Titelthema
Falsche Wertedebatten
Wer nichts von China weiß, weiß zumindest, dass es dort Menschenrechtsverletzungen gibt. Und das allein reicht aus, um die verbale Keule auszupacken.
Ein Gespenst geht um in Deutschland: Das Gespenst der Abhängigkeit von China. Nach Jahren der Euphorie über den Erfolg deutscher Unternehmen, die Höhe deutscher Direktinvestitionen und die glänzenden Umsatzaussichten prägen jetzt vermehrt Postulate der Entflechtung und politische Bedingungen für wirtschaftliches Handeln die Diskussion. Der Schock über eine gescheiterte Russlandpolitik sitzt tief und lässt für viele Gleiches oder noch Schlimmeres auch im Falle Chinas erwarten. In der deutschen Politik werden derzeit Kompetenz und Sachlichkeit durch Alarmismus ersetzt. Hektik und Hysterie prägen folglich die derzeitige China-Debatte. Aber diese verkennt eine simple Tatsache: Abhängigkeiten sind von jeher Grundlage unseres Wohlstands. Wie also mit ihnen umgehen, ohne Wohlstand zu gefährden?
Ganz Deutschland, so scheint es, wartet seit geraumer Zeit gespannt auf die Veröffentlichung einer China-Strategie, die unter Federführung des Auswärtigen Amtes bis zum Frühjahr 2023 veröffentlicht werden sollte. Nun ist allerdings bereits eine erste Version durchgestochen worden – und sie enthält wenig Überraschendes.
Hafen-Deal: keine kritische Infrastruktur
Das Papier, das jetzt zwischen den Ministerien koordiniert werden soll, wird die „systemische Rivalität“ betonen, China als Autokratie auf dem Weg zu einer Ein-Mann-Diktatur beschreiben und die gesamte Palette sattsam bekannter Kritikpunkte wiederholen: Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Tibet, die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong, die Aggression gegen Taiwan und fragwürdige Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer – all diese Kritikpunkte werden als Grundlage dienen, um im Systemwettbewerb mit China für mehr Unabhängigkeit und Diversifizierung in den Wirtschaftsbeziehungen zu werben. Letzteres ist zwar prinzipiell richtig, aber die politische Motivation hinter entsprechenden Forderungen muss kritisch befragt werden.
China zu kritisieren, scheint ein unausweichlicher Trend unserer Zeit. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Für eine kritische Haltung zu China gibt es viele, notwendige und komplizierte Gründe, die eine erfolgreiche China-Politik alles andere als leicht machen. Aber ein Blick in unsere Medienlandschaft zeigt ein anderes Bild: Wer China kritisiert, kann sich des öffentlichen Beifalls und des Zuspruchs von Medien gewiss sein.
Die jüngste Kontroverse um die Beteiligung des chinesischen Unternehmens Cosco am Hamburger Hafen bietet ein perfektes Beispiel für moralisierende Außenpolitik: Kritiker beschworen den Verlust kritischer Infrastruktur und eine drohende Unterwanderung deutscher Sicherheitsinteressen durch ein chinesisches Staatsunternehmen.
In Wirklichkeit ging es nie um einen „Ausverkauf des Hamburger Hafens“, sondern um eine Minderheitsbeteiligung an der Betreibergesellschaft an dem kleinsten der vier Terminals des Hafens. Und es ging um eine Abwägungsentscheidung zwischen dieser Beteiligung, einschließlich ihrer (nicht wirklich existenten) Bedrohung kritischer Infrastruktur, und dem drohenden Umsatz- und Bedeutungsverlust des Hamburger Hafens im Wettbewerb mit Rotterdam und Antwerpen. In der öffentlichen Debatte schien jede Behauptung recht zu sein: Reziprozität fehle, so argumentierte etwa die deutsche Außenministerin, schließlich erlaube ja auch China europäischen Unternehmen keine Beteiligung an seinen Häfen. Ein scheinbar gewichtiges Argument – leider falsch. Im Jahresbericht der Reederei Maersk kann man nachlesen, an wie viel chinesischen Häfen das dänische Unternehmen beteiligt ist.
Die Kluft zwischen Politik und Wirtschaft wird nicht nur am Beispiel des Hamburger Hafens offensichtlich. Denn auch Unternehmen werden in Zukunft dorthin gehen, wo die Märkte sind. Und das werden – ob es uns gefällt oder nicht – vor allem asiatische Märkte sein. Und allen ideologischen Unkenrufen zum Trotz, bleibt der chinesische Markt einer der größten der Welt.
Wie viel Wohlstand wollen wir aufgeben?
Wer nichts von China weiß, weiß zumindest, dass es dort Menschenrechtsverletzungen gibt. Und das allein reicht aus, um die verbale Keule gegen alle auszupacken, die sich für einen dialogbasierten Umgang mit China einsetzen. Die jüngste Reise des Bundeskanzlers hat diese Form ideologischer Verblendung mal wieder zur Höchstform auflaufen lassen. Was musste sich der Kanzler im Vorfeld nicht alles anhören! Es sei der denkbar schlechteste Zeitpunkt für eine Reise, unmittelbar nach dem 20. Parteitag und der machtpolitischen Durchsetzung Xi Jinpings, wurde von seinen Kritikern argumentiert. Scholz dürfe Xi nicht unnötig aufwerten. Das Gespenst der Abhängigkeit wurde einmal mehr beschworen, weil man sich nicht die intellektuelle und politische Mühe machen will, zu differenzieren zwischen dem Russland Putins und dem China Xi Jinpings. Menschenrechte müssten angesprochen, Beziehungen zur Not ohne Rücksicht auf Verluste, Arbeitsplätze und Wohlstand hierzulande abgebrochen werden, nur um der moralisierenden Selbstbeweihräucherung einiger Scheinexperten zu dienen. Und schon gar nicht dürfe der Besuch zu einem reinen Business-Trip degenerieren.
Wertegeleitete Außenpolitik?
Hinter solcher Kritik steht eine Grundsatzfrage: Wie halten wir es mit Autokratien, die durch technologischen Fortschritt ihre Kontrollmöglichkeiten ständig verbessern? Wir werden einsehen müssen, dass wir niemandem unsere Werte aufschwatzen oder gar aufzwingen können. Eine „wertegeleitete Außenpolitik“, die sich selbst ernst nehmen würde, ist deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Wie verlogen diese Debatte zuweilen ist, konnte man an der jüngsten Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft ablesen: Raus aus China, weil China ein systemischer Rivale ist? Aber wohin? In die ASEAN-Staaten, also in andere Nicht demo kra tien? Vietnam wird gern genannt, ein kommunistisches System. Und wie wäre es mit der Militärdiktatur in Myanmar? Die Suche nach demokratischen Wirtschaftspartnern fällt bestürzend mager aus. Selbst bei oberflächlicher Betrachtung erkennt man, dass „wertegeleitete Außenpolitik“ schon im Ansatz scheitern muss. Wer sie propagiert, demonstrier im Grunde außenpolitische Inkompetenz und den Unwillen, sich mit den rauen Realitäten der internationalen Politik konstruktiv auseinanderzusetzen.
Dieses Scheitern an offensichtlichen doppelten Standards könnte man sich eigentlich ersparen. Der jüngste Besuch des Kanzlers in China hat es noch einmal deutlich gezeigt: Offene Dialoge, klare und überzeugend vorgetragene Interessen und notwendige Kritik ohne erhobenen Zeigefinger erlauben eine Außenpolitik, die Realitäten anerkennt, ohne sich zwangsläufig in sie zu fügen. Kompetenz und die Vermeidung doppelter Standards würden der deutschen Außenpolitik außerordentlich guttun.
Wer Abhängigkeiten am besten heute als morgen beseitigen möchte, kann das gern versuchen. Aber man muss dann auch den Mut haben, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Und die lautet: Wer Abhängigkeiten beseitigt, beseitigt auch die wesentlichen Grundlagen unseres Wohlstands. Gerade wir Deutschen – und das haben wir mit China gemeinsam – haben von der Globalisierung der letzten Jahrzehnte mit am meisten profitiert. „Decoupling“ mag niemand ernsthaft wollen, aber die erkennbaren Trends der Deglobalisierung drohen das Wirtschaftsmodell Deutschlands zu zerstören.