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Titelthema

Die liberale Wirtschaftsordnung und ihre Feinde

Obwohl die freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den höchsten Wohlstand schuf, den die Menschheit je gesehen hat, wird sie heute offen infrage gestell

Thomas Mayer01.09.2017

Wer sich heute zum Liberalismus bekennt, braucht ein dickes Fell. In unserer sozialdemokratisierten Gesellschaft qualifiziert er sich schnell für die Liste der „gefährlichen Bürger“, wenn er dem „liberal“ kein „sozial“ voranstellt. Denn für diese Gesellschaft ist es eine ausgemachte Sache, dass ein klassischer Liberaler politisch „rechts“ steht. Wem das nicht reicht, dem wird beigebracht, dass der „Neoliberalismus“ an der Finanzkrise schuld war. Dabei war es gerade die Verletzung klassischer liberaler Prinzipien, die der Krise den Weg bereiteten und zum Aufstieg linker und rechter Populisten führte. Solange wir das nicht begreifen, ist nicht nur unsere freiheitlich Gesellschaftsordnung, sondern auch unser wirtschaftlicher Wohlstand gefährdet.

 

Die Freiheit des Einzelnen

Der liberale Rechtsstaat stellt höchste Ansprüche an die Mündigkeit einer Gesellschaft. Sie muss sich darauf einigen können, dass die Freiheit des Einzelnen über der Durchsetzung der von einer Mehrheit in der Gesellschaft verfolgten Ziele steht, auch wenn diese Mehrheit demokratisch legitimiert ist. Freiheit ist definiert als die Abwesenheit der Ausübung von Zwang des Einen über den Anderen. Laut Friedrich von Hayek kann sich die offene Gesellschaft selbst keine Ziele setzen, sondern muss Regeln entwickeln, welche dem Einzelnen die größtmögliche Freiheit zur Entfaltung seiner Fähigkeiten geben. Regeln setzen der Freiheit des Einen nur dort Grenzen, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Regeln setzen auch einer demokratisch gewählten Regierung Grenzen. Ohne diese Beschränkung würde der Unterschied zwischen der Demokratie und der Diktatur nur darin bestehen, dass in der Demokratie die Mehrheit statt einer Minderheit totale Macht ausübt. Deshalb kann der liberale Rechtsstaat niemals seinen Bürgern die von Regierenden oder einflussreichen Interessenverbänden geprägten Vorstellungen von „sozialer Gerechtigkeit“ aufzwingen, sondern er kann seine erfolgreicheren Bürger allenfalls zur Hilfe für ihre ohne eigenes Verschulden in Not geratenen Mitbürger verpflichten.

Die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs entstehen im liberalen Rechtsstaat durch Versuch und Irrtum im Zeitverlauf, so dass die Komplexität des gesamten Regelwerks die Fähigkeit eines einzelnen Verstands übersteigt, es zu konstruieren. Weder der Gesetzgeber noch der urteilende Richter erschaffen die gesellschaftlichen Regeln. Vielmehr spüren sie die im gesellschaftlichen Umgang entstandenen Regeln auf und formulieren sie oder wenden sie auf konkrete Fragestellungen an. Freiheit schaffende Regeln sind abstrakt, von allgemeiner Natur und meist als Verbote formuliert. Der auf Regeln fußende liberale Rechtsstaat, der die Verfolgung konkreter Zwecke allein seinen Mitgliedern überlässt, hat es schwer, Herzen zu wärmen. Er muss sich auf die Intelligenz der Bürger verlassen, seine Vorzüge zu erkennen.

 

Die Logik der Stammesgesellschaft

Ganz anders ist die aus der Familie kommende und dem liberalen Rechtsstaat vorhergehende Stammesgesellschaft aufgestellt. Sie ist hierarchisch zu dem Zweck organisiert, den Stamm zu erhalten und sein Wachstum zu fördern. Die Führung der Stammesgesellschaft kann religiös, durch Erbfolge oder demokratisch legitimiert sein, oder ihren Machtanspruch gewaltsam durchsetzen. In jedem Fall verpflichtet sie die Gesellschaftsmitglieder zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke, die sie zwar als „Volkswillen“ ausgeben mag, aber in Wahrheit in der Regel selbst definiert. Zur Motivation ihrer Mitglieder appelliert sie an die gesellschaftliche „Solidarität“ und verteufelt die Verfolgung individueller Interessen. Während privates Eigentum im liberalen Rechtsstaat Freiheit für den Einzelnen schafft, kann in der Stammesgesellschaft der Anführer zur Erreichung gemeinsamer Zwecke darüber verfügen. In einer Zeit, in der sich die Familienbande immer weiter lösen, weckt die Stammesgesellschaft in vielen Bürgern die Erinnerung an eine längst verlorene Heimat. Dagegen erscheint ihnen der liberale Rechtsstaat als kalt und herzlos und wird nur hingenommen, so lange er sichtbare wirtschaftliche Erfolge bringt.

Der Erfolg der Stammesgesellschaft oder ihres Nachfolgers, der Großorganisation, wird wesentlich von der Klugheit ihrer Anführer bestimmt. Doch können Einzelne nie so klug sein wie die Gesamtheit freier Individuen. Eben deshalb hat die freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den höchsten Wohlstand gebracht, den die Menschheit je gesehen hat. Der Wirtschaftshistoriker Angus Maddison hat den Anstieg des britischen realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf von Christi Geburt bis 1650, dem Beginn des Aufstiegs des Liberalismus, auf gut 50 Prozent taxiert. In den 360 Jahren danach stieg das reale BIP pro Kopf dann um rund 2470 Prozent.

Nachkriegsdeutschland erhielt den liberalen Rechtsstaat von den Siegermächten geschenkt. Ohne die Unterstützung von Lucius Clay, des Militärgouverneurs der amerikanischen Besatzungszone, hätte Ludwig Erhard niemals im Juni 1948 mit der Einführung der D-Mark die Preise freigeben und damit den Grundstein für eine liberale Wirtschaftsordnung legen können. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 hatte es zur Neuordnung der Wirtschaft noch geheißen: „Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“ Die von Erhard durchgesetzte liberale Wirtschaftsordnung, die wegen der Absicherung von unverschuldet in Not geratenen Mitbürgern „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde, läutete die Zeit des deutschen „Wirtschaftswunders“ ein. Von Anfang der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre wuchs das westdeutsche Bruttosozialprodukt pro Kopf in realen Größen gerechnet um knapp 6 Prozent pro Jahr. 

Doch mit zunehmendem Wohlstand wuchs auch die Unzufriedenheit mit einer als verkrustet empfundenen bürgerlichen Gesellschaftsordnung und damit der liberalen Wirtschaftsordnung. Die Studentenbewegung von 1968 probte die Rückkehr zu den Prinzipien der Stammesgesellschaft. Inspiriert wurde sie von den Theorien Sigmund Freuds, der in den bürgerlichen Konventionen eine im Unbewussten verankerte Quelle psychischer Störungen sah, und von Karl Marx, der die liberale Wirtschaftsordnung als Instrument der Ausbeutung der Besitzlosen durch die besitzende Klasse denunzierte. Mit der Studentenbewegung wurde eine konstruktivistische Sicht auf die Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft salonfähig und gewann in der Wirtschaftspolitik die Oberhand. Die Blaupause dafür lieferte John Maynard Keynes, der Mitte der dreißiger Jahre die Feinsteuerung der Wirtschaft durch den Staat propagiert hatte. Keynes schien damit den Schlüssel zu einem von Rezessionen unbeeinträchtigten stetigen Wachstum der Wirtschaft gefunden zu haben. Doch mit der Popularität Keynesianischer Politik wuchs auch der Staat, bis er so übermächtig wurde, dass er das Wachstum erdrosselte. Im Verlauf der siebziger Jahre kam es zum Keynesianischen Overkill in Form von Inflation ohne Wachstum, was die Wortschöpfung „Stagflation“ hervorbrachte.

Die Misere brachte Anfang der achtziger Jahre neue Politiker mit dezidiert liberalen Ansichten auf den Plan – in den USA Ronald Reagan und in Großbritannien Margret Thatcher –, die auch in Deutschland Widerhall fanden. Ende 1982 forderte Otto Graf Lambsdorff in seinem Wendepapier die Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prinzipien und stürzte die sozial-liberale Koalition. In den achtziger Jahren wurde der Staat zurückgestutzt, indem Steuern gesenkt und Regulierungen abgebaut wurden. Von diesen Fesseln befreit, erholte sich die Wirtschaft. Das Wachstum stieg und die Inflation fiel.

Viele Wähler fanden die mit individueller Freiheit verbundene Eigenverantwortung jedoch als bedrohlich, als es ihnen gegen Ende der achtziger Jahre wieder besser ging. Eine Rückkehr in die Staatswirtschaft der siebziger Jahre war allerdings unerwünscht, da die Erinnerungen an die damalige Misere noch frisch waren. Dies brachte findige Politikberater und Politiker auf die Idee, einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und dem durch den Liberalismus ermöglichten Kapitalismus vorzuschlagen. Die Wirtschaft sollte sich frei entfalten können, solange alles gut ging, aber der Staat sollte schützend eingreifen, wenn Rückschläge drohten. Der Dritte Weg, für den in den USA Bill Clinton und in Großbritannien Tony Blair standen, sollte die beste aller Welten schaffen: Wachstum wie im Kapitalismus und Absicherung wie im Sozialismus.

 

Fatale dritte Wege

Doch die Entkoppelung von Freiheit und Verantwortung führte zur Überwälzung der Kosten individuellen Handelns auf die Allgemeinheit. Besonders krass wurde dies im Finanzbereich praktiziert, wo im Aufschwung der Märkte die Gewinne von den Akteuren eingestrichen und in der Finanzkrise die Verluste an die Allgemeinheit weitergereicht werden konnten. Gelernt wurde daraus leider nichts. Statt die fatalen Folgen der organisierten Verantwortungslosigkeit des Dritten Wegs zu erkennen, halten viele Leute den „Neoliberalismus“ für den Schuldigen. Folglich suchen sie nun wieder das Heil in einem stärkeren Staat, der sie beschützt und ihnen die Richtung weist. Damit geben sie nachträglich Friedrich von Hayek Recht, der Anfang der achtziger Jahre meinte, dass diejenigen den Trend zum Sozialismus am meisten stärkten, die behaupteten, dass sie weder den Kapitalismus noch den Sozialismus, sondern einen Dritten Weg gehen wollten.

Heute ist die liberale Wirtschaftsordnung von zwei Seiten unter Beschuss. Die politische Rechte will die Rückkehr zur im Nationalstaat organisierten Stammesgesellschaft, mit „America first“ oder „wir sind das Volk“ als Schlachtruf. Und die Linke will den zentral organisierten ökologischen Wohlfahrtsstaat, mit Umverteilung, offenen Grenzen und Diesel-Verbot. Es scheint, dass es uns wieder einmal zu gut geht, um die liberale Wirtschaftsordnung zu schätzen. Die kalte Dusche ist nur noch eine Frage der Zeit.

Thomas Mayer

Thomas Mayer war bis 2012 Chefvolkswirt der Deutschen Bank und ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Die neue Ordnung des Geldes“ (FinanzBuch Verlag, 2014) und „Die neue Kunst, Geld anzulegen: Mit Austrian Finance zu einem besseren Portfoliomanagement“ (FinanzBuch Verlag, 2016).

 

 

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