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Finanzen-Spezial

Keine Angst vorm Börsencrash

Finanzen-Spezial  - Keine Angst vorm Börsencrash
Schwarzer Freitag 1929: Eine aufgeregte Menschenmenge an der Wall Street vor der New Yorker Börse. Der Tag gilt als Ausgangspunkt der Großen Depression. © Ullstein Bild, Reuters/Kai Pfaffenbach

Der optimistische Anleger träumt vom ewigen Boom an den Kapitalmärkten. Der Pessimist sieht den nächsten Börsencrash heraufziehen. Beide haben recht.

Matthias von Arnim01.10.2021

Das Geschehen am Kapitalmarkt erscheint zuweilen paradox. Warum zum Beispiel steigen seit Mitte März 2020 die Aktienkurse fast wie an der Schnur gezogen, obwohl der Welthandel damals eingebrochen ist? Warum notierten die Indizes zuletzt weltweit auf Höchstständen, obwohl die Wirtschaft mit massiven Problemen zu kämpfen hat, die während der weltweiten Corona-Lockdowns entstanden sind? Warum ist der Goldpreis seit August 2020 nach und nach gefallen, obwohl seitdem so viel Geld gedruckt wurde wie noch nie zuvor in der Geschichte? Und warum nehmen Investoren immer noch negative Zinsen bei Staatsanleihen in Kauf? Die Reihe ließe sich nahezu endlos fortsetzen – bis zu den entscheidenden Fragen, die sich immer mehr Investoren stellen: Wie lange geht das noch so weiter? Was muss ich jetzt tun? Ist es schon zu spät zum Einstieg? Oder droht jetzt sogar der nächste Crash? Soll ich alles verkaufen?

Die schlechte Nachricht zuerst: Der nächste Crash kommt garantiert. Um dies vorauszusagen, muss man kein Prophet sein. Es liegt einfach in der Natur der Börse. Hier werden nicht aktuelle Werte, sondern Hoffnungen und Ängste gehandelt. Emotionen sind leider nicht stabil. Und so wiederholt sich ein Kreislauf immer wieder: Die Hoffnung treibt die Kurse auf Höchststände. Irgendwann kippt die Stimmung. Aus „himmelhoch jauchzend“ wird schnell „zu Tode betrübt“. Dass Ängste bei uns Menschen einen stärkeren Handlungsdruck auslösen als Euphorie, lässt sich dann gut beobachten: Crash-Phasen beschleunigen schnell, während Hausse-Phasen länger andauern und auch immer wieder kurzzeitig unterbrochen werden.

Kommen wir damit zur guten Nachricht: Kurzfristig kommt es zwar immer wieder zu Kurseinbrüchen. Langfristig betrachtet, herrscht an den Aktienmärkten jedoch eigentlich immer Hausse. Die Börsencrashs, die uns in den Momenten starker Kursrückgänge so brutal kapitalvernichtend vorkommen, sind erfahrungsgemäß nur Stolpersteine auf dem Weg zum nächsten Gipfel. Dies wird in der Rückbetrachtung umso deutlicher, je größer man die Zeiträume historischer Kurs-Charts von Indizes wie MSCI World, DAX oder S&P 500 zieht. Unter dem Strich bringen Aktieninvestments rund acht Prozent Rendite jährlich. Keine andere Anlageklasse kann da mithalten.

Erstaunlich ist, dass insbesondere in Deutschland trotzdem viele Anleger Aktien für zu riskant halten, um darin zu investieren. Immer noch gelten hierzulande Kapitallebensversicherungen und Sparbücher als verlässlichere Anlagen. Diese Annahme beruht auf einem Denkfehler: Leider wird der Begriff „hohe Sicherheit“ oft mit „niedriger Volatilität“ gleichgesetzt, also der durchschnittlichen Schwankungsbreite des Kurses einer Wertanlage. Die langfristige Rendite, also das, was am Ende herauskommt, wird bei der Risikobewertung von Anlageklassen oft vergessen. Richtig ist: Staatsanleihen zum Beispiel weisen zwar eine niedrigere Volatilität auf als Aktien, sind aber deutlich riskanter. So erwirtschaften Anleger mit ihnen seit Jahren Negativrenditen, während sich mit Aktien hohe Gewinne erzielen ließen.

Von Erfolg zu Erfolg

Wer erst in den vergangenen 18 Monaten seine ersten Erfahrungen mit der Börse gesammelt hat, konnte ohnehin den Eindruck gewinnen, dass sich Geld an der Börse wie von selbst rasend schnell vermehrt. Der fulminante Börsenboom hat mehrere Gründe: Da ist vor allem die Hoffnung der Anleger, dass die Wirtschaft sich nach dem 2020er Corona-Schock nicht nur wieder erholen, sondern auf einen nachhaltigen Wachstumspfad einschwenken wird. Diese Hoffnung wird nicht zuletzt durch das massive Eingreifen der Notenbanken und Regierungen weltweit gespeist. Niemals zuvor wurde in so kurzer Zeit so viel Geld in den Wirtschaftskreislauf gepumpt wie seit dem Ausbruch der Coronapandemie.

Dieses Geld ist zuallererst am Kapitalmarkt angekommen und treibt die Aktienkurse – auch deshalb, weil es für private Investoren keine rentablen Alternativen gibt. Denn die Notenbanken sorgen mit ihrer Niedrigzinspolitik nicht nur für billiges Geld, sondern sie flankieren diese Maßnahme auch mit dem massiven Aufkauf von Staatsanleihen. So können sich unter anderem die USA, die Länder der Europäischen Union und Japan problemlos Billionen-Konjunkturprogramme auf Pump leisten. Die Staaten verschulden sich bei ihren jeweiligen Notenbanken, die die ausgegebenen Staatsanleihen aufkaufen.

Das ist genau genommen Staatsfinanzierung per Druckerpresse. In vergangenen Jahrzehnten galt das als volkswirtschaftliche Todsünde. Heute ist es weltweite Realität. Aber niemand beschwert sich. Es gab bislang auch keinen Grund dafür. Denn sowohl Investoren als auch Staaten – und damit auch deren Bürger – profitieren davon. Zudem blieb die größte Gefahr eines solchen Vorgehens, der starke Anstieg der Inflation, in den vergangenen Jahren aus. Im Gegenteil: Über Jahre hinweg stiegen die Preise in den USA und Europa nur marginal, zeitweise sank die Inflationsrate sogar unter null. Erst in den vergangenen drei Monaten ist das Inflationsgespenst wieder aufgetaucht. In Europa stiegen die Preise zuletzt um fast drei Prozent, in den USA um rund fünf Prozent.

Nun streiten sich Experten, ob dies nur auf zwischenzeitliche Lieferengpässe bei Rohstoffen zurückzuführen ist oder auf andere Faktoren. Nach gängiger Lehre gewinnt die Inflation zwangsläufig an Fahrt, wenn die Geldmenge deutlich schneller steigt als das Angebot an Waren und Dienstleistungen. Steigen die Preise irgendwann schneller als die Gewinne und Löhne, kann es gefährlich werden. Denn dann startet oft eine sich selbst verstärkende Spirale an Automatismen: Gewerkschaften fordern höhere Löhne, die Stückkosten steigen, die Unternehmen reagieren mit Preiserhöhungen – und so weiter. Diese sich immer schneller drehende Spirale zurückzudrehen, kommt den Notenbanken zu. Sie können die Geldhähne wieder zudrehen, indem sie die Leitzinsen erhöhen, Geld verteuern, die Kreditaufnahme somit reduzieren und damit die Geldmenge wieder zurückführen.

Die Zinsen bleiben niedrig

Für die Aktienmärkte würde solch ein Szenario nichts Gutes bedeuten. Denn mit steigenden Zinsen würden Investitionen in Anleihen für Anleger wieder attraktiver. Es gäbe plötzlich wieder rentable Alternativen zum Aktienmarkt. Es würde weniger Geld in Aktien fließen und die Hausse an Schwung verlieren. Soweit die Theorie. In der Praxis sind wir sowohl von einem neuen Zinserhöhungszyklus als auch von einer Beendigung von Anleiheaufkäufen durch die Notenbanken weit entfernt.

So haben die US-amerikanische Fed und die europäische EZB erst kürzlich deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die Leitzinsen mittel- bis langfristig auf niedrigem Niveau belassen wollen. Sie führen dafür vor allem zwei Gründe an. Zum einen sehen sie die Konjunktur immer noch nicht auf sicheren Füßen stehen. Zu groß ist die Angst vor einem erneuten Aufflammen der Pandemie, neuen Lockdowns und den damit verbundenen konjunkturellen Rückschlägen. Der Wirtschaft ausgerechnet jetzt die Kreditaufnahme zu erschweren, erscheint den Notenbanken als zu großes Risiko. Zum anderen nimmt man eine etwas höhere Inflation derzeit gerne billigend in Kauf. Den Regierungen dies- und jenseits des Atlantiks kann es nur recht sein. Denn wenn die Zinsen niedriger sind als die Inflation, entschulden sich die Staaten quasi durch die Hintertür.

Auch der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Notenbanken wird nicht von heute auf morgen enden. US-Notenbankchef Jerome Powell hat bei seiner letzten Rede in Jackson Hole zwar vage angedeutet, dass die Fed ihr Aufkaufprogramm demnächst drosseln wolle. Er ließ aber bewusst einen Zeitpunkt dafür offen. Das gehört zur Politik der Notenbanken: Die Verantwortlichen wissen, dass sie schon mit Ankündigungen das Marktgeschehen beeinflussen können. Je länger sie mit der Umsetzung warten, desto länger steht ihnen dieses Instrument zur Verfügung.

Diesen Effekt wissen auch die EZB-Banker zu nutzen: Die europäische Notenbank kauft im Rahmen ihres sogenannten Pandemic Emergency Purchasing Programme (PEPP) Staatsanleihen auf, damit die Mitgliedsstaaten der Eurozone ihre eigenen Konjunkturprogramme besser finanzieren können. Das PEPP läuft bis mindestens Mär z 2022 und k ann z war vorher abgebrochen werden, doch davon geht niemand aus. Ein wesentlicher Grund dafür ist die fragile Situation Frankreichs: Unser westlicher Nachbar ist das einzige wichtige Land der Eurozone mit schlechten Wirtschaftszahlen, einem beängstigenden Leistungsbilanzdefizit und einer dramatisch negativen Handelsbilanz. Niemand in der EU, und schon gar nicht die EZB unter Christine Lagarde, hat Interesse an einer Verschlimmerung der Lage dort. Schon für Lagardes Vorgänger galt die Faustregel: Alles, was die EZB tut, muss auch für Frankreich gut sein. Das gilt aktuell im Besonderen. Im April 2022 stehen in Frankreich Präsidentschaftswahlen an.

Teuflischer Mix für Kopfkissensparer

So setzen die Notenbanken weiterhin günstige Rahmenbedingungen für Investitionen. Nun kommt es darauf an, was Staaten, Unternehmen und auch wir aus den Rahmenbedingungen machen. Betreiben Regierungen und Firmenlenker eine kluge Politik und investieren in die Zukunftsfähigkeit und Infrastruktur ihrer Länder beziehungsweise ihrer Unternehmen, dürfen wir uns dreifach freuen: als Staatsbürger, Kunden und als Anleger – vorausgesetzt, wir investieren in Aktien. Niedrige Zinsen sind ein guter Treibstoff für die Wirtschaft und die Börse. Wer dagegen sein Geld auf dem Sparbuch belässt, bezahlt die Zeche. Denn niedrige oder sogar keine Zinsen bei gleichzeitig steigender Inflation sind ein teuflischer Mix für Kopfkissensparer.

Der ultimative Rat für Anleger lautet deshalb: Investiere regelmäßig, am besten mit einem Fonds- oder ETF-Sparplan, in Aktien. Höre damit nicht auf. Auch dann nicht, wenn die Kurse fallen. Und das werden sie zwischenzeitlich. Garantiert. Das ist eine Lehre, die gerade die neuen, unerfahrenen Anleger, die noch keinen Börsencrash erlebt haben, noch machen müssen. Langfristig sind Aktien das beste Investment. Kurzfristig kann sich das ganz anders anfühlen. Dann heißt es: Nerven behalten und weitermachen. Es gibt keinen falschen Zeitpunkt, um mit dem Aktiensparen zu beginnen. Es gibt nur einen falschen Zeitpunkt, um damit aufzuhören.

Matthias von Arnim
Matthias von Arnim ist freier Wirtschaftsjournalist. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Artikel über Aktien, Fonds und derivative Finanzprodukte. Seine Artikel erschienen unter anderem in der Zeit, im Handelsblatt, in der Rheinischen Post und in der Süddeutschen Zeitung.

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