Titelthema
Das lange Schweigen
Dass das Massaker von Babyn Jar von der deutschen Öffentlichkeit so lange verdrängt wurde, lag auch darin begründet, dass viele Zeitgenossen allzu gut Bescheid wussten.
Das Massaker an mehr als 33.000 Kiewer Jüdinnen und Juden am 29. und 30. September 1941 gehörte lange zu den bekanntesten unbekannten Massenverbrechen des Holocaust. Seine Bedeutung war spätestens bekannt, seitdem 1948 in Nürnberg ein Prozess gegen Kommandeure der sogenannten Einsatzgruppen der SS und des SD durchgeführt worden war: Die Erschießungen in Babyn Jar (ukrainisch für „Altweiberschlacht“) stächen sogar in der schrecklichen Bilanz dieser Mordeinheiten hervor, betonte die Anklage. Dennoch blieb dieses vermutlich größte Einzelmassaker des Zweiten Weltkrieges jahrzehntelang weitgehend unbekannt, sowohl in West wie in Ost.
Dabei hatte das Verbrechen schon in einem der ersten sowjetischen Kriegsverbrecherprozesse im Fokus gestanden. In Kiew standen im Januar 1946 zwar keine unmittelbar an diesem Massaker Beteiligten vor Gericht, sondern SS- und Polizeioffiziere, die später in die Stadt gekommen waren und denen andere Taten zur Last gelegt wurden. Doch berief die Anklage unter anderem den Bericht von Dina Pronitschewa als Zeugin, die die Erschießung überlebt hatte, um zu belegen, dass derlei Massenmorde ein „grundlegendes Element“ der NS-Politik in den besetzten sowjetischen Gebieten gewesen sei.
Kein Wort vom Genozid an den Juden
Allerdings war die explizite Erwähnung jüdischer Opfer im Kiewer Prozess bereits eine Ausnahme. Nach der Rückeroberung der Stadt im November 1943 hatten sowjetische Behörden einen umfangreichen Bericht zum Massaker von Babyn Jar erstellt. In dessen endgültiger Fassung firmierten die dort Ermordeten aber nur noch pauschal als „friedliche Sowjetbürger“. Bald war es sogar verboten, überhaupt vom Genozid an den sowjetischen Juden zu sprechen – das „Schwarzbuch“ von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, in dem auch Texte zu Babyn Jar enthalten waren, wurde gleich nach seinem Erscheinen 1948 eingestampft.
Die Umkehrung der Tatsachen
Nach Stalins Tod schien sich in der Gedenkpolitik ein Wandel abzuzeichnen. 1965 wurde in Kiew ein Architekturwettbewerb für ein Denkmal am Ort des Verbrechens ausgeschrieben. Doch die Entwürfe verschwanden sogleich in der Schublade, und als sich am 29. September 1966 rund 1000 Personen zum Gedenken in Babyn Jar zusammenfanden, löste die Miliz die Versammlung auf. Nachdem sich dort fortan zu jedem Jahrestag und in zunehmender Zahl Menschen einfanden, um des Massakers zu erinnern, beschloss die kommunistische Führung, sich des Gedenkens zu bemächtigen. 1976 wurde in Babyn Jar ein monumentales Mahnmal eingeweiht, dessen Widmung wieder nur pauschal von ermordeten „Sowjetbürgern“ und Kriegsgefangenen sprach. Kränze, auf deren Schleife das Wort „Jude“ stand, sammelte der KGB ein.
Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs wurde das Gedenken an die jüdischen Opfer nicht durch politische Vorgaben eingeschränkt, sondern durch die Überzeugung vieler Deutscher, sie seien die eigentlichen Opfer des Krieges. Bei dem erwähnten Nürnberger Einsatzgruppenprozess stand der Leiter des Sonderkommandos 4a Paul Blobel vor Gericht; er hatte die Erschießung in Babyn Jar und andere Massaker geleitet und war auf seine Tätigkeit stolz gewesen. Ein Zeuge berichtete, Blobel habe bei einer Ausfahrt ins Umland von Kiew auf ein Massengrab gezeigt und erklärt, dort lägen „meine Juden“. In Nürnberg stellte er sich nun als Befehlsempfänger dar, der mehr gelitten habe als seine Opfer. Die Juden „kannten ihren eigenen menschlichen Wert nicht“, erklärte er, weshalb es ihnen nicht so viel ausgemacht habe, erschossen zu werden. Neben Blobel wurden in dem Prozess 21 weitere Kommandeure der Einsatzgruppen verurteilt, davon 14 zum Tod. Neben Blobel wurden aber nur drei von ihnen tatsächlich hingerichtet. Die meisten der übrigen 18 Angeklagten entließ man schon 1951 wieder, der letzte kam 1958 frei.
Die Strafen hatten also keinen langen Bestand, Blobels Verteidigungsstrategie hingegen schon. Als fast zehn Jahre nach dem Nürnberger Einsatzgruppenprozess die bundesdeutsche Justiz endlich begann, Angehörige der Mordkommandos wegen ihrer Taten zu verurteilen, werteten die Richter diese Verbrechen als „Beihilfe“ zum Mord. Selbst Männern, die im Wortsinn knöcheltief im Blut gestanden hatten, gestand man zu, bloß „ein Rad in der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen zu sein, die die Befehle der eigentlichen Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich ausgeführt hätten. So war es im Urteil des Verfahrens gegen Kuno Callsen und neun andere Angehörige des Sk 4a zu lesen, die Ende 1967 wegen der Morde in Babyn Jar und anderen ukrainischen Orten in Darmstadt vor Gericht standen. Sie erhielten zwischen vier und 15 Jahren Haft. Bis 1983 wurden in der Bundesrepublik 50 Prozesse gegen insgesamt rund 180 Angeklagte geführt, darunter mit dem Darmstädter Verfahren zwei wegen des Massakers in Babyn Jar. Allein die Kerntruppe der Einsatzgruppen umfassten aber 4000 Mann, hinzu kamen zehntausende Angehörige der Waffen-SS und Polizeibataillone.
Kaum mediale Aufmerksamkeit
Im Unterschied zum Frankfurter Auschwitzprozess oder dem Eichmann-Verfahren in Jerusalem blieben all diese Prozesse von den Medien fast unbeachtet. Über das Callsen-Verfahren berichtete allein das Darmstädter Echo, die FAZ meldete im Regionalteil die Verurteilungen. Dies lag nicht allein daran, dass in Frankfurt und Jerusalem über Komplexe verhandelt wurde, die größer schienen als das Massaker am Stadtrand von Kiew. Der Prozess in Darmstadt offenbarte darüber hinaus unbequeme Wahrheiten: Der Mord an den europäischen Juden war nicht allein in abgeschirmten „Todesfabriken“ von einer kleinen Gruppe von Tätern verübt worden, rund die Hälfte der Holocaustopfer war durch Abertausende Angehörige von Mordkommandos in grausiger „Handarbeit“ umgebracht worden. Und zu diesen Mordkommandos gehörten nicht allein SS-Männer, sondern auch Polizisten, die teilweise kurz zuvor noch in deutschen Kleinstädten den Verkehr geregelt hatten.
Kaum jemand mochte auch hören, dass kaum eines dieser Massaker nicht entweder mit Billigung oder der zumindest logistischen Unterstützung der Wehrmacht durchgeführt worden war. Auch das kam 1967 in Darmstadt zur Sprache. Die Feldkommandantur 195 hatte für den Mord in Babyn Jar 100.000 Schuss Munition geliefert, Pioniere sprengten anschließend die Hänge der Schlucht, um die Leichen mit Sand zu bedecken. Beteuerungen, „davon“ habe man nichts gewusst, erwiesen sich nach solchen Prozessen als bloße Schutzbehauptung. Massaker wie das in Babyn Jar waren unter einem Großteil der deutschen Soldaten „Stadtgespräch“ gewesen. Das lange Schweigen in der deutschen Öffentlichkeit lag auch darin begründet, dass viele Zeitgenossen allzu gut Bescheid wussten.
Der Untergang des Kommunismus und der Zerfall der Sowjetunion läutete auch in der Erinnerungspolitik eine Epochenwende ein. In (West-)Deutschland öffnete sich der Blick über den ehemaligen Eisernen Vorhang in den Osten, in den unabhängig werdenden Republiken löste sich die Interpretationshoheit der Parteiideologen über die Geschichte auf. Im September 1991 wurde in Kiew erstmals offiziell und in großem Rahmen der jüdischen Opfer von Babyn Jar erinnert, in Deutschland zeigten die beiden Wehrmachts-Ausstellungen von 1995 und 2001 einem breiten Publikum die Dimensionen der in den besetzten sowjetischen Gebieten verübten Verbrechen. Doch während die Debatten darüber hierzulande seitdem weitgehend erkaltet sind und es Jahrestage des Massakers von Babyn Jar bedarf, um uns aus unserer Selbstwahrnehmung als Erinnerungsweltmeister herauszureißen, bleibt das Gedenken in der Ukraine politisch umstritten.
Wie soll ein Gedenken aussehen, das neben den Gefallenen des Zweiten Weltkriegs sowohl die jüdischen Opfer umfasst, die häufig unter Mithilfe ihrer ukrainischen Nachbarn ermordet wurden, wie auch die Opfer des Stalinismus, zu denen neben verhungerten Bauern auch Nationalisten gehörten, aus deren Reihen Polen und Juden ermordet wurden und von denen einige wiederum von den deutschen Besatzern erschossen wurden – unter anderem in Babyn Jar. Unter dem Eindruck des unerklärten russisch-ukrainischen Krieges im Donbass war innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Ukraine sogar ein Streit darüber entbrannt, ob das dort geplante Memorial-Center mit wesentlicher Unterstützung von Personen entstehen dürfe, die ihr Vermögen in Russland gemacht haben. Seitdem sich der ukrainische Präsident Wolodimyr Selenski trotz dieser Kritik hinter das Projekt gestellt hat, ist zumindest diese Frage geklärt. Das Problem der fragmentierten Erinnerung bleibt hingegen aktuell.
Dr. Bert Hoppe ist Historiker und Mitarbeite am Institut für Zeitgeschichte außerdem freier Autor. Sein besonderes Interesse gilt der Geschichte des Stalinismus, der deutschen Besatzungspolitik in Osteuropa und der Vergangenheitspolitik.
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