Titelthema
Vom Reagenzglas in die freie Wildbahn
Warum die Rettung von Breitmaul-, Spitzmaul- und anderen vor dem Aussterben stehenden Nashörnern so schwierig wie wichtig ist.
Es gibt nur noch zwei Nördliche Breitmaulnashörner auf dem Planeten, Fatu und ihre Mutter Najin. Sie leben in einem Schutzgebiet in Kenia, aus ihrem natürlichen Lebensraum in der Wildnis Zentralafrikas sind sie völlig verschwunden. Sie zu retten, scheint unmöglich – doch die Wissenschaft ist dabei, fortgeschrittene Methoden der assistierten Reproduktion und Stammzelltechnologien zu entwickeln, die diesen Dickhäutern und anderen Tierarten eine Zukunft geben könnten.
Im Jahr 1962 gab die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) die erste Rote Liste gefährdeter Arten heraus, damals noch in Buchform mit dem Titel Red Data Book. 30 Jahre später hielt die noch heute verwendete Klassifikation für den Gefährdungsstatus Einzug, die von LC („least concern“ – nicht gefährdet) bis zu EX („extinct“ – ausgestorben) reicht und bestimmendes Kriterium für die Wahl von Maßnahmen für den Schutz der jeweiligen Art ist. Während für die Eingruppierungen VU („vulnerable“ – gefährdet) und EN („endangered“ – stark gefährdet) traditionelle Ansätze wie Schutz der Habitate oder Zuchtprogramme das Mittel der Wahl sind, reicht dies für vom akut vom Aussterben bedrohte Arten (CR – „critically endangered“) oft nicht mehr aus. Dann sind spezialisierte Interventionsprogramme in Zusammenarbeit von Artenschutzforschung und zoologischen Einrichtungen die letzte Hoffnung, ein Aussterben zu verhindern.
Unmöglich: Nachwuchs aus eigener Kraft
Für das Nördliche Breitmaulnashorn müsste eigentlich eine zusätzliche Kategorie in der Roten Liste eingeführt werden. Der letzte Schritt vor dem Aussterben ist dort EW („extinct in the wild“ – in der Wildnis ausgestorben). Darin sind jene Arten eingruppiert, die es in freier Wildbahn nicht mehr gibt und die nur noch in menschlicher Obhut überlebt haben. Doch heute ist die Lage der Dickhäuter noch dramatischer als das: Mit Najin und Fatu existieren nur noch zwei Exemplare weltweit und beide sind Weibchen. Sie kamen im Jahr 2009 gemeinsam mit zwei männlichen Artgenossen vom tschechischen Zoo Dvůr Králové in das Ol-Pejeta-Reservat in Kenia, um dort – angeregt von der Äquatorsonne – ihre letzte Chance auf natürliche Reproduktion zu nutzen. Dieses Vorhaben schlug fehl, im Jahr 2014 starb erst das eine, im Jahr 2018 dann das letzte Männchen. Aus eigener Kraft ist ein Fortbestehen für das Nördliche Breitmaulnashorn somit gänzlich unmöglich.
Für das Sumatra-Nashorn ist die Lage ähnlich prekär: Nur wenige Dutzend der kleinen, behaarten Nashörner Südostasiens gibt es noch – viel zu wenige, als dass sie sich regelmäßig treffen und reproduzieren könnten. Selbst wenn alle noch verbliebenen Sumatra-Nashörner in einem Zuchtzentrum zusammengeführt würden, wären die Chancen auf Nachwuchs gering: Durch ausbleibende Paarung der verstreut lebenden letzten Tiere sind ihre Reproduktionsorgane häufig degeneriert und ihre natürlichen Fortpflanzungsfähigkeiten enorm reduziert.
In gestörten Habitaten entstehen Zoonosen
Nun ist es leicht, Sympathien für ein so charismatisches, eindrucksvolles Tier wie das Nashorn zu entwickeln, doch mit dem Nördlichen Breitmaulnashorn in Zentralafrika und dem Sumatra-Nashorn in Südostasien würden nicht nur die Dickhäuter selbst verschwinden, sondern Dutzende – wenn nicht gar Hunderte – Arten in ihrem Windschatten. Denn das, was wir in den letzten Jahren so schmerzlich erlebt haben, das pandemische Ausbreiten eines Virus und der von ihm verursachten Erkrankungen, kann man nicht loslösen vom Verschwinden wichtiger Schirmarten. Auf den ersten Blick haben ein fast ausgestorbenes Nashorn und die Ausbreitung des Virus nicht viel miteinander zu tun, doch ich bin der festen Überzeugung, dass beides in direktem Zusammenhang steht. Dieser Zusammenhang heißt gestörte Habitate, also Lebensräume, in die der Mensch massiv eingedrungen ist und die sich nicht mehr im ökologischen Gleichgewicht befinden. Aus diesen Habitaten können sich zoonotische Krankheiten sehr viel wahrscheinlicher auf den Menschen übertragen. In meinem Büro hängt ein Foto eines Nashorns in freier Wildbahn Dorthin, in das Herz Afrikas, wollen wir die Nördlichen Breitmaulnashörner wieder bringen, in ihren natürlichen Lebensraum. Und dies kann helfen, ein fundamental gestörtes Habitat zu reparieren.
Letzte Hoffnung: Umweg über das Labor
Die klassischen Artenschutz-Strategien – Habi tatsiche rung und Erhaltungszucht in menschlicher Obhut – versprechen leider keine Erfolge für diese ökologisch wichtigen Nashornarten. Im Jahr 2019 startete ich daher mit renommierten Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt ein vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt, um eine dritte Strategie zu entwickeln. Diese beruht darauf, dass Embryonen nicht mehr durch Befruchtung im Körper des Muttertieres entstehen, sondern durch In-vitro-Fertilisation im Labor. Dafür werden Eizellen und Spermien benötigt. Im Falle der Nördlichen Breitmaulnashörner konnten wir vom BioRescue-Projekt Eizellen von Weibchen Fatu gewinnen und im Labor mit aufgetautem Sperma von bereits verstorbenen Bullen befruchten – über 20 Embryonen entstanden auf diesem Wege. Ausgetragen werden sollen sie von Leihmüttern des Südlichen Breitmaulnashorns – die einzig verbliebene Möglichkeit zur Rettung der Art.
Für Sumatra- und Nördliche Breitmaulnashörner sind die Verfügbarkeit und genetische Variabilität der Gameten der Flaschenhals des Programms. Neben Fatus Eizellen kann das Programm auf gefrorenes Sperma von nur vier Bullen des Nördlichen Breitmaulnashorns zurückgreifen – und einige dieser Männchen sind eng mit Fatu verwandt. Dies ist in doppelter Hinsicht nachteilig: Zum einen können Eizellen nur in geringer Zahl und in aufwendigen Prozeduren gewonnen werden, und zum anderen ist die genetische Vielfalt der möglichen Nachkommen auf diesem Wege beschränkt. Mit stammzellassoziierten Techniken (SCAT) wollen wir diesen Engpass überwinden: Aus konservierten Gewebeproben sollen induzierte pluripotente Stammzellen, Urkeimzellen und schließlich künstliche Gameten erzeugt werden. Statt von fünf könnte auf diesem Wege das genetische Erbe von zwölf Nördlichen Breitmaulnashörnern in die künftige Population einfließen, und es könnten Gameten in hoher Zahl im Labor erzeugt werden.
Nashorn-Nachkommen aus Stammzellen
Nur unter Einbeziehung der Stammzelltechnologie können wir eine nachhaltig lebensfähige Nashorn-Population in Zentralafrika und Südostasien erreichen. Bis es so weit ist, gilt es jedoch, enorme Herausforderungen zu meistern, denn jeder einzelne Schritt von der konservierten Gewebeprobe eines Nashorns bis zu künstlichen Eizellen oder Spermien ist wissenschaftliches Neuland. Doch wir kommen voran: Am Max-Delbrück-Center konnten wir kürzlich erstmals induzierte pluripotente Stammzellen vom Sumatra -Nashorn erzeugen. Der jüngste Erfolg lässt die Möglichkeit offen, auch von bereits verstorbenen Tiere noch Nachkommen zu erzeugen.
Dass auch der nächste Schritt der Stamm zellstrategie machbar ist, bewiesen unsere BioRescuePartner von der Universität Osaka in Japan. Ihnen gelang es in Zusammenarbeit mit unserem Konsortium, aus induzierten pluripotenten Stammzellen vom Nördlichen Breitmaulnashorn namens Nabire sogenannte Urkeimzellen zu erzeugen. Nabire lebte im tschechischen Zoo Dvůr Králové und starb dort im Jahre 2015 ohne Nachkommen. Urkeimzellen sind die direkten Vorläufer der Gameten und das entscheidende Bindeglied zwischen den Stammzellen und den Keimzellen wie Spermien und Eizellen. Um sich aus Stammzellen zu entwickeln, brauchen die Urkeimzellen eine ganz bestimmte Umgebung, in der Signale von Hormonen oder Proteinen die morphologische und funktionelle Weiterentwicklung auslösen. Zum ersten Mal bei großen Säugetieren ist es der Wissenschaft gelungen, eine solche Umgebung im Labor zu schaffen.
Es ist nicht ohne Tragik, dass wir diese Wege gehen müssen, um Tierarten wie das Breitmaul- oder das Sumatra-Nashorn zu erhalten. Ich wünschte mir eine Welt, in der wir nicht auf wissenschaftliche Durchbrüche an der Grenze des Denk- und Machbaren hoffen müssten, um die Natur im Gleichgewicht zu halten. Doch in dieser Lage sind wir nun einmal, nicht nur bei Nashörnern, sondern bei unzähligen Arten auf der ganzen Welt.
Nördliches Breitmaulnashorn-Baby ante portas?
Sobald die Herstellung künstlicher Gameten erfolgreich ist, würden daraus erzeugte Embryonen sicher in flüssigem Stickstoff gelagert, bis ein Transfer in eine Leihmutter möglich ist.
Die beiden Wege der assistierten Reproduktion und Stammzellforschung sind also keine alternativen Routen, sondern hängen direkt miteinander zusammen. Erst wenn mithilfe dieser Methoden Populationen von Nördlichen Breitmaulnashörnern und Sumatra-Nashörnern geschaffen werden, können traditionelle Strategien wie Erhaltungszuchtprogramme und Schutz der Lebensräume wieder greifen. In zwei bis drei Jahren, so unser Best-Case-Szenario, könnte der Plan aufgehen und erstmals seit 2000 ein echtes Nördliches Breitmaulnashorn geboren werden. Dafür müsste dann ein weiterer Status von der IUCN erfunden werden: ECE – „escaped from certain extinction“, dem sicheren Aussterben entkommen.