste Staat, der 2008 einen ökologischen Artikel in die Verfassung aufnahm, zum Schutz von „pacha mama“, von Mutter Erde. In anderen Ländern werden der Natur oder Flüssen durch Gesetze oder Gerichtsentscheidungen eigene Rechte zugesprochen – etwa in Bolivien, Kolumbien, Neuseeland und Indien. Und erst vergangenes Jahr erhielt die Lagune Mar Menor in Spanien vom Parlament einen eigenen Rechtsstatus.

Spanien? Das ist schon verflixt nah dran an unserer Rechtsordnung. Sollte es vielleicht doch möglich sein – und wenn ja, wie? Träger von Rechten sind in unserer Rechtsordnung nicht nur natürliche Personen, sondern das können auch juristische Personen sein wie etwa Stiftungen, Vereine, GmbHs, Aktiengesellschaften. Das Bundesverfassungsgericht hat juristischen Personen sogar Grundrechte zugesprochen, nämlich solche, die „ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind“. Wir halten fest: Rechte sind nicht auf Menschen beschränkt.

Aber natürlich können künstliche Personen diese Rechte nicht selbst geltend machen. Die Rechte juristischer Personen werden durch „Organe“ ausgeübt – also menschliche Personen mit gewissen Funktionen –, wie Geschäftsführer oder ähnliche. Eine Fiktion. Daraus folgt: Es wäre ebenso unproblematisch, nichtmenschlichen Geschöpfen oder auch ganz beliebigen Konstruktionen eigene Rechte zuzubilligen, die dann durch bestimmte Organe durchgesetzt werden.

Naturrecht schaffen und durchsetzen

Wer oder was sollte dann solche Rechte bekommen? Die Natur als Ganze? Oder einzelne Flüsse, Seen? Vielleicht sogar einzelne Tiere oder Spezies? All diese Vorschläge sind gemacht worden und haben ihre Vorund Nachteile. Ich bin in der Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass diese Rechte vor allem Ökosystemen zukommen sollten. Denn Ökosysteme müssen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Kleine Störungen bedrohen sie nicht, für normale Umweltverschmutzung gibt es schon Gesetze. Es kommt darauf an, direkte und indirekte Störfaktoren von außen fernzuhalten, die die ökologische Unversehrtheit von Flusssystemen, Tälern oder Landschaften bedrohen.

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Hoher Wolfstrapp, Lycopus exaltatus, Lippenblütler, Waldsteppengebiete und Stromtäler. In Deutschland und Österreich ausgestorben. Der Hohe Wolfstrapp erreicht Wuchshöhen von 90 bis 160 Zentimetern.
© Wikimedia Commons

Wer sollte diese Rechte von Ökosystemen überwachen? In Ecuador ist jedermann berechtigt, anderswo wurde diese Rolle Umweltverbänden zugesprochen oder speziell eingesetzten Ombudsmännern oder -frauen, sogenannten „guardians“. Mit einem Kollegen habe ich einen Vorschlag entwickelt, der sich an die Position der Datenschutzbeauftragten anlehnt: Staatlich ernannte, unabhängige „Naturrechtsbeauftragte“ könnten mit weitgehenden Aufsichts- und Durchsetzungsrechten versehen werden. Damit die Gefahren eines Missbrauchs eingedämmt werden, könnte für weitreichende Entscheidungen eine gerichtliche Prüfung erforderlich sein. Und ähnlich wie im Datenschutzrecht können auch kommunale Naturrechtsbeauftragte geschaffen werden, besetzt aus unterschiedlichen Interessengruppen.

Diese Vorschläge würden gar nicht so komplex in der Umsetzung sein, und die gesetzlichen Regelungen wären keine Fremdkörper im deutschen Recht. Es wäre jedoch zusätzlich sinnvoll, unser Grundgesetz um eine ökologische Komponente zu ergänzen. Zwar gibt es Meinungen, unsere bestehende Verfassung würde die Anerkennung von Rechten der Natur bereits erlauben. Doch wäre eine verfassungsrechtliche Klarstellung wünschenswert, die dadurch auch eine zusätzliche Legitimität hätte. So könnte ein neuer Artikel 20 b im Grundgesetz eingefügt werden, der den Schutz vor Eingriffen bietet, die die Funktionsfähigkeit eines Ökosystems beeinträchtigen.

Das Mindset muss sich ändern

Erstens würde mit der Einführung von Eigenrechten für bestimmte Ökosysteme eine Art Beweislastumkehr einhergehen. Nicht mehr der Schutz von Umwelt und Natur wäre begründungspflichtig, sondern im Gegenteil alle Beeinträchtigungen. Nicht mehr „erlaubt ist, was nicht verboten ist“, sondern die Rechte der Natur gelten. Wer sie einschränken will, muss gute Gründe haben. Und wesentliche Veränderungen der Funktionsfähigkeit von Ökosystemen wären gar nicht mehr erlaubt. Das ist der zweite Vorteil: Es würden Ökosysteme in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen, nicht nur einzelne Teile.

Einen weiteren großen Vorteil sehe ich in der kulturellen Wirkung: Die wichtigste Veränderung für eine lebenswerte Zukunft des Menschen ist unsere eigene Wahrnehmung der Welt und unserer Stellung darin. Wenn wir uns weiter als Spitze der Lebenspyramide sehen, als Spezies, die über das Leben auf der Erde herrscht und herrschen darf, dann werden wir vermutlich die vielfachen Krisen nicht in den Griff bekommen. Ein neues Verständnis unserer Rolle auf diesem Planeten ist erforderlich: Dass wir Teil des lebendigen Netzes auf dieser Erde sind. Dass andere Wesen ebenfalls ein Teil dieses Netzes sind – und das aus eigenem Recht.

Für eine solche Veränderung der Wahrnehmung spielt das Recht eine entscheidende Rolle. Nicht umsonst beginnt die Entmenschlichung missliebiger Gruppen mit der Streichung von Rechten, wie wir in Deutschland aus trauriger Erfahrung wissen. Umgekehrt bewirkt die Zuerkennung von Rechten einen Wandel in unserer Wahrnehmung. Denn Rechte nehmen unter den ethischen Postulaten einen hohen Rang ein, sie stehen in der Normenpyramide ganz oben. Das Recht verändert unsere Einschätzung der Dinge. Deshalb gilt: Die Natur hat Rechte – es ist Zeit, diese anzuerkennen!

Hermann Ott
Prof. Dr. Hermann Ott leitet für die Umweltrechtsorganisation Client Earth das Deutschlandbüro in Berlin. Der Volljurist promovierte an der Freien Universität Berlin zu Umweltregimen im Völkerrecht.

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