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Angst vor den Landtagswahlen

Forum - Angst vor den Landtagswahlen
Ein Teilnehmer einer AfD-Kundgebung mit provokantem T-Shirt © Sebastian Kahnert/Picture Alliance/DPA

Die Alternative für Deutschland wird geächtet von Politik, Medien und Wissenschaft, aber gewählt von Bürgern – vor allem im Osten

Eckhard Jesse01.08.2024

Das schlug wie ein Blitz ein: Die AfD, für die mehr und mehr Wähler aus Überzeugung votieren, also nicht nur aus Protest, schnitt trotz selbst verschuldeter Affären und Skandale mit 15,9 Prozent bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 überaus gut ab. Es beeindruckt die Wähler zumal in den neuen Bundesländern wenig, die Partei als "gesichert rechtsextrem" oder als "rechtsextremistischen Verdachtsfall" zu apostrophieren. Sie sehen sich selber nicht als rechtsextrem an, wie Umfragen illustrieren.


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Die Union vermochte aus den herben Verlusten der zerstrittenen Ampel-Koalition kaum Nutzen zu ziehen. Die SPD, Bündnis 90/Grüne und die FDP kamen zusammen auf ganze 31 Prozent. Vor allem die Grünen strafte die Wählerschaft ab. Die Linke ist nach der Abspaltung der Gruppe um Sahra Wagenknecht, die gleich 6,2 Prozent erreichte, mit 2,7 Prozent in einem desolaten Zustand. Von Wahl zu Wahl sinkt ihr Stimmenanteil, nun zum 13. Mal.

Unterschiede im Wahlverhalten

Die AfD erhielt im Osten 28,7 Prozent, im Westen 13 Prozent (jeweils ohne Berlin). Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist mit 14,4 Prozent erst recht ostlastig (O: 14,4 Prozent; W: 4,4 Prozent), ebenso Die Linke (O: 5,3 Prozent; W: 2,2 Prozent). Umgekehrt sind Grüne (W: 13,2 Prozent; O: 6,3 Prozent) und FDP "Westparteien" (W: 5,7 Prozent; O: 2,6 Prozent). In abgeschwächter Form gilt das für die CDU (W: 20,4 Prozent, ohne Bayern; O: 20,7 Prozent) und die SPD (W: 15,0 Prozent; O: 9,3 Prozent). Gewiss, es fallen bei den politischen Präferenzen vielfältige Unterschiede auf: zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen, Nord und Süd, der Stadt- und der Landbevölkerung, Protestanten und Katholiken.

Aber am stärksten gespalten ist Deutschland, was das Wahlverhalten betrifft, in Ost und West. Im Osten mangelt es extrem an Vertrauen in die drei im Bund regierenden Parteien. Votierten im früheren Bundesgebiet mehr als 40 Prozent für sie, lag der Anteil in den neuen Bundesländern nicht einmal bei 20 Prozent. Das Zutrauen in die Politik und die Politiker fällt hier mehr als eine Generation nach der deutschen Einheit deutlich geringer aus. Im Osten dominiert klar die AfD – eine Partei, die erst 2013 entstand, keineswegs als "Ostpartei". Dabei schwanden weithin die ökonomischen Disparitäten, und wohl niemand sehnt sich nach der DDR zurück. Das ist die eine Seite. Die andere: Viele Bürger aus den neuen Bundesländern fühlen sich fremd im eigenen Land, als Menschen zweiter Klasse, weniger als Kosmopoliten, und hegen Vorbehalte gegen die politischen Eliten. Wohl nichts verdeutlicht dies so sehr wie die überaus große Resonanz auf das 2023 publizierte Buch Dirk Oschmanns: Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung. Der Leipziger Germanist beklagt die Hegemonie des Westens in der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und in den Medien. Für Ostdeutsche sieht er eine gläserne Decke. Ob dies nun stimmt oder nicht: Die Wahrnehmung fällt so aus. Der Erfolg des Essays im Osten ist ebenso ein schlagkräftiges Beispiel für das dortige Rumoren wie die starke Präferenz für die AfD. Wer unterschwellig "Wählerbeschimpfung" betreibt, muss erst recht mit dem Ausbreiten von Trotz rechnen. Jeder weiß: Eine Stimme für die AfD gilt als ein öffentlich wahrnehmbarer Flurschaden.

Die Rolle der AfD

Die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September werfen nun ihre Schatten voraus. In diesen drei Bundesländern lag die AfD bei den jüngsten Wahlen jeweils an erster Stelle: in Sachsen mit 31,8 Prozent (vor der CDU: 21,8 Prozent), in Thüringen mit 30,7 Prozent (vor der CDU: 23,2 Prozent), in Brandenburg mit 27,5 Prozent (vor der CDU: 18,4 Prozent). Mit Bangen sieht das politische Establishment den Wahlen entgegen: im "schwarzen" Sachsen, im "roten" Brandenburg" und in Thüringen, das lange von der CDU dominiert wurde und das seit 2014 Bodo Ramelow regiert, ein Repräsentant der Partei Die Linke. Allerdings: Bereits 2019 schnitten die Parteien, die den Ministerpräsidenten stellten, bei den Landtagswahlen deutlich besser ab als bei den Europawahlen davor, in Sachsen die CDU unter Michael Kretschmer, in Thüringen Die Linke unter Bodo Ramelow, in Brandenburg die SPD unter Dietmar Woidke. Alle drei konnten ihr Amt fortsetzen. Diesmal ist jedenfalls in Thüringen ein anderer Ministerpräsident zu erwarten, da Die Linke wohl starke Stimmenverluste einfahren wird.

Selbst wenn die AfD im September stärkste Kraft sein sollte, verfügt sie – politisch isoliert – über keine Machtperspektive: Niemand will mit ihr koalieren. Immerhin könnte sie auf eine Sperrminorität von einem Drittel der Mandate kommen und so eine Verfassungsänderung blockieren. Ihre Programmatik steht vielfach in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat. Die Partei, in einer Art Grauzone angesiedelt, gilt für den Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall, wie jüngst das Urteil des Münsteraner Oberverwaltungsgerichts als rechtens erkannt hat. Der neueste Verfassungsschutzbericht für den Bund stuft 11.000 der mehr als 40.000 AfD-Mitglieder als rechtsextremistisch ein. Der Verfassungsschutz schwächt durch seine Interventionen gemäßigte Kräfte, veranlasst gerade diese zum Rückzug. Damit wird wohl das Gegenteil des Angestrebten erreicht. Und: Ist es wirklich die Aufgabe des Verfassungsschutzes, die Bevölkerung "wachzurütteln", wie der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang meint? Er ließ sich im Mai 2024 nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Sachen AfD zu folgenden Sätzen hinreißen: "Die Sonne lacht heute über Köln. Die Sonne lacht über Münster. Die Sonne lacht für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung." Etwas mehr metaphernfreie Distanz täte dem Amt und seinem obersten Repräsentanten gut. Haldenwangs Aussage "Nicht nur der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken" macht die starke Politisierung seiner Institution deutlich. So abwegig der Gedanke sein mag: Bei manchen Ostdeutschen provoziert dies Anklänge an DDR-Verhältnisse.

Erstens führen ökonomische Fährnisse zur Wahl der AfD. Die zeitweilig exorbitant hohe Inflationsquote trug ebenso zu Verdruss bei wie eine Reihe gravierender Ungereimtheiten beim Heizungsgesetz. Offenkundige Schwächen (etwa mangelnde soziale Abfederung) riefen große Ängste hervor. Zweitens spielen kulturelle Faktoren eine gewichtige Rolle. Viele Bürger fühlen sich durch einen Elitenkonsens urbaner Kreise bevormundet. Gegenderte Sprache mitsamt identitärer Ideologie gilt vielfach als "übergriffig". Grassierender Multikulturalismus, oft mit einem abgehobenen Moralismus einhergehend, zielt an der Lebenswirklichkeit bodenständiger Wähler vorbei. Bei der Migrationspolitik sind die Vorbehalte kulturell (Angst vor "Fremden") wie ökonomisch (Angst vor Arbeitsplatzverlust) bedingt. Nichts begünstigt die Präferenzen für die AfD so wie eine weithin unkontrollierte Einwanderung und ein Vollzugsdefizit bei der Abschiebung.

Leidige Verbotsdiskussion

Der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz kämpft schon seit Längerem für ein AfD-Verbot. Dessen jüngste Aussage – "Gerade im Osten bekommt man die Partei auf politischem Weg nicht mehr klein" – ist so illiberal wie hilflos und läuft auf ein Armutszeugnis hinaus. Selbst wer gegen ein Verbot votiert, argumentiert meist rein strategisch, dieses sei kontraproduktiv. Was zudem irritiert: Es wird mehr über die Dezimierung des hohen Stimmenanteils der AfD diskutiert als über Defizite der etablierten Politik. Und sind furchteinflößende Metaphern wie "Brandmauer" und "Dammbruch" für eine offene Gesellschaft angemessen?

Was in der Verbotsdiskussion weithin untergeht: Ein Verbot der AfD ist weder möglich noch nötig. Nicht möglich ist es, solange die Parteiführung an der 2021 veröffentlichten "Erklärung zum deutschen Staatsvolk und der deutschen Identität" festhält. In ihr heißt es, zum deutschen Staatsvolk gehöre jeder mit deutscher Staatsangehörigkeit, unabhängig vom ethnisch-kulturellen Hintergrund. "Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht." Hingegen verstößt die in Teilen der Partei vorhandene Einstellung, deutsche Personen mit Migrationshintergrund abzuwerten, gegen das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Menschenwürde. Nicht nötig ist ein Verbot der AfD, da einer Demokratie politische Auseinandersetzungen nützen. Wenn ein beträchtlicher Teil ihr seine Stimme gibt, so offenbart dies eine Repräsentationslücke. Nicht zuletzt die bereits erwähnte irreguläre Immigration sorgt für Missmut und für Präferenzen bei einer semi-extremistischen Partei, die sich dieser als wichtig angesehenen Thematik populistisch annimmt. Insofern könnte deren Existenz eine Art Korrektiv sein, wenn eine inhaltliche Debatte erfolgt.

Etablierte Kräfte sollten dies tun. Wähler müssen über die Richtung der Politik entscheiden, nicht Sicherheitsbehörden oder Gerichte. Es gehört zur hiesigen politischen Kultur, politische Probleme rechtlich lösen zu wollen. Sachliche Abgrenzung muss nicht auf dämonisierende Ausgrenzung hinauslaufen. Vielleicht würde dies auf Teile der AfD mäßigend wirken. Gegenüber der Partei Die Linke hat eine derartige Strategie funktioniert.

Prekäre Koalitionsbildungen

Angesichts einer starken AfD lautet die Gretchenfrage: Welche Koalition ist arithmetisch und politisch möglich? Was vor Kurzem für unrealistisch galt: Das BSW könnte die Rolle eines Züngleins an der Waage spielen. Sein auf Anhieb gutes Abschneiden bei den Europawahlen erklärt das Bedürfnis vieler Wähler nach einer frischen Kraft. Die Partei, die nach der Wählerwanderung vor allem der SPD geschadet hat, weniger der AfD, dürfte keine "Eintagsfliege" sein. Sie ist "linkskonservativ": links in sozioökonomischen Fragen mit der Forderung nach Ausbau des Sozialstaates, konservativ in soziokulturellen mit der Kritik an der Identitätspolitik. Bei der Migrationspolitik plädiert sie entschieden gegen offene Grenzen. Um Glücksritter, Postenjäger und Sektierer fernzuhalten, nahm die neue Partei bisher nur wenige Mitglieder auf (keine 700). So blieben interne Querelen aus. Und die charismatische Chefin Sahra Wagenknecht hat längst ihren früheren kommunistischen Positionen eine Absage erteilt, verweigert sich nicht mehr einer Koalitionsbildung.

Was paradox anmutet: Die notorische Schwäche der Volksparteien ermöglicht erst recht deren Einbeziehung in die Regierung, weil wegen der Stärke einer nicht als koalitionsfähig geltenden Partei wie der AfD ansonsten keine Regierungsmehrheit zustande käme. Und dieser Sachverhalt provoziert Wählerverdruss. So ist die SPD im Osten in allen Regierungen vertreten, schlägt doch der Abstrafungseffekt durch die Wählerschaft nicht auf die Regierungsebene durch. Mehr Parteien im Parlament führen zu mehr Parteien in der Regierung. Oft müssen dann solche mit höchst unterschiedlichen Programmpunkten zusammenarbeiten. Eine parlamentarische Demokratie lebt von der Unterscheidbarkeit etablierter Parteien, nicht vom Schulterschluss gegen die AfD.

Wie die Wahl zum Europäischen Parlament ein Vorbote für die drei anstehenden Landtagswahlen gewesen ist, so können diese ein Vorbote für die Bundestagswahl 2025 sein. Wer geringschätzig nur von Wahlen in drei kleinen Ländern spricht, spielt deren Relevanz herunter. Allerdings: Wer davon redet, die Demokratie stehe auf dem Spiel und gar menetekelhaft "Weimarer Verhältnisse" an die Wand malt, lässt Urteilskraft missen. Die bundesdeutsche Demokratie ist im 75. Jahr ihrer Existenz stabiler als viele derer meinen, die mit einem AfD-Verbot liebäugeln.

Eckhard Jesse

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.