Zwischen Auftrag und Möglichkeiten
Der lange Weg in die Wirklichkeit
Die vielen Häutungen der deutschen Sicherheitspolitik und die Stellung der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft
"Et hätt noch emmer joot jejange“, lautete einst, in den guten alten Zeiten der „Bonner Republik“, das rheinische Lebensmotto der deutschen Politik. Es beschrieb treffend das Lebensgefühl der Davongekommenen, die nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg den Aufstieg aus den Ruinen des Reiches gestalteten und vor allem anderen nach einem Leben in Sicherheit und Wohlstand trachteten. Sicherheitspolitik und Deutschlandpolitik waren aufs engste miteinander verflochten. Mit der Wiedervereinigung änderten sich Deutschlands strategische Lage und die Größe der internationalen Verantwortung des Landes.
Der Weg zur Anerkennung der neuen Wirklichkeiten war lang, oft schmerzvoll, mit heftigen Debatten und bisweilen nacheilenden Entscheidungen der Politik verbunden. Am sichtbarsten sind die damit verbundenen Veränderungen beim Blick auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr. In den vergangenen 25 Jahren ist Deutschland zu einem der größten Truppensteller für internationale Friedensmissionen geworden. Die jüngste Entscheidung der Bundesregierung, sich auch mit der Entsendung von Soldaten am militärischen Kampf gegen das Terrornetzwerk des Islamischen Staats zu beteiligen, fügt sich stichhaltig in die Reihe der deutschen Auslandseinsätze seit der Wiedervereinigung ein und unterstreicht Deutschlands Entschlossenheit, als aktives Glied der Staatengemeinschaft seinen Part der Verantwortung zu übernehmen.
Schwierigkeiten mit der Realpolitik
Mit den Auslandsmissionen haben sich nicht nur die Anforderungen an die Soldaten gewandelt, sondern auch der Blick der deutschen Gesellschaft auf das Militärische als Mittel der Politik. Nach Jahrzehnten des Friedens wurde sie ganz unmittelbar mit Krieg, Tod und Verwundung konfrontiert und diese Begriffe aus dem geschichtlichen Kontext der Kriegserfahrung vergangener, vordemokratischer Zeiten herausgelöst. Lange haben sich viele in Deutschland – selbst in den Streitkräften – schwer getan, diese Wahrheiten anzuerkennen. So hat es zum Beispiel lange gedauert, bis erst in den Jahren 2008 und 2009 die Begriffe „Krieg“, „kriegsähnliche Zustände“ und „Gefallene“ Eingang in den offiziellen Sprachgebrauch gefunden haben.
Die Debatten seit 1990 bestätigen zudem, dass in Deutschland die Verständigung auf und die Wahrnehmung von nationalen Sicherheitsinteressen schwerer fällt als anderswo und – die Stichworte sind: Einsatz der Bundeswehr im Inneren, Geiselbefreiungen, Ausnahmezustand oder Definition des Verteidigungsfalls – sicherheitspolitische Fragestellungen nicht selten unter die Herrschaft des Verdachts gestellt werden. Als Beispiel dafür kann hier die erstmals im Weißbuch 2006 enthaltene Erwähnung der Sicherung der Seewege im Zusammenhang mit den nationalen Sicherheitsinteressen genannt werden, die im Jahre 2010 im Zusammenhang mit einem Interview des Bundespräsidenten Köhler zunächst zu intensiven Diskussionen und dann zu seinem Rücktritt geführt hat. Die naheliegende Frage, wie Deutschland als Mitglied in einem Seebündnis wie der Nordatlantischen Allianz überhaupt seine Interessen wahrnehmen wolle, wenn es dem Interesse der Sicherung der Seewege keine politische Priorität gäbe, wurde nicht gestellt.
Dabei gehört in jedem Land die Aufgabe, auf Fragen der Verteidigung die richtigen Antworten zu finden, zu den existentiellen und zu den weitreichendsten Aufgaben der Nation. Denn von der Gewährleistung der Sicherheit hängt die territoriale Integrität des Landes, der individuelle Schutz des Einzelnen gegen äußere und innere Bedrohungen, die internationale Stellung und der Wohlstand der Bürger ab. Die zentralen Fragen lauten: Was ist uns unsere Sicherheit wert? Was liegt in unserem nationalen Interesse? Wie können wir unsere Bündnisverpflichtungen am besten erfüllen? Und: Sind die Streitkräfte hinreichend an die Gesellschaft gebunden, sind sie richtig aufgestellt und mit den Mitteln ausgestattet, die sie zur Erfüllung ihres Auftrags benötigen? Als europäisches Hochtechnologieland mit herausragender Exportabhängigkeit ist gerade auch Deutschland in der Welt von heute auf vielfältige Weise verwundbar. Die Einsicht, dass keine Nation heute auf sich allein gestellt in einem immer komplexeren Umfeld ihre Sicherheit umfassend gewährleisten kann, hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie der jeweilige Nationalstaat das Konzept der Vernetzen Sicherheit begreift, umsetzt und dabei zu einem gemeinsamen Verständnis nationaler Sicherheit gelangt.
Mangelhafte Diskussionskultur
Anders als in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich oder in Frankreich gibt es in Deutschland bis heute kaum eine strategische Debattenkultur über die regelmäßig veröffentlichten sicherheitspolitischen Grundlagendokumente. So erfahren die seit 1969 erscheinenden Weißbücher zur Sicherheitspolitik Deutschlands, die den strategischen Rahmen für den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr sowie die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und die langfristigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland beschreiben, hierzulande keine breite Aufmerksamkeit, geschweige denn dass sie in der Öffentlichkeit eine echte Debatte auslösen.
Gleichwohl wirken sie dahingehend konsensstiftend, indem sie verbindlich für alle Folgearbeiten im Bereich der Sicherheitspolitik Orientierungspunkte setzen. Sowohl die Diskussion über vernetzte Sicherheit als auch die allmählich sich verfestigende Forderung nach einer neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zur Wahrnehmung einer größeren Verantwortung zeigen, dass der sicherheitspolitische Acquis auch durch die Grundsatzdokumente – namentlich Weißbuch 2006 und Verteidigungspolitische Richtlinien 2011 – verändert worden ist.
Die Bundeswehr erblickte das Licht der Welt in Gestalt eines eigenen Verteidigungsbeitrags im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses, und dieser Beitrag war vor allem anderen den Erfordernissen einer spezifischen weltpolitischen Situation geschuldet. Zum ersten Mal wurden in Deutschland Streitkräfte aufgebaut, die nicht an Traditionen älterer Truppenverbände anknüpfen konnten.
Politische Würdigung
Ein distanziertes, bisweilen auch misstrauisches, zumindest aber zurückhaltendes Verhältnis von Staat und Gesellschaft dem Militärischen gegenüber ist in Deutschland bis heute nicht gänzlich gewichen. Dies hängt erstens vor allem mit den Erfahrungen der Weimarer Republik zusammen, als die Reichswehr tendenziell einen Staat im Staate verkörperte und auf Distanz zur „Republik ohne Republikaner“ ging, und zweitens mit der Indienstnahme des Soldatischen und des nationalen Pathos in der nationalsozialistischen Zeit. Vielleicht war beides, der Anspruch der Bundeswehr, es besonders gut machen zu wollen und zugleich eine auferlegte Bescheidenheit als bewusstes Gegenmodell zum einst auftrumpfenden Militarismus eine daraus resultierende Folgerung, die es den deutschen Streitkräften erschwert hat, ganz in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.
Doch für die Bundeswehr als Armee im Einsatz gilt mehr denn je: Ihre Soldaten sind auf den Rückhalt der Gesellschaft angewiesen. Dies bringt es mit sich, dass die politischen Begründungen für Auslandseinsätze für den Staatsbürger so einleuchtend wie möglich formuliert werden, und dass das Besondere des soldatischen Dienens für die Gemeinschaft anerkannt wird. Die Soldaten können ihre Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie davon überzeugt sind, dass Staatsführung, Gesellschaft und öffentliche Meinung Streitkräfte als eine notwendige gesellschaftliche Funktion anerkennen.
Dies bringt es mit sich, dass sich die Gesellschaft gerade unter sich wandelnden Bedingungen mit den besonderen Problemen, mit den ethisch-moralischen Entscheidungssituationen, die aus dem Einsatz militärischer Gewalt erwachsen können, auch mit den physischen und psychischen Belastungen des Dienstes kontinuierlich auseinandersetzen muss. Denn je stärker der Rückhalt in der Gesellschaft ist, desto besser können die Angehörigen der Streitkräfte ihren anstrengenden und gefahrvollen Dienst ausüben.
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