https://rotary.de/umwelt/geniestreich-der-evolution-a-23994.html
Titelthema

Geniestreich der Evolution

Titelthema - Geniestreich der Evolution
Beginn der Besiedlung einer Schwarzspecht-Nesthöhle. Ankunft am Nesteingang, Blick von innen © Ingo Arndt

Honigbienen sind für unsere Ernährung essenziell, aber auch ein wahres Geschenk für den Naturforscher. Was wir wissen und was wir nicht wissen

Jürgen Tautz01.08.2024

Überragend die Bedeutung ihrer Bestäubungsleistung für den Erhalt der Blütenpflanzen und unverzichtbar ihr Einsatz in der Bestäubung aller Obst- und vieler Gemüsesorten – diese Schlüsselrolle im Zusammenspiel zwischen der Tier- und Pflanzenwelt hat als erster Conrad August Spengel verstanden und 1793 in seinem wunderbaren Buch Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und der Befruchtung der Blumen beschrieben. Lange vor Spengels epochaler Entdeckung waren andere Gründe dafür verantwortlich, dass den Honigbienen ein ganz besonderer Status zugeschrieben wurde. Honig als Nahrungsmittel von außergewöhnlicher Güte muss bereits sehr früh in der Stammesgeschichte der Menschheit hoch geschätzt worden sein, ebenso wie später, in geschichtlicher Zeit, auch das Wachs als wichtiger Naturstoff in vielfältigem Einsatz.


2021, audio, symbol

Hören Sie hier den Artikel als Audio!

Einfach anklicken, auswählen und anhören!


Die Rätselhafte

Die außergewöhnliche materielle Bedeutung der Honigbienen für die Menschheit findet eine Entsprechung in intellektuellen Ansätzen und Herausforderungen, die sich aus dem Studium ihres Lebens ergeben. Das Zusammenleben der Bienen in hochorganisierten Insektenstaaten und der daraus resultierende Vorbildcharakter war über Jahrtausende Inspiration für politische, religiöse und mythische Ausführungen. Vor allem aber für die Naturwissenschaften waren die Bienen eine Herausforderung – und sind es bis heute. Zwei Beispiele aus Bionik und Evolutionstheorie: Die kristallartige Regelmäßigkeit der Zellen ihrer Waben gaben frühen Mathematikern und Naturbeobachtern ebenso Rätsel auf wie die Entdeckung, dass sich in einem Bienenvolk nur die Königin fortpflanzt, alle anderen Zehntausenden Weibchen steril sind. Wie passt es, keine Nachkommen zu haben, zur Idee eines „survival of the fittest“, in dem eine Auslese unter Nachkommen stattfindet? Charles Darwin brütete wegen dieser Tatsache über einem möglichen Denkfehler in seiner Evolutionstheorie, denn wie soll es möglich sein, dass sich die Eigenschaft, keine Kinder zu bekommen, weitervererbt?

Isaac Newton hatte als Erklärung der überragenden Waben-Baupräzision für die Bienen einen mathematischen Verstand angenommen. Sorgfältige Detailstudien mit immer neuen Methoden „entzaubern“ nicht selten Zuschreibungen, so auch hier. Heute wissen wir: Die regelmäßigen Sechsecke der Zellen entstehen aus zunächst rund gebauten Zellansätzen aus der Einstellung eines thermischen Gleichgewichts in dem von den Bienen errichteten und erwärmten wächsernen „Rohbau“. Die Charles Darwin Sorgen bereitende „Vererbung einer Nicht-Vererbung“ hat heute ihre Erklärung gefunden in hoch entwickelten theoretischen Vorstellungen zusammen mit molekularbiologischen Studien zur Verwandtenselektion. Wir wissen über Eigenschaften und Fähigkeiten der Honigbienen weit mehr als für jedes andere Insekt. Der Grund dafür ist nicht allein das hohe Interesse und die Faszination, die Honigbienen auslösen, sondern zwei Umstände, mit denen sich die Honigbienen zu einem wahren Geschenk für den Naturforscher machen: Honigbienen besitzen ein ausgeprägtes Lernvermögen, und sie verfügen über eine differenzierte Kommunikation.

Vibrieren gegen den Vogel

Ihr Lernvermögen lässt sich nutzen, um einen Einblick in die Wahrnehmungswelt der Bienen zu erhalten. In ihre Kommunikation können wir uns einklinken und so das Verhalten der Bienen zu Forschungszwecken manipulieren. Das außergewöhnliche Lernvermögen der Honigbienen ist erklärbar aus der Notwendigkeit für junge und unerfahrene Bienen, zwei Dinge rasch zu lernen: Erstens müssen sie unterschiedliche Blüten an Aussehen und Duft unterscheiden können und – als Sammelbiene in einem Sammelrevier von mehr als 100 Quadratkilometern unterwegs – optische Anhaltspunkte in der Landschaft erkennen und sich merken können, um zur festen „Heimadresse“, dem Nest des Volkes, zurückzufinden.

Zweitens ist eine ausgeprägte und differenzierte Kommunikation essenziell, um die Verhaltensweisen Zehntausender Bewohner eines Stocks abstimmen zu können. Mit seiner genialen Einsicht in diese beiden fundamentalen Fähigkeiten – lernen und kommunizieren – hat der Österreicher Karl von Frisch als Erster verstanden, welch ideale Voraussetzungen die Honigbiene als Versuchstier zu Fragen der Sinnesphysiologie und der Verhaltensbiologie mitbringt, und so die Tür zur modernen Bienenforschung aufgestoßen. Seine einfache wie kluge Herangehensweise wird auch noch heute erfolgreich eingesetzt: Simple Versuchsaufbauten und freifliegende Bienen können noch immer Erstaunliches ans Licht bringen.

Totheizen feindlicher Wespen

Auf der anderen Seite decken neue Messmethoden, die unsere Sinne erweitern, höchst ungewöhnliche Kommunikationsformen auf. Spezialsensoren haben die im Tierreich einmalige Alarm-Kommunikation der Zwerghonigbienen ans Licht gebracht. Bienen sind taub, aber höchst empfindlich für Vibrationen, die über die Wabe oder die Körper eng beieinandersitzender Bienen laufen, der Weg, auf dem sie auch ihre Alarmsignale austauschen. Hat eine einzelne Biene einen auf Beute lauernden Vogel entdeckt, „spricht“ sie mit ihrer Flugmuskulatur eine Vibrations-Warnung aus, die alle Bienen der Kolonie erreicht und vom Chor der gesamten Kolonie beantwortet wird (QR-Code mit Hörbeispiel oben rechts). Diese Kommunikation bringt alle Bienen in Alarmbereitschaft. Es finden keine Ausflüge mehr statt, die Blütenbesuche werden eingestellt, die gesamte Kolonie ist nun im Abwehrmodus und wartet ab, was als Nächstes geschieht. Sie ist bereit, einen Angreifer mit zahllosen Stichen in die Flucht zu schlagen.

2024, Geniestreich der Evolution, titelthema
Tiefe Einblicke: Kurze Videos und Hörbeispiele geben fantastische Einblicke in die Welt der Honigbienen.

Ein vollkommen anderes Wahrnehmungsfenster öffnet uns die Thermovision, eine Technik, mit der die Oberflächentemperatur von Körpern sichtbar gemacht wird (und die pionierhaft mit großartigen Resultaten an der Universität Graz in der Bienenforschung eingesetzt wurde; diese Universität ist auch heute eine der europaweit führenden Institutionen einer modernen Bienenforschung). Der Thermovision verdanken wir unter vielen anderen Einsichten auch die Entdeckung, dass Honigbienen gegen Wespen, die in ihre Nester eingedrungen sind, ihre eigenen Körper als Hitzewaffe einsetzen. Honigbienen können sich bis auf 44 Grad Celsius aufheizen, bei höheren Temperaturen sterben sie. Wespen sterben bereits bei 43 Grad Celsius. Dieser unglaublich knappe Unterschied ermöglicht es den Honigbienen, ihre Fressfeinde totzuheizen. Dafür geben sie mit ihrer Flugmuskulatur bei ausgekuppeltem Flügelschlag – quasi im Leerlauf – Vollgas, wobei sich der flügeltragende Körperabschnitt stark erhitzt. Sind Wespen in eine Kolonie eingedrungen, werden sie rasch entdeckt und von heißen Bienen eng eingehüllt. Diese Klumpen aus heißen Bienen „kochen“ die Wespen innerhalb kurzer Zeit zu Tode. Der QR-Code führt zu einem einmaligen Filmdokument, in dem der amerikanische Entomologe Barrett Klein von der Universität Wisconsin ein derartiges „Wespen-Kochen“ festhalten konnte.

Die Dressur freifliegender Bienen

Im Prinzip geht es bei Verhaltensexperimenten mit Bienen fast immer darum, in einer Lernsituation die Tiere für ein gewünschtes Verhalten mit etwas süßem Saft zu belohnen. Es ist nichts anderes als die Fortsetzung der natürlichen Situation, in der sich eine zunächst unerfahrene Biene selbst beibringt, wie eine Salbeiblüte aussieht und duftet, an der sie mit Nektar belohnt worden ist. Das Erlernen eines Duftes benötigt meist nur einen einzigen Durchlauf, worauf der gelernte Duft nie mehr vergessen wird. Optische Reize in Form von Farben, Mustern oder Bildern brauchen zwei bis drei Trainingsläufe, danach sitzt auch die Lektion für den Sehsinn. Alles, was von den Geruchssinneszellen der Bienen wahrgenommen wird, kann im Lernversuch mit einer Belohnung durch Zuckerwasser verknüpft werden. Ebenso alles, was von einer Biene gesehen werden kann. So lassen sich Bienen auf das Erkennen von Fotos menschlicher Gesichter trainieren. Hinter dieser erstaunlichen Leistung steckt aber keine persönliche Gesichtserkennung wie bei der automatisierten Gesichtserkennung der KI, hier ist es eine konkrete Fotografie (das würde auch mit jedem anderen Motiv funktionieren), die von anderen unterschieden wird.

Mit der Dressur freifliegender Bienen lässt sich ausloten, wie grob die Erkennungskategorien in der Wahrnehmungswelt der Bienen sind, wie groß die Unterschiede zwischen zwei optischen Mustern sein müssen, um von der Biene unterschieden zu werden. Das gilt auch für Gemälde von Künstlern, die bei deutlich unterschiedlichen Malstilen in der Wahrnehmung der Bienen in unterschiedliche Kategorien fallen. Auf welche optischen Details die Bienen bei diesen künstlichen mit Futter verbundenen Reizen genau achten, ist uns bisher nicht bekannt.

Getanzte Wegbeschreibung

Die berühmteste Verhaltensbeobachtung an Honigbienen betrifft die Rekrutierung von Neulingen zu einer Futterstelle. Karl von Frisch hatte beobachtet und in einer Publikation von 1923 beschrieben, dass Bienen nach der Entdeckung einer neuen Futterquelle diese zunächst selbst mehrfach aufsuchen. Sind sie danach von dieser Quelle überzeugt, führen sie im dunklen Stock auf den senkrechten Waben auffallende Bewegungen auf, die sogenannten Bienentänze. Andere Bienen, die diesen Tänzen folgten, tauchen nach einiger Zeit bis in einer Entfernung von zehn Kilometern exakt an dem Punkt auf, der von der Entdeckerin beworben wird. Als dann die großartige Beobachtung hinzukam, dass Details der Tanzfigur mit der geografischen Lage des beworbenen Zieles korrelieren, war die „Tanzsprache der Bienen“ geboren. Die Idee: Aus der Figur des Bienentanzes entnehmen die Nachtänzerinnen die Lage des Zieles, das sie anschließend aufgrund dieser Information selbstständig auffinden. Die daraus oft zitierte Schlussfolgerung, die den Bienen eine Sonderstellung im gesamten Tierreich zuweist: Nur der Mensch und die Honigbiene seien fähig, die Lage eines Ortes im Raum präzise zu kommunizieren.

Heute, ein Jahrhundert nach den ersten Publikationen zum Thema und einer riesigen Anzahl an Experimenten, ist klar, dass dieses klassische Modell um einen entscheidenden Aspekt erweitert werden muss. Auch hier gilt, dass mit wachsender Datenfülle überzeichnete Vorstellungen und Hilfshypothesen neu zu bewerten sind. Das massive „Rauschen“, die Ungenauigkeit in der Tanzkommunikation der Bienen, erfordert weitere Signale im Feld, um Rekruten ans Ziel zu bringen. Diese theoretische Forderung, die sich aus vielen Folgestudien ergibt, trifft auf eine der frühesten Beobachtungen von Karl von Frisch. Er hatte richtig gesehen, dass dieselben Bienen, die im Stock getanzt haben, draußen im Feld mit auffallenden Flügen und chemischen Lockstoffen die Rekruten zum Ziel bringen, die es aber auch selbst, angelockt durch die Blütendüfte, finden können.

Verfügen Bienen über ein Bewusstsein?

Die Sehwelt der Bienen lässt sich um ein Vielfaches leichter studieren als deren Duftwelt, da optische Reize (Farbe, Form, Muster, Intensität) sehr viel einfacher eingerichtet und kontrolliert werden können als das Auftreten und die Verteilung von Duftmolekülen in der Luft. Auch das ist wohl ein Grund für die Unterschätzung der chemischen Kommunikation zwischen Bienen außerhalb ihres Nestes, ein Baustein in einem neuen Modell – eigentlich alten Modell, mit seinen Wurzeln in den ersten Studien von Karl von Frisch zur Tanzkommunikation.

Es gibt derzeit spannende Deutungen von Beobachtungen, die in artefiziellen Versuchssituationen gemacht werden können und die den Bienen Denken, Emotionen und sogar Bewusstsein zusprechen. Sind der Einsatz dieser Begriffskategorien als Interpretationen von Versuchsergebnissen an Insekten mehr als eine „sexy“ populäre Begriffsverwendung? Kann hierzu an Insekten überhaupt streng naturwissenschaftlich geforscht und argumentiert werden? Fragen, die über die Bienenforschung hinausreichen. Die Verhaltensforschung an Insekten, speziell an Honigbienen, bleibt weiterhin faszinierend und spannend.


Fotografien von Ingo Arndt

2024, Geniestreich der Evolution, titelthema
Ingo Arndt ©  Silke Arndt

 

Ingo Arndt gehört zu den herausragenden Naturfotografen. Seine Bilder erscheinen in Magazinen wie „National Geographic“, „Geo“, „Stern“ oder „BBC Wildlife“ und werden weltweit auf Kunstmessen vermarktet. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Zu seinen wichtigsten Büchern zählt „Honigbienen – Geheimnisvolle Waldbewohner“, Knesebeck 2020, 192 Seiten, 38 Euro.

 

 


Buchtipp

 

 

Prof. Dr. Jürgen Tautz 

„Auch Bienen haben Schweißfüße“,

Ulmer 2024,

144 Seiten, 20 Euro.

 

 

Jürgen Tautz

Prof. Dr. Jürgen Tautz ist Verhaltensforscher, Soziobiologe und Bienenexperte. Er ist Professor em. am Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zuletzt erschien „Auch Bienen haben Schweißfüße“, Ulmer 2024, 144 Seiten, 20 Euro.