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Titelthema

Die Nato, das sind wir alle

Titelthema - Die Nato, das sind wir alle
© Illustration: Klawe Rzeczy, Fotos: Multinational Corps Northeast/Heiko Müller, Bundeswehr/Marco Dorow, Nato (3), Library of Congress/Geography and Map Division

Landesverteidigung ist nicht nur eine Frage von Truppenstärke oder Munition. Sie ist Kopfsache und gesamtgesellschaftliche Aufgabe

01.04.2024

Abschreckung und Verteidigung: Seit zwei Jahren bestimmen diese Begriffe meinen Alltag als Kommandeur des Multinationalen Korps Nordost in Stettin. Im Jahr 2024 müssen wir ihre Bedeutung aber dringend weiterdenken: Nicht nur als Aufgabe für die Streitkräfte, sondern für jeden Einzelnen von uns. Abschreckung und Verteidigung sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben und müssen von der Gesellschaft mitgetragen werden. In den Nationen meines Verantwortungsbereichs ist dieses Bewusstsein fest in der Bevölkerung verankert. Wann beginnt es bei uns?

Bereits seit über zwei Jahren führt Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Die Lage an der Nordostflanke der Nato, dem Verantwortungsbereich des Multinationalen Korps Nordost, ist angespannt. Die Menschen in Estland, Lettland, Litauen und Polen fühlen sich von Russland in ihrer Sicherheit bedroht – und das zu Recht. Sie erwarten Schutz durch die Nato, das Verteidigungsbündnis, dem sie seit 20 beziehungsweise 25 Jahren angehören. Dieser Schutz ist mein Auftrag – und er ist unser Auftrag.

Diese Staaten, die ich seit dem 24. Februar 2022 auch als „Frontnationen“ ansehe, stehen geografisch und aus westlicher Sicht mit dem Rücken zur Ostsee und im Osten frontal zu Russland und Belarus. Militärisch betrachtet, fehlt es diesem Raum an operationeller und logistischer Tiefe: ein natürlicher Nachteil für uns, den potenziellen Verteidiger. Daher ist es essenziell, dass wir dort nicht alleine stehen.Der kanadische Chief of Defence stellte bereits 2022 fest: „The border to Russia and Belarus is our borderline of freedom.“ Seine Aussage fasst das zusammen, wofür die Nato steht: Kanada sieht die eigene Freiheit in einem kleinen Land, rund 9000 Kilometer entfernt, bedroht. Das ist das gegenseitige Versprechen, das uns Alliierte – nunmehr 32 Nationen – miteinander verbindet. Es ist festgehalten in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der besagt, dass ein Angriff auf einen von uns als Angriff auf alle gilt. Artikel 5 bildet das Rückgrat der Nato. Die Männer und Frauen des Multinationalen Korps Nordost, derzeit über 460 Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilisten aus 22 Nationen, arbeiten rund um die Uhr, um dieses Versprechen im Falle eines Angriffs zu wahren.

Entlang der gesamten Ostflanke hat die Nato nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ihre militärische Präsenz verstärkt. Auf dem Gipfel in Madrid 2022 haben die Staats- und Regierungschefs beschlossen, die sogenannten Battlegroups (multinationale Kampfverbände mit etwa 1500 Kräften) bis 2027 jeweils auf Brigadegröße anwachsen zu lassen (circa 4500 Kräfte). Diese verstärkte Präsenz erhöht zum einen unsere Einsatz-, also unsere Verteidigungsbereitschaft. Zum anderen erhöht sie die Abschreckung der Nato. Wir wissen, welche Verantwortung wir für die Menschen in Polen, Litauen, Lettland und Estland tragen. Ihre Sicherheit ist unsere Sicherheit. Die staatliche Souveränität der Verbündeten zu bewahren und die Freiheit ihrer Bürger zu schützen, ist der Auftrag unserer Allianz – und das seit 75 Jahren. Im Jubiläumsjahr 2024 kehrt die Nato wieder zurück zu ihrem Ursprungsgedanken.

Es braucht eine glaubhafte Abschreckung

Letztens sprachen wir im Korps über die Gründe, die Polen vor 25 Jahren zum Nato-Beitritt bewegten. Ein polnischer Kamerad sagte mir: „Wir traten bei, weil wir wussten, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist.“ Als Soldat kann ich dieser Aussage nur zustimmen. Doch was heißt das für uns? Es bedeutet, dass wir im Verteidigungsfall unser Leben dafür einsetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in Frieden und Freiheit leben können. Diese Bereitschaft bildet den Kern des Soldatenberufs. Er ist mir nicht erst seit meinen Erfahrungen in Afghanistan immer vor Augen. Aber er hat infolge des Kriegs gegen die Ukraine und die Bedrohung auch unserer Freiheit durch Russland eine neue Aktualität gewonnen. Dieser Aspekt wird oft vergessen, wenn sich die nationale Debatte um Begriffe wie „Kriegstüchtigkeit“ dreht. Aus meiner persönlichen Sicht wird diese Diskussion oftmals schrill geführt und endet in einer Nabelschau, während in der Ukraine ein Verteidigungskampf um das Überleben eines Staates geführt wird. Heute, und davon bin ich überzeugt, gäbe es eine freie Ukraine nicht mehr, wären ihre Soldatinnen und Soldaten nicht kriegstüchtig gewesen.

Dieser Begriff ist Teil einer Gleichung: Zur Kriegstüchtigkeit gehören untrennbar Durchsetzungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit und die Fähigkeit zu siegen. Nur wenn diese vier Parameter im Einklang sind, können wir Abschreckung glaubhaft projizieren. Werden unsere Fähigkeiten und unser Wille in Moskau erkannt, wird kein Angriffsbefehl aus dem Kreml erfolgen. Davon bin ich überzeugt. Bereits parallel zum Krieg gegen die Ukraine baut Russland seine militärischen Fähigkeiten signifikant aus und hat das Ziel, in bis zu zehn Jahren 1,5 Millionen Soldatinnen und Soldaten einsatzbereit zu haben. Es wäre aber ein Fehler, daraus zu folgern, dass die Nato jetzt zehn Jahre Zeit hat, bis Russland eine ernst zu nehmende Bedrohung darstellt. In meiner Bewertung ist Putin bereits heute in der Lage, rasch genug Kräfte zusammenzuziehen, um uns anzugreifen. Aus diesem Grund müssen wir jetzt verteidigungsbereit sein. Wir müssen jetzt kämpfen können – mit dem, was wir zur Verfügung haben. Als Kommandeur des Multinationalen Korps Nordost weiß ich: Das können wir!

Alle müssen mithelfen, auch wir Rotarier

Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Führungskultur innerhalb der Bundeswehr, die unsere Soldatinnen und Soldaten, ihre Fähigkeiten und Ausstattung in den Mittelpunkt stellen muss. Wir, die Generalität der Bundeswehr, sind gefordert, so zu führen, dass unsere Männer und Frauen auch in jeder Phase – Frieden, Krise und Krieg – Vertrauen in uns haben. Das ist der politische Auftrag an die militärische Führung der Streitkräfte. Auch wir müssen „kriegstüchtig“ sein – in Körper und Geist. Eine Verteidigung ist nur so standhaft wie die Gesellschaften, die sie schützt. Damit wird sie zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Aus diesem Grund bin ich dem Bundesminister der Verteidigung dankbar, dass er die seit ihrer Abschaffung wiederkehrende Debatte um die Wehrpflicht als Erster mit Substanz füllt. Richtig implementiert, kann ein Dienst der Menschen für und an ihrem Land dazu führen, dass wir als Gesellschaft angesichts einer Bedrohung für die Freiheit aller unseren Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten. Es kommt dabei auf jeden und jede von uns an. Sei es der Dienst an der Waffe, im zivilen Bereich, beim Katastrophenschutz oder den Rettungsdiensten – wir alle müssen unseren Beitrag leisten, auch wir als Rotarier.

Diese gesamtgesellschaftliche Verantwortung für unsere Verteidigungsbereitschaft bedeutet für mich: Wir alle sind Teil der Nato, sie ist keine anonyme Institution. Wenn Artikel 5 das Rückgrat der Nato ist, bilden unsere Gesellschaften das Rückgrat von Artikel 5.

Jürgen-Joachim von Sandrart


Zur Person

Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, RC Stade, trägt als Kommandeur des Multinationalen Korps Nordost in Stettin die Verantwortung für die Sicherheit der baltischen Staaten sowie den Norden Polens.


Vergleich der militärischen Kraft (2023) 

Personal
Streitkräfte insgesamt
Nato: 5.817.100
Russland: 1.330.900

Aktive Soldaten
Nato: 3.358.000
Russland: 830.900

Reservekräfte
Nato: 1.720.700
Russland: 250.000

Luftwaffe
Flugzeuge insgesamt
Nato: 20.633
Russland: 4182

Bodenkampffahrzeuge
Kampfpanzer
Nato: 12.408
Russland: 12.566

Seestreitkräfte
Militärschiffe insgesamt
Nato: 2151
Russland: 598

Nuklearwaffen
Nukleare Sprengköpfe
Nato: 5943
Russland: 5977

Quelle: Statista 2024