Über die Rolle der Telekommunikation in der Industrie 4.0 und in der Ökonomie des Teilens
Die zweite Halbzeit der Digitalisierung
Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Alles, was vernetzt werden kann, wird vernetzt. Alles, was geteilt werden kann, wird geteilt. In diesen drei Sätzen ist zusammengefasst, was die Grundlage für die vierte industrielle Revolution ist, die wir derzeit erleben – die sogenannte Industrie 4.0. Eine Revolution, die umfassender ist als die ersten drei Revolutionen, die wir erlebt haben: die Erfindung der Dampfmaschine, die Produktion am Fließband und der Einzug des Computers in die Unternehmen.
Die Industrie 4.0 ist letztlich nichts anderes als die zweite Halbzeit der Digitalisierung. In der ersten Halbzeit ging es vor allem um das sogenannte kommerzielle Internet. Und diese Halbzeit haben wir in Europa krachend verloren. Google verzeichnet zwei Millionen Suchanfragen pro Minute, Facebook im gleichen Zeitraum 1,8 Millionen Likes. Bei Twitter erleben wir 300.000 Tweets, und Amazon setzt bis zu 25.000 Waren pro Minute ab. Die Dynamik ist enorm. Amazon wurde 1995 gegründet, Google 1998, Facebook 2004. Das iPhone gibt es erst seit 2007. Unternehmen, die nur wenige Jahre alt sind, haben das kommerzielle Internet quasi unter sich aufgeteilt: den Werbemarkt, Handelsplattformen, aber auch leicht digitalisierbare Industrien wie die Musikbranche, etwa mit iTunes.
VERLÄNGERUNG DES CYBERRAUMS IN DIE REALE WELT
In der zweiten Halbzeit der Digitalisierung geht es nicht mehr nur um das kommerzielle, sondern um das industrielle Internet, die Produktion und Logistik. Es geht um die Verlängerung des Cyberraums in die reale Welt. Künftig werden fast alle Geräte, Maschinen und andere Objekte vernetzt. Sie erhalten eine eigene IP-Adresse und sind damit Teil des Internets. 50 Mrd. Geräte bis 2020, schätzt das Unternehmen Cisco. Möglich wird dies mit dem Internet-Protokoll 6, der lingua franca des Internets, das den Adressraum von 4,3 Mrd. auf 340 Sextillionen (38 Nullen) erweitert. Zusätzlich werden die Geräte mit Sensoren ausgestattet: den Sinnesorganen der Computer. Sie wandeln Messwerte wie Temperatur, Druck oder Geräusche in digitale Daten um, die dann versendet werden – meistens mobil. Und diese Daten werden analysiert und ermöglichen die Selbststeuerung von Maschinen, die Geräte werden zu Aktoren.
Außerdem helfen die Daten den Unternehmen, ihre Kunden immer besser kennenzulernen und ihnen immer bessere, individualisierte Produkte anbieten zu können. Obendrein können zusätzliche Produkte und Dienstleistungen angeboten werden, beispielsweise ein personalisiertes Gesundheitsmanagement auf Basis von Vitaldaten, die über ein Fitnessarmband übertragen werden. Oder ein Energiemanagement sowie die Fernsteuerung von Heizung und anderen Anlagen im Haushalt.
Wenn wir über die Digitalisierung der Industrie sprechen, geht es um den Kern unserer Wirtschaft, etwa um Deutschland als „Ausrüster der Welt“. Es wird schon sehr bald kaum einen Wirtschaftszweig mehr geben, der sich der Kraft der Digitalisierung entziehen kann. Darum müssen wir aufpassen, dass unsere Unternehmen nicht Chancen verpassen, während die Kunden anderswo zugreifen. Ich gehe zum Beispiel davon aus, dass das selbstfahrende Auto sehr viel schneller kommt als wir bislang denken. Was bedeutet das für Berufskraftfahrer? Was bedeutet es aber vor allem, wenn nicht Europa, sondern jemand anderes diese Autos baut? Unternehmen aus dem Silicon Valley? So oder so wird sich die Frage stellen, wofür die Kunden bereit sind, Geld auszugeben. Das Auto an sich – oder die Service-Plattform, die sich darum entwickelt? Mit Navigation, Entertainment oder automatischer Buchung des Restaurants am Zielort?
GRUNDLAGEN KÜNFTIGER GESCHÄFTSMODELLE
Deutschland ist der Weltmarktführer bei Egineering und Produktion von komplexen Produkten wie Fahrzeugen, Werkzeugmaschinen, Medizingeräten und Haustechnik. Unsere Leitindustrien haben sich eine gute Ausgangsposition erarbeitet und können auch die digitale Führung übernehmen. Der Branchen- » Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Chancen verpassen, bei denen andere selbstverständlich zugreifen werden « verband Bitkom hat errechnet, dass es in Deutschland durch Digitalisierung allein im Jahr 2012 einen Wachstumsimpuls von rund 145 Milliarden Euro gegeben hat. Der Export legte dadurch um 49 Milliarden Euro zu. Rund 1,46 Millionen Jobs beruhen direkt auf der Digitalisierung – vier Prozent aller Beschäftigten. Um in der zweiten Halbzeit auf Sieg zu spielen, wird es darauf ankommen, die Rahmenbedingungen richtig zu setzen. Vier Dinge sind besonders wichtig:
1. Unser Vorgehen muss sich ableiten aus den Geschäftsmodellen der Internetgiganten. Dafür müssen wir diese Modelle ausreichend verstehen.
2. Offene Plattformen sind ein Weg, Wertschöpfung in Europa zu halten. Unternehmen müssen dazu ihre Silos überwinden. Unternehmensintern, aber auch extern. Sie müssen mit Partnern zusammenarbeiten.
3. Daten sind der Rohstoff der digitalen Ökonomie. Deshalb müssen wir lernen, diese Datenmengen zu beherrschen und zu nutzen. Und zwar für die Menschen, nicht gegen sie.
4. Die Regulierung ist noch zu analog. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die zur digitalen Dynamik passen. Und die gleichzeitig unserem Verständnis von Bürgerrechten und Privatsphäre entsprechen.
Die Internetunternehmen schaffen Dienste, die vor allem darauf ausgelegt sind, möglichst schnell möglichst groß zu werden. Darum sind ihre Angebote meistens kostenlos. Die Breite der Nutzerbasis sorgt dafür, dass schnell viele Nutzerdaten anfallen. Diese werden in der Regel durch Werbung, aber auch durch Weiterverkauf, zu Geld gemacht. Außerdem werden sie dazu genutzt, das eigene Produkt zu verbessern. Im nächsten Schritt findet dann ein „lockin“ der Kunden statt; der Wechsel zu anderen Anbietern wird erschwert. Klassisches Beispiel ist die iTunes- Bibliothek oder der Kindle von Amazon. Einmal gekaufte Inhalte lassen sich nur sehr schwer – oder gar nicht – auf ein anderes System übertragen. Je größer das Netzwerk, desto mehr findet eine De-facto- Standardsetzung statt. Diese Standards sind hoch produktiv, weil kein Wettbewerb mehr stattfindet. Internetmärkte sind „Winner-takes-it-all-Märkte“, ausgelöst durch den Netzwerkeffekt, bei dem ein Dienst umso interessanter für den Kunden wird, je mehr User diesen Dienst ebenfalls nutzen.
Welche Gegenstrategien leiten sich aus diesem Vorgehen der Internetgiganten ab? Eine Möglichkeit wäre, das beschriebene Modell zu kopieren und selbst geschlossene Standards zu setzen. Aufgrund bereits bestehender Ökosysteme scheint dieses Vorgehen wenig erfolgversprechend. Im Bereich der Betriebssysteme für mobile Endgeräte etwa ist der Versuch, mit Firefox eine Alternative zu Apples iOS und Googles Android zu etablieren, bislang wenig erfolgreich gewesen. Der zweite und womöglich klügere Weg ist daher, mit industrieübergreifenden, offenen Standards schnell Größe zu erreichen. Das setzt voraus, dass die bislang vor allem vertikal integrierten Unternehmen sich öffnen und zu einer horizontalen Integration aller Dienste gelangen. Wie erfolgreich offene Plattformen sein können, zeigt sich beim „Tolino“. Dieser E-Book-Reader hat auf einem bereits besetzen Markt 35 Prozent Marktanteil erreicht und ist in Deutschland mit dem Kindle gleichgezogen. Der Tolino unterstützt gleich mehrere offene Standards. Einmal gekaufte Bücher können problemlos auch auf andere Geräte übertragen werden.
ÖKONOMIE DES TEILENS
Eine neue Herausforderung wird zudem sein, dass Produkte nicht mehr nur gekauft werden, sondern ihre Nutzung „as a service“ nachgefragt wird. Beschrieben wird dieses Phänomen als die „Ökonomie des Teilens“. Teilen ist sozusagen das neue Haben. Der Fahrdienst Uber wickelt allein in London eine Million Fahrten pro Monat ab. Die Zimmervermittlung AirBnB vermittelt pro Monat eine Million Übernachtungen. Mehr als 200 Universitäten bieten Ihre Lehrveranstaltungen inzwischen online an. Sie teilen ihre besten Lehrer mit der ganzen Welt. Mehr als 1.000 Kurse sind inzwischen verfügbar und mehr als 10 Millionen Studenten haben diese Kurse besucht. Und das sind nur die Anfänge. In der „Ökonomie des Teilens“ werden viele Produkte umgewandelt in Dienstleistungen. Per App werden Dienste wie Uber, öffentlicher Nahverkehr, Flugzeuge etc. kombiniert. Der Nutzer gibt ein, wo er hin will, und die App stellt die Transportmittel zusammen und zur Verfügung. Autokonzerne müssen Mobilität komplett neu denken – und das ist nur ein Beispiel von vielen. Fakt ist, dass wir es bei der „Ökonomie des Teilens“ mit radikalen Effizienzgewinnen zu tun haben. Autos sind zum Fahren da, aber sie stehen 92 Prozent ihrer Lebenszeit. Wohnraum ist teuer, aber viele Menschen pendeln zwischen zwei Wohnungen. Eine steht also immer wieder einmal leer. Solche Ineffizienzen werden ausgeräumt, indem Angebot und Nachfrage optimal aufeinander abgestimmt werden. So radikal die Veränderungen sind, die auf uns zukommen: Deutschland hat eine gute Ausgangsposition. Wir haben die Chance, in der zweiten Halbzeit der Digitalisierung das Spiel zu drehen. Dafür braucht es unternehmerischen Mut. Es braucht aber auch Unterstützung aus Politik und Gesellschaft. Vier Punkte sind dabei besonders wichtig:
1. ein Rechtsrahmen für den Umgang mit Daten. Wir brauchen eine europäische Datenschutzgrundverordnung, die unserem kulturellen Verständnis von Datenschutz und Datensicherheit entspricht. Die Verordnung muss für alle Anbieter gelten, die in Europa tätig sind. Das ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung unserer digitalen Souveränität.
2. die Zulassung von Qualitätsklassen im Internet. Die Anwenderindustrie fragt verstärkt nach solchen Qualitätsklassen z.B. mit noch besserer Datensicherheit. Was in der öffentlichen Debatte oft als „Netzneutralität“ verkauft wird, hat mit dem, was für die Industrie 4.0 und damit unserer Wettbewerbsfähigkeit wichtig ist, nichts zu tun. Eine zu enge Auslegung der Netzneutralität verhindert Innovationen und wäre in der zweiten Halbzeit der Digitalisierung ein klares Eigentor.
3. ein „Level-Playing-Field“ mit den Internet-Anbietern, also gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle. Dazu zählt übrigens auch die Schaffung eines einheitlichen digitalen Binnenmarktes in Europa, der Größe zulässt und die wettbewerbsrelevanten Skalierungseffekte ermöglicht.
4. Bildung. Die digitalisierte Welt erfordert Entscheidungskompetenz und damit verbunden ein technologisches Grundverständnis. Bei der Förderung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer geht es nicht nur um einen eventuellen Fachkräftemangel, sondern um die Persönlichkeitsentwicklung in einer technologisierten Welt. Eine Persönlichkeitsentwicklung hin zur Innovationsoffenheit und Unternehmertum. Viele Entscheidungen zur Digitalisierung scheitern allzu oft an einem kulturellen Klima des Technologieskeptizismus, der bisweilen an die Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts erinnert.
Sicherlich kann vieles an den neuen ökonomischen Paradigmen kritisiert werden, etwa der Umgang mit Daten. Darum ist wichtig, dass wir über den richtigen Weg diskutieren. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das muss auch für die digitale Würde des Menschen gelten. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir nicht Chancen verpassen, bei denen andere selbstverständlich zugreifen werden.