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Der Wähler kauft die Katze im Sack
Im Vorfeld der Bundestagswahl vermitteln die Parteien keinen guten Eindruck. Und die Bürger wissen nicht, was sie nach der Wahl erwartet, weil Koalitionsaussagen fehlen.
Was für ein Armutszeugnis: „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ – „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“ – „Nie gab es mehr zu tun“ – „Deutschland. Alles ist drin“. So lauten, in dieser Reihenfolge, die inhaltsleer-nichtssagenden und daher beliebig austauschbaren Überschriften der Wahlprogramme der Union, der SPD, der FDP und der Grünen. In gewisser Weise mag dies symptomatisch sein für die Parteien der Mitte und ihren müden (Vor-)Wahlkampf. Da formulieren die Randparteien deutlicher. „Deutschland. Aber normal“, sagt die AfD, die Linke meint: „Zeit zu handeln. Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“. Gleichwohl: Diese beiden Kräfte weisen schlechtere Umfragewerte auf als vor der letzten Bundestagswahl. Sie können von den etablierten Parteien enttäuschte Wähler kaum mobilisieren, sei es wegen ihrer internen Zwistigkeiten, sei es wegen fehlender zündender Ideen, sei es wegen der Corona- und der Klimakrise, die alle anderen Themen überlagern.
Neue Parteien im Bundestag?
Angesichts breiter Enttäuschung könnten zwei weitere Parteien in das Bundesparlament einziehen: die Freien Wähler deshalb, weil ihr Vorsitzender Hubert Aiwanger mit seiner demonstrativ bekundeten Impfskepsis für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt und auf diese Weise der eigenen Partei, deren Wahlprogramm das Motto „Die Kraft der Mitte“ trägt, vielleicht zu einem solchen Achtungserfolg verhilft; der zum ersten Mal seit 1961 wieder antretende Südschleswigsche Wählerverband deshalb, weil er als Partei einer nationalen Minderheit (der Dänen und der Friesen) von der Fünfprozentklausel ausgenommen ist. Käme diese Partei („Deine Stimme für Schleswig-Holstein“) in den Bundestag, wäre es das erste Mal nach 1949.
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Was am Wahlabend feststeht, jedoch nicht vorher: die genaue Zahl an Bundestagsabgeordneten. Das Parlament war nicht zu einer einschneidenden Reform in der Lage, etwa durch eine Reduktion der Zahl der Wahlkreise, obwohl das Problem seit 2013 schwelt. Dies stellt kein Ruhmesblatt dar! Vielleicht hat das nächste Parlament mehr als 800 Abgeordnete (gegenwärtig 709, statt der Regelgröße von 598). Letztlich profitieren zwar alle im Parlament vertretenen Parteien vom Zuwachs, aber offenkundig sehen sie nicht den Schaden für die hiesige politische Kultur.
Bei dieser Wahl ist alles anders
Wegen der nachlassenden Parteiidentifikation und der damit verbundenen größeren Wechselbereitschaft nimmt die Wichtigkeit der Spitzenkandidaten zu. Die Union rückt naturgemäß den bisher blass wirkenden Armin Laschet, der die Nachfolge Angela Merkels antreten will und soll, in den Vordergrund, ohne den im internen Machtkampf knapp unterlegenen Markus Söder ganz zu übergehen. Hingegen stellt die SPD allein auf Finanzminister Olaf Scholz ab. Dieser überzeugt mehr durch Kompetenz als durch Charisma („Scholzomat“). Spielen die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans angesichts ihrer Unpopularität im Wahlkampf keinerlei Rolle, präsentieren die Grünen neben ihrer Spitzenkandidatin Annalena Baerbock überaus öffentlichkeitswirksam auch ihren „ersten Mann“ Robert Habeck, der nach Ansicht vieler besser auf den Schild gehoben worden wäre. Bei der FDP steht Christian Lindner allein auf weiter Flur – und zwar schon seit 2013, als die Liberalen unter seinem Vorgänger Philipp Rösler erstmals die Fünfprozenthürde nicht überwinden konnten. Lindner möchte zum Finanzminister avancieren, obwohl ihm seine Rolle als „Königsmacher“ vielleicht gar nicht zufällt. Die Linke und die AfD erfüllen mit zwei Spitzenkandidaten die doppelte Parität – nach Herkunft und Geschlecht: auf der einen Seite der gemäßigte ostdeutsche Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch und die radikale westdeutsche Parteivorsitzende Janine Wissler, auf der anderen Seite der ostdeutsche Parteivorsitzende Tino Chrupalla und die westdeutsche Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Beide begreifen sich als Gegner des anderen – eher pragmatischen – Vorsitzenden Jörg Meuthen, der bei der AfD „Bundessprecher“ heißt. Auch bei der Partei Die Linke tobt ein Streit, und zwar zwischen „Soziallinken“, die Sahra Wagenknecht repräsentiert, und „Kulturlinken“. Im Gegensatz zu Baerbock und Laschet schreibt Wagenknecht ihre Bücher selbst, mit denen sie intern aneckt.
Bei der Wahl 2021 ist – fast – alles anders. Zum ersten Mal tritt die Person, die bisher das Kanzleramt wahrnahm und gemäß Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmte, nicht mehr an. Somit fehlt der Union der Kanzlerbonus. Und zum ersten Mal findet die Wahl während einer Pandemie statt. Reduziert sich die Zahl der Präsenzveranstaltungen, schnellt die jener im Netz in die Höhe. Und die Quote der Briefwähler bei einer Bundestagswahl (1957: 4,9 Prozent; 2017: 28,6 Prozent) wird noch nie so groß gewesen sein wie diesmal. Was niemand beantworten kann: Wie beeinflusst die Pandemie den Wahlausgang?
Wünschenswert ist ein Wahlkampf, der Stickigkeit ebenso vermeidet wie das Diffamieren. Streit muss sein, aber nicht auf Nebenkriegsschauplätzen und nicht in Form von „negative campaigning“. Wer Konfliktbereitschaft bejaht, befürwortet eine in der Sache harte Kontroverse über zentrale Felder der Politik – Bildung, Digitalisierung, Familie, Finanzen, Gesundheit, Klimaschutz, Migration, Sicherheit. Eine solche Streitkultur fehlt weithin. Die Preisgabe bisheriger Unionspositionen oder, je nach Perspektive, die Übernahme von Positionen der Konkurrenz, hat auf der einen Seite die SPD geschwächt und auf der anderen das Aufkommen der AfD begünstigt. Müsste die Union nicht Interesse daran haben, ihren Kurs in der Nach-Merkel-Ära zu verdeutlichen? Dabei hält sie sich allerdings zurück. Ein bloßes Weiter-so mit einem vagen Plädoyer für Modernisierung überzeugt nicht!
Alle Welt blickt mit größtem Interesse auf die Umfragen der demoskopischen Institute, die Trends kundtun, kurzatmiges Auf und Ab. Das zeigt freilich nur die eine Seite. Die andere: Erst nach der Wahl wird in Sondierungsgesprächen über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entschieden. Früher stand in einem Drei- oder Vierparteiensystem, das klar abgrenzbare Parteilager aufwies, mit dem Wahlergebnis fest, wer regiert und wer opponiert. Heute kommen verschiedene arithmetisch und politisch mögliche Koalitionsvarianten infrage: Schwarz-Grün, Schwarz-Grün-Gelb, Schwarz-Rot-Grün, Grün-Rot-Gelb, Grün-Rot-Dunkelrot. Selbst ein Bündnis ohne die Grünen, eine schwarz-rot-gelbe Koalition, ist nicht ganz aus der Welt. Aber Sachsen-Anhalt dürfte keine Blaupause für den Bund sein, will die Union doch die Grünen in die Regierung einbinden, und die SPD wird den Teufel tun, ihr Plazet einem solchen Bündnis zu erteilen. Die Bildung von Koalitionen hängt von verschiedenen Faktoren ab (zum Beispiel dem Ausmaß der inhaltlichen Schnittmenge, der habituellen Nähe der Partner, der Verträglichkeit der Spitzenkandidaten, den bisherigen Erfahrungen).
Wer mit wem? Man weiß es nicht
Ist „der“ Wähler der Grünen verunsichert, weil er nicht weiß, ob die Partei ein Bündnis mit der CDU und der FDP anstrebt, ein solches mit der SPD und der FDP oder eines mit der SPD und der Partei Die Linke, so gilt Gleiches für das Elektorat der Liberalen: Zielen diese auf eine Koalition mit der CDU und den Grünen oder auf eine mit der SPD und den Grünen? Wähler haben ein Recht darauf, vor der Wahl das Koalitionsvotum der Parteien zu erfahren.
Über Bündniskonstellationen sprechen diese höchst ungern, weil sie sich vorab nicht binden wollen. Wähler müssten die Parteien durch Hartnäckigkeit auf eine Koalitionsoption „festnageln“, die Existenz einer arithmetischen Mehrheit vorausgesetzt. Eine weitere Möglichkeit sind Minderheitsregierungen. Schließlich ließe sich ein Wahlsystemwechsel erwägen: Das stärkste Parteilager erhält nach der Wahl eine Mehrheitsprämie, wie das in Italien vor einigen Jahren der Fall war. Konkurrenzdemokratische Mechanismen würden auf diese Weise gestärkt.
In der Praxis sind solche Varianten momentan nicht umsetzbar. Daher kann am Wahlabend, und dieser Sachverhalt muss Kritik hervorrufen, die neue Bundesregierung noch gar nicht feststehen. Denn eine Wahl soll gemäß dem Legitimitätsprinzip darüber entscheiden, wer regiert und wer opponiert. Die Stimme der Wähler ist ansonsten entwertet. Derzeit müssen sie die Katze im Sack kaufen.
Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.
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