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Die Welt im Umbruch
Lange gaben die USA die Spielregeln im globalen Handel vor, ehe China im Eiltempo vorbeizog. Wie sollte sich Europa vor diesem Hintergrund positionieren?
Die Welt steht im Prozess einer Neuordnung. Es ist die größte Veränderung bezüglich Amplitude und Tempo seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die durch die USA determinierte Ordnung wurde unter anderem in Bretton Woods 1944 mit der Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) kreiert. Das Organigramm auch mit der Welthandelsorganisation (WTO) war Ausdruck des westlichen, primär aber des US-Führungsanspruchs, der durch die dominierende Rolle der USA in der Weltwirtschaft, im Finanzwesen, in der Spionage und im militärischen Sektor eine solide Basis bis circa 1995 fand.
Die Vielzahl der aktuellen weltweiten Konflikte, die zumeist als isolierte Problemherde medial und politisch im Westen definiert und unzulänglich verarbeitet werden, können nur im Kontext der sportlichen Machtachsenverschiebung verstanden, interpretiert und ausgewertet werden. Das findet nicht im erforderlichen Maße statt. Was durchaus auch von Seiten westlicher Eliten gewünscht sein mag.
Irritierend ambitionslos
Die der Veränderung der Machtachsen innewohnenden ausgeprägten Risiken sind gleichzeitig nennenswerte Chancen, wenn man sie erkennen und nutzen will. Bisher lag der Fokus im Westen, allen voran in Europa, auf Risikoerkennung, aber nicht auf Chancennutzung. Das ist unter intellektuellen Gesichtspunkten irritierend ambitionslos, da mit dieser Fehlleistung das Wohlstandspotenzial und der Friedensstatus der derzeitigen, aber wesentlicher der kommenden Generationen erheblich beeinträchtigt wird.
Der entscheidende Zeitpunkt für den dynamischen Umbruch war der Fall des Kommunismus um das Jahr 1990. Bis dahin war die Welt geteilt mit klar definierten Machtansprüchen durch Moskau und Washington. Jedoch seit der Öffnung Chinas in den 1970er Jahren, unter anderem unter Deng Xiaoping (ab 1979), baute sich losgelöst von den bekannten Blöcken ein neues politisches und wirtschaftliches Zentrum zunächst weitgehend unbemerkt auf. Ein deutscher Konzern war seinerzeit in der Bewertung, die Chancen nicht ausblendend, intellektuell auf der Höhe. Volkswagen richtete sich bereits 1978 in Richtung China aus und profitiert davon bis heute wie kein anderer Automobilkonzern. Das Leben bestraft eben nur denjenigen, der zu spät kommt.
1990 stellte der Westen circa 80 Prozent der Weltwirtschaft. Entwicklungsländer und aufstrebende Länder brachten es auf rund 20 Prozent. Ende dieses Jahres werden die westlichen Länder nur noch für 35 Prozent der Weltwirtschaftsleistung stehen. Die sich entwickelnden und aufstrebenden Länder werden dann circa 65 Prozent stellen. Diese Veränderung in einem Zeitfenster nur einer Generation ist brachial.
Mehr noch wachsen diese Länder pro Jahr um vier bis fünf Prozent, während der Westen lediglich um 1,5 bis 2,5 Prozent zulegt. Absehbar stehen die sich entwickelnden Länder für mehr als 70 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Perspektivisch bestimmen immer stärker die sich entwickelnden und aufstrebenden Länder das Geschehen in der Weltwirtschaft. Der Westen mutierte und mutiert in der Folge vom Taktgeber zum Taktnehmer des globalen Konjunkturzyklus.
Chinas Aufstieg ist dabei hervorstechend. Kein Land hat den Übergang vom Entwicklungsland zum neu industrialisierten Land so schnell und so unfallfrei bewerkstelligt. Chinas Anteil an der Weltwirtschaft hat sich in dieser Phase zunächst von 1980 bis 1990 von zwei auf gut vier Prozent mehr als verdoppelt, um 2019 bei circa 19 Prozent zu stehen. Um die Bedeutung dieser Dynamik hervorzuheben, muss der Blick in Richtung des westlichen Hegemon USA gehen. Der Anteil der USA ist seit 1980 von circa 25 Prozent auf 15 Prozent per 2019 gesunken.
Diese Verschiebung der ökonomischen Machtachse zulasten der Vereinigten Staaten und zulasten des Westens ist massiv und muss den Führungsanspruch, den der Westen erhebt, infrage stellen.
Aber auch die finanzökonomische Machtachse hat sich drastisch verändert. So stellen die aufstrebenden Länder nicht nur etwa 65 Prozent der Weltwirtschaft, sondern sie kontrollieren auch rund 70 Prozent der Weltdevisenreserven. Ergo verändert sich auch die finanzielle Machtachse zugunsten dieser Länder. Der Blick auf die Anteile an der Weltbevölkerung arrondiert das Bild. Die sich entwickelnden und aufstrebenden Länder stellen circa 88 Prozent der Weltbevölkerung. Der Westen bringt lediglich noch zwölf Prozent auf die Waage.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die westliche Dominanz perspektivisch bezüglich der dramatisch veränderten Machtachsen nicht zukunftsfähig ist. Der Unilateralismus, gelebt durch die USA, wird einem Multilateralismus weichen. Die Frage ist nicht ob, sondern sie lautet wann und wie. Wie viele weitere Kollateralschäden sind erträglich, bis der Westen sich dieser Realität stellt?
Selbstüberschätzung und Scheitern
Das westliche Selbstverständnis und das westliche Werteverständnis, das politisch nach außen und innen lautstark produziert wird, sind von Fakten (Regime-Change, Guantanamo, asymmetrische Anwendung des internationalen Rechts, US-Abwendung von der regelbasierten globalen Ordnung) längst entkernt. Ein derartiges Selbstbild kann von Dritten durchaus als Selbstüberschätzung wahrgenommen werden. Historisch betrachtet ist Hybris häufig die Grundlage des Scheiterns politischer Systeme.
Zunächst stellt sich die Frage, ob einer finanzökonomischen Machtachsenverschiebung eine Anpassung der politischen Machtachse folgen muss. Wer die anekdotische Evidenz der Historie bemüht, stellt fest, dass diese Anpassung zwingend ist. Bei nicht evolutionärer Anpassung an die finanzökonomische Realität folgte häufig Krieg als revolutionäre Variante, um die politische Machtfrage zu klären. Große Kriege sind wegen des mehrfachen globalen Vernichtungspotenzials kaum opportun. Der Blick auf die aktuelle Weltkarte verrät, dass sowohl Stellvertreterkriege, Wirtschafts- und Finanzkriege als auch Regime-Change-Politik das Bild durch Aktionen des Westens bestimmen.
Eingangs forderte ich implizit dazu auf, die Komplexität der Ereignisse zu durchschauen und sich nicht auf isolierte Betrachtungsweisen einzulassen. Es geht um Mustererkennung. Derjenige, der auf der finanzökonomischen Achse Verlierer ist, bemüht häufig asymmetrische Mittel, um sich die Vorteile der Dominanz weiter zu sichern. Der, zu dessen Gunsten sich die finanzökonomische Machtachse wendet, versucht sich dieser Asymmetrie zu entziehen, da der Faktor Zeit zu seinen Gunsten ausfällt. Unter Anwendung dieses Prismas ist wer der Aggressor?
Der Westen hat den führenden Ländern latent verstärkte Teilnahme im westlichen Organigramm versprochen, ohne nachhaltig zu liefern. China hat dieses zunehmende Manko zeitig erkannt und als Konsequenz eigene Strukturen für die sich entwickelnden und aufstrebenden Länder geschaffen. So wurde die New Development Bank als Alternative zum IWF etabliert. Es wurde die Asian Infrastructure Investment Bank als Alternative zur Weltbank gegründet. Alternativen zum globalen SWIFT-Zahlungssystem, das die USA gegen einzelne aufstrebende Länder missbrauchten, wurden längst ins Leben gerufen, unter anderem 2015 das China International Payments System (CIPS). Die aufstrebenden Länder haben sich eine eigene Struktur aufgebaut. Sie haben sich damit von der westlichen Dominanz strukturell emanzipiert.
Chinas Antwort auf westliche Fehler
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Westen mit seinen Institutionen Zeit, die Entwicklungsländer und die aufstrebenden Länder mit ihrem Organigramm des IWF und der Weltbank zu entwickeln. Das wurde nur an einzelnen Punkten, wo westliche Wirtschaftsinteressen oder geopolitische Interessen dazu zwangen, umgesetzt, nie in Breite, nie in Tiefe. Gerne bediente man sich bei politischen Interessen und Wirtschaftsinteressen in Drittländern autoritärer Regierungen. Im Iran brachten die USA 1953 sogar eine Demokratie zu Fall, um ihre Interessen unter dem Schah von Persien besser gewährleistet zu sehen. Das westliche Organigramm war nicht auf das Wohl aller Länder kapriziert, sondern auf westliche Interessen und westliches Wohl. Es war partiell Politik gegen diese Länder.
In China weiß man, dass nachhaltige Entwicklungen Strukturen voraussetzen, allen voran Infrastruktur. Ohne effiziente Infrastruktur lässt sich kein Wirtschaftsraum entwickeln. Das Projekt „One Belt – One Road“, die Seidenstraße, gehört dazu, und ist die Antwort Chinas auf die Fehler des Westens. Es erschließt Länder und liefert die Grundlagen für nachhaltige wirtschaftliche und in der Folge gesellschaftspolitische Entwicklungen in diesen Ländern. Damit werden der Armutsmigration perspektivisch die Grundlagen entzogen. Mit diesem Projekt bietet China eine Alternative zum Westen im Umgang mit der Welt an. Das Echo, das China erfährt, ist in den Entwicklungsländern und aufstrebenden Ländern grundsätzlich positiv. Wenn China beispielsweise zu einem „Africa Summit“ Einladungen verschickt, sind alle Länder vor Ort in Peking. Wie sieht das in Berlin oder Brüssel aus?
Kalte Machtpolitik?
Im Westen wird häufig Kritik an China laut. „One Belt – One Road“ sei kalte Machtpolitik. In der Tat ist Wirtschaftspolitik immer auch Machtpolitik. Exportiert China aber sein politisches System, wie es der Westen auch über blutige Re gimeChange-Politik versucht? Oder macht China einfach nur Wirtschaftsprojekte? Letzteres ist der Fall. Deswegen erfährt China eine weit bessere Resonanz als der Westen im Sektor der aufstrebenden und sich entwickelnden Länder.
Wo will, nein, wo muss sich Kontinentaleuropa aufstellen, um für kommende Generationen in unserer Region, die stark exportabhängig ist, Zukunftsfähigkeit zu generieren? Im Bestandsmarkt des Westens oder im Wachstumsmarkt der sich entwickelnden und aufstrebenden Länder?
Seit gut 18 Monaten belastet der US-Handelskrieg mit Peking, in dem die USA das internationale Regelwerk umfänglich ignorieren, sowohl die Weltwirtschaft als auch die Finanzmärkte. Die Kosten dieser US-Extravaganz außerhalb des Regelwerks liegen bisher bei circa 0,5 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Der Konflikt hat sich im Zeitverlauf latent verschärft. Die Kosten dieses Konflikts fallen maßgeblich zulasten des Standorts USA an, da die Importe in Höhe von gut 500 Milliarden Dollar in die USA eben mit Zöllen belegt werden, die der US-Staat einnimmt und die US-Unternehmen und US-Verbraucher zu zahlen haben. Diese erhöhten Kosten verringern die Attraktivität des US-Investitionsstandorts quantitativ. Es gibt im Rahmen der US-Sanktionspolitik gegen Länder und Unternehmen aber auch eine qualitative Ebene. Wie sicher sind die Zulieferketten der US-Unternehmen vor dem Hintergrund einer willkürlichen Sanktionspolitik? Wie sicher sind die Absatzmärkte der Unternehmen, die in den USA produzieren? Kann ein Vorstand guten Gewissens vor diesem faktischen Hintergrund Investitionen in den Standort USA verantworten?
Das Narrativ Trumps, dass für die USA mit 15,2 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft Handelskriege leicht zu gewinnen wären, mag für wirtschaftlich kleine Länder wie Kanada oder Mexiko oder perspektivisch Großbritannien gelten. Es gilt nicht für China mit 18,7 Prozent Anteil am Welt-BIP und es gilt hoffentlich auch nicht für die EU mit einem Anteil von 16,3 Prozent an der Weltwirtschaft (ohne Großbritannien 14,0 Prozent).